Die Versprechen vieler Nächte

Alles fing an mit einem fehlenden Stecker. Seitdem kennen


sie weder rasten noch rosten, eher raven und rocken. Die


Pet Shop Boys, das erfolgreichste Duo der Pop-Geschichte,


standen mit ihren Hits nicht nur weltweit an der Spitze


der Charts, sondern auch stets – egal ob zu Vintage-Disco-Edit,


Eurotrash-Trommelwirbel-Hölle oder schrillem Electroclash-Theater –


mit mindestens einem Fuss auf dem Dancefloor. Auch heute noch.


Ein Rendezvous mit Pops ältesten Clubkids, pünktlich zum


zwanzigsten Geburtstag von ‘West End Girls“.




Hamburg, 22. Oktober 2003. Es ist ein großer Tag für die altehrwürdige Hamburger Musikhalle. Sie soll Schauplatz sein für eine

in Millionen von TV-Haushalte übertragene Glamour-Veranstaltung namens ‘World Awards 2003“, bei der Männer ausgezeichnet werden,

die sich ‘für Frieden und Toleranz“ eingesetzt und die Welt damit ‘zum Positiven verändert“ haben. Ranghohe Politiker,

UNO-Friedensbotschafter, renommierte Ärzte, Wirtschaftsbosse. Schirmherr des Ganzen: Michail Gorbatschow. Was die Pet Shop Boys

dort zu suchen haben? Gute Frage. Hätte ihnen vor 22 Jahren jemand prophezeit, sie würden einmal in solch erlauchten Kreisen

verkehren – sie hätten sich wahrscheinlich köstlich amüsiert.



Doch mit Disco-Musik kann man es weit bringen. Vor allem, wenn man es so geschickt anstellt wie die beiden: Chris Lowe, ein

Architekturstudent aus Blackpool, schlüpfte – frei nach Kraftwerk oder den Sparks – in die Rolle des Keyboarders, der nichts

macht, außer mit versteinerter Mine dazustehen, Neil Tennant, ein Pop-Journalist aus North Shields, übernahm die Funktion des

Sängers, der eigentlich gar nicht singen kann. Das Konzept beinhaltete von Anfang an: ‘songs you can dance to“, also poppigen

Dancefloorspaß, gepaart mit ‘un-disco lyrics“, sprich: cleveren, vor Subtexten nur so sprudelnden Reimen anstelle gängiger

Peaktime-Plattitüden. Instinkt und Intellekt – auf den Punkt gebracht im Hit ‘Left To My Own Devices“ mit der Zeile ‘Che Guevara

and Debussy to a disco beat“. Tatsächlich haben Lowe und Tennant, ausgehend von Hi-NRG und Italo-Disco, seitdem so ziemlich alles

an Clubsound mitgenommen, was sich im weitesten Sinne als Fortführung von Disco an Pop andocken ließ. ‘We’re always looking for

a new underground“, so ihr Credo. Freunde haben sie sich damit natürlich nicht immer gemacht, und die bösen Zungen, die spotten,

Neil Tennant habe im Laufe der Jahre keineswegs durch Übung, sondern lediglich durch Innovationen der Studiotechnik gelernt,

Töne zu treffen, sind nie ganz verstummt. Auch heute – 20 Jahre nach ‘West End Girls“ – sind die Pet Shop Boys noch immer: eine

Frage von Liebe oder Hass.




EIN VERBINDUNGSKABEL, PLEASE




Und das alles nur aufgrund eines kleinen Denkfehlers: Als sich Neil Tennant im August 1981, mit 27 Jahren, einen Korg-Synthesizer

kaufte, um auch mal auf einem anderen Instrument Songs zu schreiben als immer nur auf seiner Gitarre, musste er zu Hause feststellen,

dass sich das Gerät nicht – wie er naiv angenommen hatte – einfach in seine Stereoanlage stöpseln ließ. Ob der Verkäufer in dem

Elektrogeschäft in der Londoner Kings Road, in dem er sich daraufhin noch ein entsprechendes Verbindungskabel löten lassen musste,

hämisch ‘Tunten und Technik!“ frotzelte, ist nicht überliefert, sicher hingegen ist, dass Chris Lowe, damals 22, den Laden betrat,

während Neil auf sein Kabel wartete. Die beiden kamen ins Gespräch, über Synthies und einen gewissen Bobby Orlando – der Grundstein

der Pet Shop Boys Partnership Limited.



