Special im Musikexpress

Mit ihrem neuen Album ‘Release’ erweisen Neil


Tennant und Chris Lowe sich erneut als Meister


ihres Fachs. Hier geht’s zum Exklusiv-Interview


mit den beiden Exzentrikern




Bei ‘Release’ habt Ihr Elemente einer Musikrichtung verwendet, die ihr sonst immer gemieden habt wie der Teufel

das Weihwasser: Rock.



Tennant: Ja, obwohl wir das Album mit derselben Technologie wie immer aufgenommen haben. Statt elektronischer

Dance-Sounds haben wir diesmal mit Rock-Samples gearbeitet – aber es sind immer noch Samples.


Lowe: Ich habe wieder die Drums programmiert, aber diesmal sind es programmierte Rock-Sounds.



Die elektronische Musik entwickelt sich in rasendem Tempo, aber die Pet Shop Boys klangen immer gleich. Warum

gab’s nie ein Drum’n’Bass-Album?



Lowe: Weil das veraltet wäre.


Tennant: Wir springen nicht auf anderer Leute Züge auf. Ein Grund, warum wir immer noch im Geschäft sind, ist

sicher, dass wir das nicht gemacht haben.


Lowe: Das ist eine große Versuchung!


Tennant: David Bowie hat es nicht gut getan, plötzlich in Drum’n’Bass zu machen. Heute klingt ‘Earthling’ wie eine

typische, schräge Mittneunziger-Sache. Ich sehe die Gefahr, dass wir irgendwann beschließen: Okay, wir sind jetzt

die Chemical Brothers. Okay, wir sind jetzt Daft Punk. Es gibt ziemlich viele Künstler, die sich dafür entscheiden,

nun sozusagen die Pet Shop Boys zu sein. Das ist keine Entwicklung, das ist Opportunismus. Selbst dafür ist Platz

in der Popmusik.


Lowe: Wir haben einfach nie das ‘neueste coole Ding’ adaptiert. Und trotzdem klingen wir nicht altmodisch. Es ist

viel schwerer, Songs zu schreiben, die bleiben.



Die Frage ist doch: Wer zum Teufel hört denn guten Gewissens die PetShop Boys?


Tennant: Als ‘Go West’ vor zehn Jahren ein so großer Hit wurde, da freute sich die Plattenfirma und sagte: ‘Ihr habt

einen Haufen Neunjähriger dazu gewonnen! EMI hat das mal untersucht und ermittelt: Der durchschnittliche Pet Shop

Boys-Fan ist 27 Jahre alt…



…und männlich?


Tennant: Überwiegend, ja. Es ist wie in einem Club: die Leute kommen, die Leute gehen…



Als prototypische Eighties-Band profitiert ihr doch auch vom Eighties-Revival…


Tennant: Es schmeichelt, aber wir waren zu spät, wir kamen 1986 und sind keine Eighties-Band im eigentlichen Sinne.



Ist das dein Ernst?


Tennant: Klar, denn die Musik der Achtziger endete mit ‘Live Aid’. Eighties, das war Culture Club, Bronskie Beat,

Frankie Goes To Hollywood. Wir waren eine Reaktion darauf, wir kamen danach.


Lowe: Wer vom Eighties-Revival spricht, der meint meistens die Rückkehr dummer Frisuren – ich sage nur

Flock Of Seagulls…



Elvis Costello hat einmal gesagt: Die Achtziger waren das Jahrzehnt, das die Musik vergessen hat…


Tennant: Also bitte! Es gab fantastische Musik in den Achtzigern. ‘When Doves Cry’ von Prince ist vielleicht eines

der besten Alben aller Zeiten – und das kam 1983 heraus. Lowe: Hast Du das Elvis Costello mal erzählt?


Tennant: Nein, ich habe ihn schon lange nicht mehr getroffen. Das Absurde ist doch, dass Costello selbst in den

Achtzigern tolle Musik gemacht hat. Da gibt es einen Song namens ‘Ship Building’ ….


Lowe: ‘Shit Building?’


Tennant (lacht): So ähnlich, ja, naja. Das zweite Culture Club-Album klingt doch heute noch fantastisch. ‘Church

Of The Poison Mind’ ist ein großartiger Song, ‘Do You Really Want To Hurt Me’ ist ein absolut zeitloser Klassiker.



Worin liegt denn dieser spezifische Reiz?



Tennant: Es war sehr dialektisch. Leute hatten technische Möglichkeiten und Ideen, sie wollten Verschiedenstes

zusammenbringen. Heute wird in der Popmusik nicht mehr in Ideen gedacht. ‘Dare’ von Human League klingt immernoch

faszinierend, selbst die Lyrics lesen sich wie ein Drehbuch. Oder diese andere Sensation, ‘Sweet Dreams Are Made

Of This’ von den Eurythmics.



