Wer drin ist, ist drin

‘Nostalgische Utopien unter der Glitzerkugel:


Über das Prinzip Disco und die Pet Shop Boys




Nachts, wenn sich das Ding über den Köpfen dreht, wenn sich der schöne Schein im Glanz der Spiegelkugel bricht,

und wenn das letzte Licht in Pünktchen seine Kreise zieht, dann kann das Leben eine Freude sein. Der Tag kennt keine

Utopien mehr. Die Nacht ist nicht allein zum Träumen da. Es besteht noch Hoffnung, man muss nur Pop verstanden haben.

Als schmeichelhaften Spiegel für sich selbst. Des Nachts schaut dann ein Star heraus und macht sich etwas vor.

Vor 20 Jahren lief man in die Diskothek. Jetzt sagt man ‘Disco’, wenn es um die Art und Weise geht, mit Pop sein

Dasein zu verschönern.



Wer Disco sagt, denkt an die Pet Shop Boys. Zwei Londoner Dandys; ein Architekt, der die Musik entwirft, ein

Journalist, der dafür Texte schreibt. 1985 war ihr ‘West End Girls’ die erste Nummer eins. Das war die Zeit, als

‘Lost in Music’ von den Sister Sledge ein Remix widerfuhr, der auch mit schuld sein sollte an der zweiten großen

Disco-Welle. Die Pet Shop Boys haben selbst Platten und Stücke gemacht, die ‘Disco’ oder ‘Discoteca’ hießen,

‘Discovery’ und ‘Saturday Night Forever’. In dieser Woche kommt ihr neues Album in die Läden. ‘Die Platte heißt

,Nightlife’, weil die Songs reflektieren, wie anders die Menschen bei Nacht sind’, sagt Sänger Neil Tennant.



Es sind so seltsame Menschen darin unterwegs wie dieser Vater nachts im Sex- und Drogenrausch. Und niemand verachtet

ihn so tief wie die erwachsene Tochter mit der Stimme von Kylie Minogue. Disco ist und bleibt eine nostalgische

Utopie. Die Menschen verlieren die Übersicht, und ihre Sehnsucht nimmt zu: Disco ist auch der vergebliche Versuch,

den Ballsaal zu renovieren und Schlager und Motown und Swing mit Beats und Bässen zu retten. Stile sind Klischees,

die in der Disco zu Bausteinen verschliffen werden. Die Pet Shop Boys spielen für ‘Nightlife’ mit Streichern und

Village-People-Chören. Und mit dem synthetischen Klatschen feuchter Hände.



In ‘Strange Boy’ klagen Chris Lowe und Neil Tennant über die Unmöglichkeit, sich in der Disco zu verlieben. In

‘Happiness Is An Option’ ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Solange man vom Glück nicht mehr verlangt als

das ästhetische Wohlbefinden, das ein Leben in Widersprüchen möglich macht. Es geht um Ernst und Ironie, um Rückschau

und Aufbruch. Um die Oberflächen und um das, was darunter verborgen sein könnte. Der Rock ‘n’ Roll hat die

Pet Shop Boys für Zyniker gehalten. Weil ihre Kunst den Rock ‘n’ Roll zum Irrtum zu erklären schien: Nichts ist

authentisch, und schwitzende Gitarristen sind nicht echter als zwei Musiker mit Computern, mit gelben Perücken und

Jacken in Silberglanz. Disco ist die ehrlichere und ansehnlichere Form der Dekadenz.



Vielleicht ist auch die Schimäre der Political Correctness schuld am Disco-Kult der späten Neunziger. Am 21. Oktober

kommt noch ein Film aus Hollywood in deutsche Kinos. In ‘The Last Days of Disco’ erzählt der Regisseur Whit Stillman

von 1979 und den Kindern von der Upper East Side in New York. Eine Gruppe junger Schnösel wird erwachsen und sagt:

‘Die Woodstockgeneration konnte nicht tanzen.’>




‘Die neue Platte heißt ,Nightlife’,


weil die Songs reflektieren, wie anders


die Menschen bei Nacht sind’, sagt


Neil Tennant, Sänger der Pet Shop Boys
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Die Diskothek ist die groteske Kulisse eines Kammerspiels, und die Insassen müssen mit Worten erklären, was sie jeden

Abend aus den Betten treibt. Es sei eine Bewegung, sagt einer, eine neue Ära. ‘In der Musik und der Sozialstruktur.’