22 Jahre später im Hotel Atlantic: Neil und Chris kommen gerade vom Lunch mit anderen ‘World Award“-Preisträgern in spe wie Morgan

Freeman und Christopher Lee, später müssen sie noch zum Shopping, Neil hat noch kein Outfit für den Abend. Drama. Doch zuerst: Zeit

für ein Interview. Tennant, 49, ganz der Dandy, als den man sich ihn gerne vorstellt, fügt sich mit schwarzem Mantel und Strickpulli

unauffällig in das noble Ambiente, Lowe, 44, ewig der heimliche vierte Beastie Boy, wirkt mit Sneakers, Kapuzen-Sweater und

Stüssy-Mesh-Cap, unter dem sich eine blondierte Electroclash-Matte lockt, etwas deplatziert. Dem Namen nach natürlich nach wie vor

‘Boys“. erinnern die beiden, wie sie sich beim Interview Anekdoten zuwerfen, eher an das giggelnde Altherren-Pärchen in der Loge der

Muppet-Show.



Erinnert ihr euch, wann die Liebe zu Tanzmusik und Disco bei euch angefangen hat?


Chris: Bei mir war das in den Siebziger Jahren, ich war also von Anfang an dabei. Na ja, jedenfalls ab dem Zeitpunkt, als Disco dann

in Blackpool ankam. Das war natürlich etwas später als in New York.


Neil: Das erste Mal, dass ich eine Disco-Platte hörte, war in einem Schwulenclub in London, der ‘Chaguaramas“ hieß. Dort lief ‘Papa

Was A Rolling Stone“ von den Temptations. Norman Whitfield hatte die Platte produziert, er hat damals für Motown sehr avantgardistische

Produktionen gemacht. Sie war über neun Minuten lang und hörte sich im Club absolut großartig an. Das war 1973. Ein Jahr später hat

Disco dann wirklich angefangen, mit ‘Lady Marmalade“, den frühen Sachen von Barry White und so weiter. Später wurde ich dann aber

eher New-Wave-Fan. Bis ich Chris traf.


Chris: Ich war eine große Disco-Diva! Wobei mich das nie davon abgehalten hat, zu Punkkonzerten zu gehen und die Bands anzuspucken.


Neil: Ich war immer eher auf der Seite von Punk, was mich aber auch nicht davon abgehalten hat, ‘Saturday Night Fever“ zu sehen. Und

das mit dem Spucken bei Punk-Konzerten fand ich furchtbar, das war wirklich kindisches Benehmen.


Chris: Natürlich, aber das war großartig! Pogo tanzen auch!


Neil: Nun, ich denke, wir hatten beide eine gute Zeit.



Was macht für euch denn die Faszination des Four-to-the-floor-Disco-Beats aus? Seit den Siebzigern ist er ja nie so richtig aus der

Mode gekommen …



Neil: Ich denke, diese Uniformität des Four-to-the-floor-Beats hat etwas sehr Attraktives. Diese Regelmäßigkeit und das Chaos, das

dann darüber passieren kann.


Chris: Es funktioniert ja auch komplett ohne Musik darüber. Wenn man einfach eine Bassdrum im Four-to-the-floor-Rhythmus spielt …


Neil: Die meisten Leute machen ja nichts anderes …


Chris: …kriegt man den Dancefloor schon voll!


Neil: In den frühen Achtzigern gab es auch noch diesen Beat, den wir ‘Boom-Kak“ nannten, der war nicht four-to-the-floor.


Chris: Ja, so wie bei ‘Billie Jean“.


Neil: Mit der Bassdrum auf der Eins und der Drei. So einen Beat hat damals auch Bobby “O” programmiert, für unsere erste Version von

‘West End Girls“.