Schillernde, bunte Charaktere waren es, die die Eighties bestimmt haben…


Lowe: Und alle verschwanden sie, als die Rave-Szene aufkam, ein kompletter Gegenentwurf: Gesichtslose Produzenten,

die im Studio Dance-Platten aufnehmen. Und das ging dann die ganzen Neunzigerjahre so. Vielleicht erinnern sich viele

Leute deshalb so gerne an diese Dekade, weil sie sich an diese ganzen ‘Überlebensgroßen Persönlichkeiten’ erinnern,

die sich flamboyant kleideten. Dahin wollen die Leute zurück…


Tennant: Meinst Du wirklich, dass es so sehr mit dem Aussehen zu tun hat?


Lowe: Musik und Aussehen in den Neunzigern, das kulminiert in einem Typen wie dem Münchener DJ Hell…


Tennant (lacht): Der klingt genau wie unsere Demos von 1982, um-tschak, um-tschak… Drumbox ohne Ende.



Was heißt: Es gibt keine Ideen mehr im Pop?


Tennant: Es gibt weniger. Eminem zum Beispiel ist voller kontroverser Ideen. Er macht nicht nur tollen Pop, sondern

ist eigentlich auch fleischgewordene Gesellschaftskritik. Er sagt das Unsagbare und regt die Leute auf, das ist cool.



Mit ‘The Night I Fell In Love’ habt ihr Eminem einen ganz speziellen Song gewidmet…


Tennant: Er gilt ja, wie die meisten Rapper, als extremer Schwulenhasser. Ich habe mir nur vorgestellt: Was wäre,

wenn Eminem insgeheim schwul wäre? Wäre das nicht total süß? Der Song ist eine liebevolle Antwort auf seine Homophobie.

Außerdem mag ich es, Zeitgenössisches in die Songs einzubringen. Wenn er am nächsten Morgen frühstückt und über Dr. Dre

spricht oder seine Homies, das fand ich lustig.



Fast könnte man den Eindruck bekommen, ihr würdet auf eure alten Tage politisch…


Tennant: Wir haben nie schwule Musik für eine schwule Community gemacht!



Aber ihr thematisiert immer offensiver schwule Themen!


Tennant: ‘The Night I Fell In Love’ ist für unsere Begriffe sehr kontrovers, das stimmt. Aber es ist keine Politik Es

hat was mit Einstecken und Austeilen zu tun, es geht darum, zurückzuschlagen. Okay, da ist dieser Schuljunge, der nach

einem Konzert mit Eminem ins Bett geht, sich die ganze Nacht vögeln lässt. Ich fragte mich: Worüber reden die beiden?

Der Junge konfrontiert Eminem mit dem Vorwurf, er hasse Schwule – und Eminem zuckt zusammen. Es geht darum zu zeigen,

dass die Leute nicht immer ihren Rollen entsprechen. Es ist ein Song über das Spielen von Rollen, das Tragen von Masken.

Eminem ist vielleicht der einzige Künstler, der das annähernd so gut beherrscht wie David Bowie.



Ironisch klingt das nicht…


Tennant: Nein, wir wollen wirkliche, ehrliche Musik machen. Das verträgt sich nicht mit Ironie. Andererseits muss ich

sagen, dass die Songs mit der Zeit immer rätselhafter werden – weil ich vergesse, wie ich mich eigentlich fühlte, als

ich sie geschrieben habe.



Wie definieren die Pet Shop Boys das Wort ‘Kitsch’?


Tennant: Ich mochte Kitsch noch nie.


Lowe: Aber Kitsch hat viele Fans. Wie heißt der Typ…


Tennant: Jeff Koons?


Lowe: Genau. Er mag Kitsch.


Tennant: Was ich daran mag ist dasselbe, was ich an ‘camp’ mag: die Ehrlichkeit. Die Leute denken heute, ‘camp’ wäre

einfach nur sehr ‘autsch’, aber es ist ehrlich.



Susan Sonntag hat sinngemäß geschrieben, ‘camp’ wäre ‘gute schlechte Kunst’, nach dem Motto: So schlecht, dass es

schon wieder gut ist…



Tennant: Aber eben ehrlich. Das ist Kitsch nicht immer, und das verabscheue ich. Totalitäre Kunst ist oft kitschig,

Nazi-Gemälde waren fürchterlich kitschig. Sentimentalität beinhaltet auch viel Grausamkeit, das ist eine ähnliche

Sache. Deswegen habe ich dem Kitsch immer misstraut.


Lowe: Was ist mit ‘Moulin Rouge’?


Tennant: Wie bitte?


Lowe: ‘Moulin Rouge’ ist auch Kitsch.


Tennant: Wie bitte? Das ist doch kein Kitsch. Baz Luhman hat ein unglaubliches Stilgefühl, aber es ist doch kein Kitsch!


Lowe: Hat aber eine Kitsch-Ästhetik…


Tennant: Aber wo das denn?


Lowe: Na, Kylie Minogue als Engelchen? Ist das nicht herrlicher Kitsch?


Tennant: Nein, das sehe ich völlig anders. Chris, darüber müssen wir nochmal reden…

Taken from: Die Tageszeitung
Interviewer: Arno Frank