Steht auf und wehrt euch!

Neil Tennant, Sänger der Pet Shop Boys,


führte in London vor 25 000 Zuschauern


seine Musik zu ‘Panzerkreuzer Potemkin’ auf.


Jetzt kommt er damit nach Deutschland.


Ein Gespräch über Terror, Klassik und Revolutionen




Die Pet Shop Boys gehören seit über zwanzig Jahren zu den besten britischen Popbands, Sergej Eisensteins Stummfilm ‘Panzerkreuzer Potemkin’ von 1925 zu

den besten europäischen Film aller Zeiten. Da sich Popstars traditionell gern Klassischem widmen, verwunderte es nicht, daß das Popduo eine neue Filmmusik

zu Sergej M. Eisensteins Film schrieb.


Mit den Dresdner Symphonikern und dem deutschen Komponisten Thorsten Rasch schuf die Band, die vor 20 Jahren mit ‘West End Girls’ berühmt wurde, einen

Soundtrack zwischen Synthiepop und spätromantischer Orchestersuite. Zur Uraufführung am Londoner Trafalgar Square kamen 25 000 Menschen, am Freitag beginnt

die Deutschland-Tour.


Beim Moskauer Live-8-Konzert traten die Pet Shop Boys noch mit ihrem Lied ‘Go West!’ auf – seit den Terroranschlägen verließen sie ihre Heimat London nicht

mehr. Interviews gibt Sänger Neil Tennant nur telefonisch aus seiner Wohnung. Morgens, mit einem Tee in der Hand und ‘in Pantoffeln’, wie der 51jährige

betont.



Welt am Sonntag: Ihre Fans warten auf ein Album mit neuen Songs und bekommen statt dessen 90 Minuten Filmmusik mit Orchester. In Sergej Eisensteins Film

geht es um einen russischen Matrosenaufstand von 1905. Was interessiert eine Popband an diesem historischen Stoff?



Neil Tennant: ‘Panzerkreuzer Potemkin’ ist ein Protestfilm. Wir haben Film und Musik auf dem Trafalgar Square uraufgeführt – traditionell der Protestplatz

in London. Die Demos gegen den Irak-Krieg fanden dort statt und in den 80ern die Märsche gegen Thatcher. Protest ist ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens.



WAMS: Ist Ihre Filmmusik politisch?



Tennant: Ja, und zwar gegen Unterdrückung. Das ist immer eine gute Botschaft. Und etwas, was mein Bandkollege Chris Lowe und ich immer sehr unterstützt

haben. Der Film und die Musik sind sehr politisch, wenngleich nicht aktuell tagespolitisch. Es geht um Menschen, die nach Freiheit streben.



WAMS: London wurde im Juli von Terroranschlägen heimgesucht – ist das Thema der Unterdrückung durch eine Obrigkeit da noch wichtig?



Tennant: Ken Livingstone, der Bürgermeister, hat eine tolle Rede gehalten und direkt zu den Terroristen gesprochen. Er sagte, die Menschen kommen nach

London, um ihre Träume zu verwirklichen, und ihr Terroristen werdet niemals siegen. Es ist ironisch, daß der getroffene Bus aus Hackney zur Edgware Road

fuhr. Hackney ist ein Arbeiterviertel mit vielen Immigranten, und Edgware Road ist praktisch das Bagdad von London. Eine arabische Gegend mit Wasserpfeifen

und irakischen Imbissen. Das war also ziemlich dämlich von den Tätern. Zudem war es keine Bombe, die in Gleneagles beim G-8-Gipfel hochging, sondern mitten

im Berufsverkehr, die einfachen Leute wurden getroffen. Das finde ich besonders unmoralisch daran.



WAMS: Zu der berühmten Filmszene an der Treppe von Odessa, als zaristische Soldaten in die Menge schießen, singen Sie ‘How come we went to war’ – ein

Antikriegslied, dazu wird eine kritische Rede über den Irak-Angriff eingeblendet. Waren Sie gegen diesen Krieg?



Tennant: Anders als Chris bin ich nicht zu den Friendensdemos gegangen. Denn ich war auch sehr gegen Saddam Hussein. Ich habe etwas gegen psychopathische

Diktatoren. Das Lied bezieht sich auf den Irak-Krieg, aber auch auf andere Antikriegs-Bewegungen. Ich benutze heutige Gefühle und projiziere sie auf den

Film. Am liebsten würde ich mit ‘Panzerkreuzer Potemkin’ nach Nordkorea reisen und ihn vor dem Regierungssitz aufführen. Er wirkt in jedem undemokratischen

Umfeld. Wir verhandeln gerade mit den Chinesen. Die Regierung sperrt sich noch dagegen, uns auf den Platz des Himmlischen Friedens zu lassen, wo vor 16

Jahren das Massaker gegen Demonstranten stattfand. Ich hätte gedacht, die sagen sofort ab, aber sie überlegen schon erstaunlich lange. Iran ist auch so

ein Fall. Denen täte der Film ebenfalls gut.