Bobby “O”, bürgerlich Bobby Orlando, ein bibelfester, erzkatholischer Ex-Boxer aus New York, dem der Ruf vorauseilte, einmal in

letzter Sekunde einen Wohnungskauf abgeblasen zu haben, weil er Wind davon bekommen hatte, dass der Vorbesitzer schwul war, konnte

sich 1983 kaum über mangelnden Erfolg beklagen: Er hatte einen für damalige Verhältnisse ungewöhnlich aggressiven, vollelektronischen

Post-Moroder-Sound popularisiert, genannt Hi-NRG, und weltweit Charthits gefeiert – mit The Flirts (‘Passion“) und ironischerweise

auch dem alles andere als bibeltreuen Drag-Performer Divine (‘Native Love“, ‘Shoot Your Shot“). Tennant, der damals noch bei dem

Popblatt Smash Hits arbeitete und ein großer Fan von Orlandos Sound war, da er in ihm eine Art ‘disco with a punk attitude“ sah,

witterte, als er für ein Sting-Interview nach New York geschickt wurde, sofort seine Chance: Er lud den Produzenten vor Ort zum Lunch

ein und spielte ihm auch gleich die Demos vor, die er in London mit Chris aufgenommen hatte.



Eines der Stücke, ‘Opportunities“, war ein schamloser Abklatsch von Divines ‘Shoot Your Shot“, doch den Hi-NRG-Mogul störte das

kein Stück. Im Gegenteil: Im August 1983 nahmen die Pet Shop Boys mit ihm auf Equipment, das damals absolut State of the Art und

nahezu unbezahlbar war, aus heutiger Perspektive allerdings fast vorsintflutlich wirkt – Linn Drum, Fairlight, Emulator –, frühe

Versionen ihrer Songs auf. Nachts stürzten sie sich in die New Yorker Clubszene – Paradise Garage, Better Days, Funhouse, Danceteria.

Die Liason mit Orlando währte allerdings nicht lange: Nachdem sich ‘West End Girls“ 1984 in Belgien und Frankreich zum Hit entwickelt

hatte, wollten EMI die Pet Shop Boys prompt aus ihrem Vertrag mit Bobby “O” herauskaufen. Der Produzent willigte ein – für eine

siebenstellige Ablösesumme und eine Gewinnbeteiligung an den ersten drei Pet-Shop-Boys-Alben.



Die Ur-Version von ‘West End Girls“, die ihr 1983 mit Bobby “O” produziert habt, wurde in Deutschland ja auf ZYX veröffentlicht …


Chris: Ja, Bobby “O” hat es auf der ganzen Welt an verschiedene Labels lizensiert.


Neil: In Amerika kam es auf seinem Label Bobcat heraus, in England bei Epic, in Deutschland bei ZYX, in Frankreich auf noch einem

anderen Label.


Chris: Das war damals sehr aufregend für uns, weil das genau das war, was wir immer gewollt hatten: Eine von Bobby “O” produzierte

Pet-Shop-Boys-Platte auf Bobcat, die in einem Import-Plattenladen in London zu kaufen ist. Mann, waren wir stolz!



Im Gegensatz zu Bobcat war ZYX ja nie ein besonders hippes Label …


Neil: Ja, ich denke, sie haben schon ziemlich viel Käse veröffentlicht.


Chris: Aber es ist doch meistens so, dass man 20 Jahre später Sachen wieder entdeckt und plötzlich sagt ‘Damals waren die ja doch

richtig cool!“.


Neil: Stimmt. Als wir in den Achtzigern angefangen haben, haben wir zum Beispiel gesagt, dass wir ABBA gut finden. ABBA waren

damals so was von uncool! Und wir haben gesagt, dass wir Italo-House mögen. Die Leute haben damals geglaubt, wir würden uns das

nur ausdenken, als gäbe es das gar nicht! Heute gelten diese ganzen Sachen als cool, oder hatten wenigstens eine coole Phase.


Chris: Hat ZYX nicht damals auch diese ‘West End Sunglasses“-Version gemacht?


