Süße Madeleines der Erinnerung

Umgekehrt triumphieren: Alles Spektakel kann nicht verdecken, dass die Pet Shop Boys die größten Melancholiker der Popmusik sind.




Ohne dass man gefragt wird, geht beim Öffnen der deutschen Homepage der Pet Shop Boys in ziemlicher Lautstärke deren neues Lied „Winner“ an – ein Moment der Peinlichkeit, wenn er im Großraumbüro passiert. „You’re a winner / I’m a winner“, tönt es, und das im triumphalsten „Go West“-Modus mit Synthesizer-Trompeten. Großer Zirkus, bunte Kostüme: Man sieht den Auftritt bei „Wetten, dass . . . ?“ schon lebhaft vor sich.


Und doch ist das nur die eine Seite der Pet-Shop-Medaille. Wenn man die ganze Werkgeschichte des Londoner Elektropop-Duos aus Neil Tennant und Chris Lowe in den Blick nimmt, ist es sogar eher der Ausnahmefall: Denn von „It’s a Sin“, dieser nie wieder aus dem Ohr zu kriegenden Schicksalsmeldodie der achtziger Jahre, über das tief- und hintersinnige „Being Boring“ aus den Neunzigern bis zum Bände sprechenden „Home and Dry“ aus der Spätphase dominiert doch deutlich der kontemplative Song, der eher im trauten Heim per Kopfhörer als auf der Tanzfläche genossen werden will.


Genauso verhält es sich auch mit dem neuen Album. Das heißt zwar himmlisch „Elysium“, doch es befördert den Hörer zunächst in die ewigen Jagdgründe der Melancholie, musikalisch wie auch textlich. Mit „Leaving“ steht nämlich gleich die Eröffnungsnummer im Zeichen des Abschieds, und in ihrem Kern steht eine lyrische Miniatur, die schlicht perfekt gemeißelt ist: „Our love is dead / But the dead don’t go away / They made us what we are / They’re with us everyday“. Das kann man, gerade in dieser Kürze und Prägnanz, wohl kaum besser sagen und auch nicht schöner singen. Neil Tennants Ausdruck ist, wie stets, britisch bescheiden und erzeugt in seiner Britishness herrlich offene Vokale – eine Zeile wie „Made us what we are“, die mit einem solchen ausklingt, will da geradezu bis zum Horizont reichen.


Während man noch geistig schwimmt, trägt einen das zweite Stück dann vollkommen ins Jenseits. Wie zur Vertiefung des Abschiedsthemas handelt auch dieses Lied vom Verschwinden; sein lyrisches Ich wird sogar unsichtbar oder fühlt sich zumindest so: „After being for so many years / The life and soul of the party / It’s weird / I’m invisible.“ Das Lied gipfelt in dem Paradoxon eines sichtbar Abwesenden: „Look at me, the absentee“. Soll das nun eine Beschreibung der charakterlichen Aushöhlung eines Stars durch den Ruhm sein?


Die Songs aus der Feder des einstigen Musikjournalisten Tennant hielten schon häufig auch dem Musikbusiness den Spiegel vor, allerdings noch nie so deutlich und selbstironisch wie jetzt mit dem Stück „Your Early Stuff“. Als Hintergrund dazu mag man sich eine Szene vorstellen, wie Tennant sie jüngst erzählt hat: Ein Taxifahrer habe ihn erkannt und gefragt, wie er denn so seinen Ruhestand verbringe. Das muss den in den vergangenen Jahren überaus produktiven Künstler zugleich geschmerzt wie auch amüsiert haben. Das Lied jedenfalls handelt von einem Musiker, der schon etwas länger im Geschäft ist, dafür aber noch ganz passabel aussieht („You’ve been around but you don’t look too rough“), und der aus der Perspektive eines Jüngeren so gnadenlos wie gönnerhaft betrachtet wird: „I still quite like some of your early stuff“. Ganz unverblümt fragt dieser auch, was denn für den alten Knacker eigentlich bei der Sache mit der Popmusik noch drin sei: „What’s in it for you now, need the money?“


In der Berliner Szene

Die Pet Shop Boys sind nun auch nicht mehr die Jüngsten, aber dass sie das Geld brauchen, wird man nicht annehmen müssen. Eher scheinen sie von dem Ehrgeiz angetrieben zu sein, sich in einer seit Mitte der achtziger Jahre riesig gewachsenen Szene der Electro-Musik auch künstlerisch noch behaupten zu können. Das gelingt ihnen mit Hilfe des 1980 geborenen Produzenten Andrew Dawson, der sonst eher für Hip-Hop bekannt ist, recht überzeugend – sofern man nicht auf dem Standpunkt steht, dass sich bei dieser Computermusik Instrumente wie Schlagzeugimitationen ohnehin alle gleich anhören.


Ob es zusätzlich zu dieser musikalischen Verjüngungskur auch noch der nun massenhaft gestreuten Information bedurft hätte, dass Tennant und Lowe seit einiger Zeit einen Zweitwohnsitz in Berlin haben und dort gerne die Clubs Berghain oder Kater Holzig frequentierten, darf bezweifelt werden, zumal wohl kaum irgendwo die Segregation von Jung und Alt so gnadenlos betrieben wird wie in der deutschen Hauptstadt. An den besagten Szeneorten zählen Mittfünfziger definitiv zum ältesten Eisen.


Zur Attitüde der alt und weise Gewordenen passt dann noch ein Lied zum Ende des Albums mit dem wiederum paradoxen Titel „Memory of the Future“. Der Blick richtet sich aber zunächst mal in die Vergangenheit: „Looking back at my life now and then“, heißt es zur Einleitung. Dann folgt eine wohlplazierte Anspielung: „Over and over again / I keep tasting that sweet madeleine“: Die Pet Shop Boys als Proustianer reinsten Wassers, immer auf der Suche nach der verlorenen Zeit.


Was der Geschmack des süßen Vergangenheitsgebäcks dann für eine Welle von Empfindungen auslöst, vermag ein Popsong leider nicht annähernd so konkret zu beschreiben wie ein Roman, aber das ist einfach ein Genreunterschied: Der musikalische Eindruck von eher verstörender Melodie in der Strophe, dann aber hymnischem Refrain gibt dafür dem einzelnen Hörer Raum, die Tiefe seiner Erinnerung zwischen Trauma und Elysium auszuloten.

Taken from: FAZ.net
Interviewer: Jan Wiele