WAMS: Sie sind eine Pop-Ikone seit den 80ern und stehen für leichte Synthesizer-Songs. Fühlten Sie sich nicht überfordert mit dieser Filmmusik?



Tennant: Unsere Filmmusik ist melodisch, es gibt Elemente der Dance Music, für die wir berühmt sind. Es ist rhythmische Ethno-House-Musik, wenngleich mit

Orchester gespielt. Eisenstein selbst wollte, daß jedes Jahrzehnt eine neue aufgenommen wird. Das hält den Film jung.



WAMS: Trotzdem haben Sie die Dresdner Symphoniker und den deutschen Komponisten Thorsten Rasch dazugeholt.



Tennant: Wir wollten unbedingt ein Orchester. Ich kam auf Rasch, weil ich seine CD ‘Mein Herz brennt’ mochte, auf der er Rammstein-Texte als Orchesterlieder

neu vertont hat. Wir kommen aus dem europäischen Pop, Thorsten von der deutschen Spätromantik und der dissonanten Musik etwa Alban Bergs. Das ist sehr

kontrastreich und gerade das ist das Großartige daran. Wir wollten mehr Tiefe und harmonische Komplexität als im Pop üblich. Thorsten hat die Arrangements

immer wieder umgeschrieben, bis die Musik der Dresdner endlich mit unserer zusammenpaßte. Ich glaube, wir haben ihn in den Wahnsinn getrieben. Aber er

redet noch mit uns.



WAMS: Mögen Sie die Band Rammstein?



Tennant: Ich kannte sie gar nicht. Aber durch ‘Mein Herz brennt’ angeregt, kaufte ich das Rammstein-Album und fand es geil. Die Plattenfirma lud uns sogar

ein, einen Remix des Lieds ‘Mein Teil’ zu machen. Eine Supersache, die Kannibalengeschichte! Das bekam auch sehr viel Presse bei uns in England (lacht).

Rammstein wird jetzt in London immer populärer.



WAMS: Wollen Sie jetzt auch Skandale provozieren mit Ihrer Filmmusik?



Tennant: Unsere Musik soll dem Publikum einfach nur helfen, den Film zu lieben. Sie soll das Intensive an dem Film herausstellen, das Emotionale. All die

Menschen finden sich zusammen und rebellieren, viele werden ermordet.



WAMS: Es bleibt ein Stummfilm von 1925. Glauben Sie wirklich, daß Sie dem heutigen Publikum damit etwas mitteilen können?



Tennant: Wenn ich mir neue Filme im Kino ansehe, denke ich oft: Schade, daß der Regisseur nicht von ‘Potemkin’ gelernt hat. Neue Filme sagen alles durch

Worte. Im ‘Panzerkreuzer’ wird, weil es ein Stummfilm ist, die Geschichte durch Handlung und den Zusammenschnitt von Bildern erzählt. Das ist kreativer

und sieht moderner aus. Schade, daß keine Stummfilme mehr gedreht werden.



WAMS: ‘Panzerkreuzer Potemkin’ galt als kommunistischer Propagandafilm. Hatten Sie Angst, in die falsche politische Ecke zu geraten?



Tennant: Als wir anfingen, uns mit dem Film zu befassen, sagte ich genau das zu meinem Keyboarder Chris: Dieser Film ist doch nur so ein sozialistischer

Propaganda-Scheiß. Er wußte es schon damals besser. Der Film ist sehr idealistisch und blickt romantisch auf das Ideal der guten Revolution. Eigentlich

geht es dem Film darum, daß Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und für ihre Rechte kämpfen. Es ist traurig und ironisch, daß diese Menschen

nach der russischen Revolution ihre Rechte verloren haben. Eigentlich ging es um das Gegenteil.



WAMS: Was würde ein idealer Zuschauer von diesem Film lernen?



Tennant: Legt euch nicht hin und nehmt nicht an, was ist, sondern steht auf. Der Film ist heute sehr allgemein und romantisch zu verstehen. Ich glaube

kaum, daß der Film historisch akkurat und korrekt ist. Aber das ist egal. Es geht um dieses hohe Ideal, daß Menschen sich gegen ihre Unterdrükker wehren.

Und es gibt zuviel Unterdrückung in dieser Welt.

Taken from: Welt am Sonntag
Interviewer: Thomas Lindemann und Steffen Rüth