Neil: Ja, genau. Die fanden wir toll. Das war ‘West End Girls“ zusammen mit ‘Sunglasses At Night“ von Corey Hart. Ein Medley. Es

fing an mit der ersten Zeile von ‘West End Girls“, ‘Sometimes you’re better off dead“, und ging dann über in [singt] ‘I wear my

sunglasses at night“. Und dann switchte es immer hin und her.



Eine frühe Mash-Up-Platte – wahrscheinlich, wie damals üblich, mit Rasierklinge und Klebeband an einer Bandmaschine zurechtgeschnipselt.

Die Pet Shop Boys verfolgten die Entwicklung von Edits und Remixen von Anfang an, über die verschiedenen Vinylformate 7“, 10“ und 12“

und über die Innovationen der Studiotechnik. Eine Anekdote erzählt, wie sie 1985 auf Kosten von EMI – noch ohne dort eine Veröffentlichung,

geschweige denn einen Hit gehabt zu haben – nach New York flogen, um sich dort von damaligen Meistern des ‘Handmade“-Disco-Edits, den

Latin Rascals, einen 12“-Mix für ‘Opportunities“ zusammenkleben zu lassen. Eine andere Anekdote weiß, wie scharf sie – nachdem sie in

London ihren eigenen Dance-Mix von ‘Love Comes Quickly“ fertig gestellt hatten – darauf waren, die Reaktionen im Club zu testen, dass

sie sich sofort ein Acetat schneiden ließen und es dem DJ ihres Lieblingsclubs, dem Jungle, in die Hand drückten. Seitdem zieht sich

der Clubbezug durch fast alles, was die Pet Shop Boys gemacht haben.




RAVES, REMIXES AND B-SIDES




1986 gehörten sie zu den ersten, die ein reines Remix-Album veröffentlichten: ‘Disco“ enthielt Dance-Versionen von Songs ihres

Debütalbums ‘Please“, neben dem Latin-Rascals-Remix noch weitere Bearbeitungen aus New York von Arthur Baker und ‘Mastermixer“

Shep Pettibone. Zwei Jahre später, während dem ‘Summer of Love“, brachten sie mit ‘Introspective“ ein Album heraus, das von frühem

Detroit-Techno und Chicago-House beeinflusst war und ausschließlich 12“-Versionen enthielt. Die zwischen acht und neun Minuten

langen Stücke wurden erst nachträglich auf 7“-Single-Länge zurechtgestutzt. Neben einem Frankie-Knuckles-Remix von ‘I Want A Dog“

enthielt ‘Introspective“ auch eine Coverversion von Sterling Voids ‘It’s All Right“, einer DJ-International-Hymne von 1987. Tennant

und Lowe hatten das Stück auf der Compilation ‘Acid Tracks: The House Sound of Chicago Vol. 3“ entdeckt und fanden es so großartig,

dass sie ihre mit Trevor Horn produzierte Coverversion gleich wieder von Sterling Void remixen ließen.



Anfang 1990 nahmen sie dann in München mit Harold Faltermeyer, dem Ex-Engineer von Giorgio Moroder, das Album ‘Behaviour“ auf. Es

enthielt den heute als Klassiker geltenden Song ‘Being Boring“, der ursprünglich auf dem damals, zur Hochzeit des Madchester-Sounds,

populären ‘Funky Drummer“-Sample basierte. Während Tennant die bayrische Beschaulichkeit durchaus genoss, zog es Lowe, bekannt als

der hedonistischere, tanzfreudigere Pet Shop Boy, zurück nach England, wo gerade das neue Ding namens ‘Rave-Culture“ explodierte.

‘Das ist die aufregendste Zeit in der englischen Kultur seit den Sechzigern, und wir sitzen in München!“, soll er sich beklagt haben.



