Was ist Pop, Neil Tennant und Chris Lowe?

Die Pet Shop Boys Neil Tennant (47)


und Chris Lowe (42) wurden mit synthetischen


Welthits zum erfolgreichsten Pop-Duo der


Musikgeschichte. Ihre von Melancholie getragenen


Beschreibungen der Rituale des Glamourösen haben


Tennant und Lowe zu glaubwürdigen Chronisten der


Großstadt werden lassen. Ihr neues Album ‘Release’


ist vor kurzem erschienen.




Herr Tennant, Herr Lowe, vor kurzem sagten Sie, die Popmusik sei ‘von der Unterhaltungsindustrie gekidnapped’ worden.

Was heißt das?



Chris Lowe: Hihi.


Neil Tennant: Wir haben es hier mit dem klassischen Fall der Flugzeugentführung zu tun. An Bord: der Pop. Der Entführer:

die Unterhaltungsindustrie. So geschmacklos das Bild auch sein mag, letztlich hält es nur den Geschmacklosigkeiten unserer

Zeit den Spiegel vor.



Mögen Sie keine Popmusik mehr hören?


Tennant: Haben Sie das letzte Video von Princess Superstar gesehen? Un-Vor-Stell-Bar! Es zeigt eine Babysitterin, die sehr,

sehr böse zu dem Baby ist, auf das sie eigentlich aufpassen sollte. Sie nimmt Valium, sie masturbiert, sie vögelt ihren

Freund. Sie ist der weibliche Eminem.


Lowe: Sie ist besser als Eminem.



Also gibt es Künstler, die Ihnen gefallen. Was ist eigentlich Ihr Problem?


Tennant: Uns geht es um die Fernsehsendung ‘Popstars’. In Großbritannien haben wir ‘Pop Idols’, Hear’Say und solche Sachen,

bei Ihnen gibt es No Angels und Bro’Sis. Diese Erscheinungen erwecken den Eindruck, ein Popstar wäre eine Art Cabaretsänger,

der nur fleißig genug üben muss, bis er das Lied ‘Angels’ von Robbie Williams fehlerfrei nachsingen kann.



Und das hat nichts mit Popmusik zu tun?


Tennant: überhaupt nicht. Wenn Sie die Gesellschaft nicht kritisieren können, wenn Sie jung sind, wenn Sie keine Ausdrucksformen

für Ihre Kritik finden, wann werden Sie es dann tun? Später bestimmt nicht. Aber nur davon handelt Popmusik: Menschen finden sich,

grenzen sich durch die Musik von ihrer Elterngeneration ab.



Und heute macht das niemand mehr?


Lowe: Das Sende- und Vermarktungskonzept von ‘Popstars’ und den No Angels lassen nicht zu, dass die Beteiligten ihre Songs

selber schreiben. Nichts daran ist frisch und interessant.


Tennant: Wenn man die Kandidaten mit den interessantesten Ideen nähme und mit den besten Produzenten zusammenbrächte, könnte

es interessant werden. Stattdessen werden Leute trainiert, die Coverversionen von kitschigen Balladen absingen. 1963 sind die

Beatles aufgekreuzt und haben uns von diesem Zustand erlöst. 1963! Plötzlich sind wir wieder soweit.



Wie würden Sie den heutigen Zustand geschichtlich einordnen?


Tennant: Fünfziger Jahre. Vor Elvis. Es ist, als sei Popmusik noch nicht erfunden.


Lowe: Dabei gibt es einen Platz für die Popstars-Musiker.


Tennant: Kreuzfahrtschiffe.


Lowe: Alte Damen unterhalten, auf ihrer letzten Reise. Das ist, was die No Angels tun sollten: endlich aus meinem

Bewusstsein verschwinden!


Tennant: Sie sehen, wir sind voller Hass.


Lowe: Ich hasse diese Hear’Say-Menschen wirklich. Und doch wünsche ich ihnen das Beste, auf Kreuzfahrten verdient man viel

Geld. Man darf nur keinen Kunstverstand mitbringen.


Tennant: Ein Star zu sein ist etwas Besonderes und etwas ganz Schwieriges auch. Eminem ist ein Star, er ist einzigartig.

Er schockiert die Menschen. Er erschüttert sie in ihren Grundfesten.


Lowe: Als Fernsehsendung finde ich Popstars allerdings sehr unterhaltsam.


Tennant: Ein Hunderennen!


Lowe: Das Spannendste, was ich je gesehen habe – bis auf das Ende. Am Ende steht eine so genannte Band, die ein großes

Stück Scheiße ist.


Tennant: Es geht hier doch in erster Linie um die Obsession, die Ruhm bei Menschen auslöst. Kürzlich traf ich Geri Halliwell.

Ich sagte zu ihr: Geri, du solltest langsam aus irgendeinem Grund berühmt sein. Man ist immer für irgendetwas berühmt. Ruhm

bekommt man nicht einfach so.


Lowe: Ich bin berühmt! Einfach so. Hihi.


Tennant: Der Astronaut Edwin Aldrin: berühmt. Er war der erste Mann auf dem Mond. Die Beatles: berühmt. Sie haben das

Sergeant-Pepper-Album aufgenommen. Aber Geri Halliwell? Dieses ganze Zeug suggeriert, man könne einfach so berühmt werden.

Das wird ein böses Ende nehmen.



Wie sollte ich mich dabei verhalten?


Tennant: Sie dürfen nie die Erinnerung daran verlieren, was Pop den Menschen bedeuten kann. Dass Musik etwas auslösen kann.

Die Menschen haben anders gelebt, nachdem sie Elvis gehört hatten. Sie haben aufgehört, die ganze Zeit zu arbeiten. Sie haben

sich für schnelle Frauen und schöne Autos interessiert, sie sind einen neuen Weg gegangen.


Lowe: In den Sechzigern hatte der Begriff Pop Art die Bedeutung: erfinde deine eigene Welt.



Wie sieht es eigentlich mit Ihrem eigenen Werk aus? Konnten Sie die Verbesserung der Welt beschleunigen?


Lowe: Hihi.


Tennant: Na, hören Sie mal! Ich saß nachts auf den Kirchenstufen meiner Kleinstadt, arm, allein und betrunken. Dann stand

auf einmal ein Radio in meinem Kinderzimmer, und die Beatles retteten mein Leben. Nach 18 Jahren Pet Shop Boys tanzen tausend

zwölfjährige Mädchen zu unserer Musik, zu Textzeilen wie: ‘Let’s Do It/Let’s Break The Law!’ Wenn ich daran denke, muss ich

weinen vor Glück. Nichts anderes verändert das Leben: ein Keyboard, eine Stimme.


Lowe: Ein Lied, das von den Möglichkeiten der Freiheit handelt. Ein Glas Champagner bei Neonlicht. Ein Arbeiteraufstand.

Wollen Sie immer noch wissen, was Pop alles sein kann?


Tennant: Ich hoffe jedenfalls, Sie haben etwas dazugelernt. Ich hoffe, Sie wissen jetzt, dass aus der Fernsehsendung Popstars

keine Popstars hervorgehen. Sonst wäre jede Mitarbeiterin des Monats in einer Supermarktkette ein Popstar.


Lowe: Eine schöne Vorstellung.


Tennant: Aber sie ist es eben nicht.

Taken from: Süddeutsche Zeitung
Interviewer: Ingo Mocek