Im Hintergrund werden die Mythen des ‘Studio 54’ schraffiert. Ein koksender Geschäftsführer. Schwule mit Ledermützen.

Ein Yuppie ist zum Staatsanwalt geworden und spricht den Menschen Mut zu mit einem flammenden Plädoyer: ‘Disco wird

immer leben. Eines Tages wird Disco wieder kommen.’ Danach tanzen noch die Fahrgäste in der U-Bahn.



Vermutlich wären Stillmans Helden schon am roten Samtseil gescheitert. ‘Painting a Picture’ hieß die künstliche

Auslese am Einlass, und auch der Film scheint zu ahnen, dass dieses Bild mehr vorsah als den passenden Mantel zum

richtigen Hemd. Auf Schönheit kam es an, auf Stil und auf Geschmack. Was schwerer zu beweisen war als Reichtum,

Status oder Bildung. In subjektiver Selektion entanden die Eliten für die Nacht – und die ideologischen Raster einer

rechten und linken Popkultur. Elitär oder egalitär. Disco schloss die Masse aus und verschwand in der Hysterie des

‘Saturday Night Fever’. Rock ‘n’ Roll ging in die Stadien und konservierte sich für alle Ewigkeit.



Auch der Disco-Film ’54’ musste deshalb an sich selbst verkümmern. Beim Versuch, über die Exzesse im ‘Studio 54’ einen

Kinohit für ganz Amerika zu drehen, war ein verklemmter Film entstanden, in dem das Außergewöhnliche nur zu erahnen

blieb. Whit Stillman schneidet für ‘The Last Days of Disco’ Fernsehbilder vom Juli 1979 in den Film: Damals in Chicago

ließ der Radio-DJ Steve Dahl eine Wagenladung Disco-Platten verbrennen und löste einen Aufstand aus. Das erklärt nicht

viel. Auch Stillman kann sich nicht entscheiden, ob er Disco nun verdammen oder feiern soll. Doch Disco braucht das.

Entweder-Oder. Ablehnung oder Affirmation. Entweder man ist drin, oder man friert draußen vor dem roten Seil.



‘Disco-Szenen in Filmen sind die Inszenierungen von Inszenierungen, in denen Inszenierte sich beim Inszenieren

inszenieren.’ Den Satz hat der Kölner DJ Hans Nieswandt geprägt, von dem der Disco-Hit des Sommers 96 stammt.

‘From: Disco To: Disco.’



Er hätte das im schwärmerischen Sinn auch schreiben können über Shows und Video-Clips der Pet Shop Boys. Ein Film muss

erzählen. Doch Disco spielt mit Zeichen. Disco ist Theater mit überspannten Gesten, die nichts darstellen als ihre

eigene Übertreibung. Die Pet Shop Boys vertonen keine Geschichten. Sie machen aus Gefühlen Musik und distanzieren

sich davon in der Glätte ihrer Sounds und der aristokratisch abgeklärten Stimme ihres Sängers. ‘I Don’t Know What

You Want But I Can’t Give It Anymore’ und ‘You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk’. Die Titel sagen nichts

und alles wie die Bilder ihrer Clips und die inszenierten Brüche ihrer Bühnenschau. ‘Tanzmusik für Leute, die es

hassen zu tanzen’, hat der ‘Rolling Stone’ einmal erkannt.



Als Ort ist die Disco verschwunden. Auch wenn die großen Städte voller Hallen sind mit DJ-Pult und Spiegelkugel. Nur

die Idee ist geblieben, und keiner hat sie schöner bewahrt und besser in die Zeit gerettet als die Pet Shop Boys.

Jetzt sind sie als künstliche Menschen zu sehen mit Samuraigewändern und mit Bluthunden an der Leine. Das bedeutet

nichts und könnte alles heißen, und es sieht sehr schön aus.



In manchen Nächten kann ‘Nightlife’ auch das Leben retten. Hier ist Disco wieder die vergebliche und wunderschöne

Utopie, auch wenn man jetzt allein mit ihr im dunklen Zimmer sitzt. Und alle dürfen rein.

Taken from: Die Welt
Interviewer: Michael Pilz