Zurück in England verbrachte Chris seine Wochenenden dann regelmäßig auf Raves – eine Phase, die zum einen 1991 auf der mit Brothers

In Rhythm produzierten Single ‘DJ Culture“ reflektiert wurde, mit der die Pet Shop Boys nebenbei diesen heute feststehenden Begriff

prägten, zum anderen 1993 auf ‘Very“, dem bis heute Stadion-kompatibelsten Pet-Shop-Boys-Album. Es enthielt nicht nur die wahlweise

viel geschmähte oder begeistert gefeierte Coverversion von Village Peoples ‘Go West“, sondern in einer limitierten Auflage auch ein

Techno-Album namens ‘Relentless“, das Chris in seiner Rave-Euphorie nebenher produziert hatte. Mitte der Neunziger kehrten Tennant

und Lowe dann ihr Archiv aus, zum einen mit der B-Seiten-Sammlung ‘Alternative“, in deren Booklet sie erläuterten, wie die Rückseiten

ihrer Singles sie schon immer dazu verleitet hatten, mit Clubsounds zu experimentieren, zum anderen erschien ‘Disco 2“, das mit

Remixen von DJ Pierre, Jam & Spoon, Rollo, David Morales und weiteren verdeutlichte, wie radikal sich die Disziplin ‘Remix“ seit

Mitte der Achtziger zum komplett eigenständigen Format emanzipiert hatte, aber auch, wie selbstsicher Tennant und Lowe in ihrer

Remixer-Auswahl die Do’s and Dont’s der Hipster-Polizei missachteten.



Als sie danach wieder daran gingen, neue Songs zu produzieren, hielten sie sich – wie bereits 1983 – an Disco-Koryphäen aus New York:

Für die Aufnahmen zu ‘Bilingual“ wollten sie 1996 zunächst mit David Morales zusammenarbeiten, nachdem der aber kurzfristig absagte,

weil sein Studio ausgebucht war, wichen sie auf Danny Tenaglia aus und produzierten mit ihm neben der Single ‘Before“ den B-Seiten-Track

‘The Boy Who Couldn’t Keep His Clothes On“, eine Hymne an die psychotherapeutischen Heilkräfte enthemmter Tanzflächen. Die geplatzte

Kooperation mit Morales wurde dann drei Jahre später für das Album ‘Nightlife“ nachgeholt, bei der campen Homo-Hymne ‘New York City

Boy“.




WE ALL FEEL BETTER IN THE DARK




Auch wenn man rückblickend nun sicherlich nicht behaupten kann, die Pet Shop Boys hätten Innovationen im elektronischen Clubsound

losgetreten, so haben sie seine Entwicklung doch stets verfolgt und – ob in Kollaborationen oder im Alleingang – seine Popularisierung

vorangetrieben. Sie waren, wenn man so will, sein Chartecho. Und bis heute sind sie nicht müde, ihre Finger an den Puls der Zeit zu

legen: Im Sommer 2002 spielten sie beim Sonar-Festival, Anfang diesen Jahres standen sie in London bei einer von Arthur Baker

kuratierten Electro-Party hinter den Turntables, kürzlich mutmaßten sie in einem Interview mit dem englischen Observer, wenn sie

heute erst mit dem Musikmachen beginnen würden, käme dabei so etwas Ähnliches heraus wie bei den Basement Jaxx, und in London werden

sie nach wie vor regelmäßig in Clubs gespottet, tatsächlich oft zusammen: Wenn Chris tanzen geht, hält Neil Smalltalk an der Bar.

In einem Interview mit i-D sinnierte Chris kürzlich: ‘Clubbing ist keine Frage des Alters. Ich bin wie Disco Sally, ich werde auf dem

Dancefloor sterben.“



Was zeichnet für euch einen guten Club aus?


Chris: Ich mag es, wenn die Leute nicht einfach nur herumstehen und cool tun. Das ist auch das, was ich heute an den Electroclash-Clubs

in London mag: Die Leute haben da wirklich Spaß, sie besaufen sich und tanzen …


Neil: Dazu tritt irgendeine tragische Electroclash-Band auf …


Chris: … plötzlich taucht Yoko Ono auf …


Neil: … ja, und um ein Uhr übernimmt dann DJ Hell.


Chris: Und die Leute stehen auf den Podesten! Das erinnert mich immer an die frühen House-Clubs, da war es auch fast wie in einer Kirche.

Die Leute haben den DJ angebetet! Man hatte das Gefühl, Teil von etwas zu sein.


Neil: Das Gute an Electroclash ist, dass es überhaupt nicht in einem größeren Rahmen stattgefunden hat, es gab keine wirklichen Charthits.


Chris: Electroclash hat sich geweigert, Overground zu gehen.


Neil: Vor zwei Jahren hätte ich wahrscheinlich noch gesagt, dass mich das Nachtleben langweilt. Aber nun gibt es in London all

diese neuen Clubs, die einfach Spaß machen. Die Leute ziehen schräge Klamotten an, es werden komische Filme gezeigt, man wird

unterhalten. Es spielt nicht einfach nur irgendjemand ein Sieben-Stunden-Set für schwitzende Leute mit Jeans, T-Shirt und

Wasserflasche in der Hand. Electroclash hat Clubbing für mich wirklich neu belebt.



Die musikalischen Vorzüge von Electroclash mal dahingestellt: Nach den eher reduktionistischen Ansätzen jüngerer Vergangenheit wie

Clicks’n’Cuts oder Minimal-Techno wundert es nicht, dass Menschen, die in ihrem Leben schon wesentlich buntere Zeiten erlebt haben,

wieder auf der Matte stehen, wenn Werte wie Styling, Performance und Pop plötzlich wieder gelten. Neben Neil und Chris tummelt es

in den Londoner Clubs derzeit nur so vor zwischenzeitlich komplett von der Bildfläche verschwunden Alt-Achtzigern wie Boy George,

Siouxsie Sioux, Siobhan Fahey (Ex-Bananarama), Adam Sky (ehemals Adamski), Mark Moore (S-Express) oder Pete Burns (Dead Or Alive).



Dass Electroclash auch an den Produktionen der Pet Shop Boys nicht spurlos vorübergezogen ist, war in diesem Jahr nicht zu

überhören: Nach der Veröffentlichung von ‘Disco 3“, das neben ‘Try It (I’m In Love With A Married Man)“, einer Coverversion

eines alten Bobby-“O”-Songs, auch das betont clashige ‘If Looks Could Kill“ enthielt, nahmen sie eine Coverversion von ‘We’re

The Pet Shop Boys“ auf, einer an sie adressierten Hommage des New Yorker Electroclash-Performers My Robot Friend, außerdem

betätigten sie sich als Remixer – zum einen für Yoko Onos ‘Walking On Thin Ice, zum anderen für das auf Gigolo veröffentlichte

‘Hooked On Radiation“ der Londoner Nag-Nag-Nag-Macher Atomizer. Beide Remixe klingen auffällig nach einem ins Heute gehievten

Update ihres alten Hi-NRG-Sounds. ‘Nach unserem letzten Album &Mac226;Release’ hatten wir mal wieder Lust auf ein paar Dance-Sachen,

sonst hätten die Leute noch geglaubt, wir seien jetzt eine Rockband“, schmunzelt Chris. ‘Und irgendwie haben wir diesen Bobby-“O”-Sound

immer noch nicht über.“



Dass die beiden Singles, die sie für ihre neue Greatest-Hits-Compilation ‘PopArt“ aufgenommen haben, ebenfalls betont cluborientiert

ausfallen, wundert da kaum noch – zum einen ‘Miracles“, eine Kooperation sowohl mit den Drum’n’Bass-Dons Adam F und Dan Fresh als auch

mit Stuart Crichton, der vor zwei Jahren für das Mash-Up von Kylie Minogues ‘Can’t Get You …“ mit New Orders ‘Blue Monday“

verantwortlich war, zum anderen ‘Flamboyant“, ein Stück, das Neil und Chris von Tomcraft remixen ließen, weil sie dessen ‘Loneliness“

toll fanden, und das nun mit dem typischen, auf eine straighte Kickdrum pfeifenden Timo-Maas-Groove bei einer Weiterentwicklung des

alten ‘Boom-Kak“-Beats aus den Achtzigern angekommen ist.


So schließt sich nicht nur ein Kreis von über zwei Dekaden – die Pet Shop Boys wandeln auch wieder genüsslich auf dem schmalen Grad

zwischen Hipster-Hutzücken und anrüchiger Trance- und Trash-Kompatibilät, wie schon so oft. Exemplarisch dafür steht die Beschwerde

eines Fans, kürzlich gepostet in der Q-&-A-Sektion der Pet-Shop-Boys-Website: ‘Warum gibt es von euch heute nicht mehr so gute Remixe

wie in den Achtzigern, zum Beispiel von Francois Kevorkian oder Shep Pettibone?“ Die Antwort von Neil, alle Tomcrafts dieser Welt in

Schutz nehmend: ‘Die Qualität ist dieselbe, nur die Stile und die Technologie haben sich verändert.“ Punkt. Keine Diskussion.



Könnte man sich da echauffieren, ‘Der alte Sack hat doch keine Ahnung!“, auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Pet Shop Boys

mehrmals miterleben konnten, wie einst verpönte Stile – befreit von ihrem Kontext und jeglichen Hipster-Dünkeleien – Jahre später bei

einer jüngeren Generation zum ‘latest craze“ avancierten. Electroclash und Italo-House sind da nur aktuelle Beispiele. Auch wenn die

Aussicht, dass demzufolge in zwanzig Jahren eher Tomcraft seine Retro-Auferstehung feiern müsste als aktuelle Nischen-Helden wie

beispielsweise Ewan Pearson oder Maurice Fulton, natürlich nicht jedem schmeckt. ‘Das, womit viele Leute Spaß haben, gilt meistens

als uncool“, kommentierte Chris kürzlich ganz nüchtern. Und doch würde es nicht wundern, wenn die Pet Shop Boys demnächst mit einem

schicken Schaffel-Remix um die Ecke kämen – auch wenn Chris derzeit noch der Überzeugung ist, dass Schaffel für die Pet Shop Boys

eigentlich einen Tick zu ‘lustig“ ist. ‘Obwohl“, lacht er, ‘ich könnte dazu auf und ab hüpfen!“




THANKS VERY MUCH




Zurück in der Musikhalle, bei der reichlich steifen ‘World Awards“-Gala: Neil und Chris bekommen von Michail Gorbatschow ihren

‘Arts Award“ überreicht – einen unförmigen Klumpen Mensch in Denkerpose. Neil bemüht sich in seiner Dankesrede, Ungläubigkeit

darüber auszudrücken, dass sie überhaupt mit einem Preis bedacht werden. ‘Wir haben doch nur Popmusik gemacht, schöne Klamotten

getragen und viel Spaß gehabt“, tiefstapelt er vor dem mit Karl Lagerfeld und Kylie Minogue prominent besetzten Publikum.


Die Bescheidenheit verfliegt allerdings kurz darauf, als er und Chris den Anlass nutzen, ihre neue Single ‘Miracles“ vorzustellen.

Neil trägt die Beute seiner Shoppingtour, einen dunklen Anzug, man munkelt, es sei Dior Homme, Chris hat lediglich sein Oberteil

gewechselt, gegen einen Kapuzensweater mit dem Slogan ‘Make Love, Not War“. Die Musikhalle erbebt zu sattem House-Stampf, fein

perlenden Sequenzer-Kaskaden, melodramatischen Disco-Streichern und Neils gewohnt routiniertem Vollplayback.


Vielleicht kommt den beiden die ganze Veranstaltung nachher doch wieder etwas dubios vor, vielleicht haben sie einfach keine Lust

auf ein Bad im celebrityhungrigen Mob vor der Halle, möglicherweise wollen sie auch nur so schnell wie möglich in einen Club, um

dem DJ ihre neue Single in die Hand zu drücken: Nach einem letzten, bemühten Grinsen im Blitzlichtgewitter für das Preiträger-Gruppenfoto

verschwinden die Pet Shop Boys unbemerkt durch den Hinterausgang. In die Nacht.

Taken from: Groove Magazin
Interviewer: Jan Kedves