Die Pet Shop Boys spielen plötzlich in der Oper

Sie waren die Popkids, sie kannten die Pophits: Erst haben die Pet Shop Boys die Hymne des Sommers geschaffen. Jetzt spielen sie sogar in Londons Allerheiligstem: Ein Besuch im Royal Opera House.

Die Pet Shop Boys nennen es “Inter Sanctum”, ihr Programm im Royal Opera House. Das Allerheiligste könnte die Bühne sein. Ein Schaukasten, in dem Neil Tennant und Chris Lowe in laserstrahlenumkränzten Kapseln kauern, die mal aussehen wie Pfirsiche aus der Provence, wie Überwachungskameras aus Thüringen oder wie sorbische Ostereier.

Dieses Allerheiligste könnte auch die königliche Oper sein. Das Haus, in dem die britische Gesellschaft sich selbst nachgebaut hat, mit einem Parkett für die gehobenen Stände, mit den Logen für den Adel und einem Amphitheater unterm Dach fürs Volk. Die Pet Shop Boys sind ihrerseits eine Instanz der hohen britischen Kultur, nun ist es amtlich. Da könnte das Allerheiligste auch Großbritannien, England oder London sein. Im Werk der Pet Shop Boys scheint sich alles, was man sehen will, zu spiegeln.

Wenn sie ihr Lied “Home and Dry” anstimmen, irren Tänzer durch die Dunkelheit, die Laser werden zum Laternenlicht gedimmt, jemand setzt einen Notruf ab. Im Kopf sieht man das Video von Wolfgang Tillmans. Es zeigt, wo die Stadtmäuse von London wohnen, in den U-Bahn-Gleisen, Überlebende des Undergrounds.

Die EU, eine alte Freundin

Tillmans hatte Deutschland mit dem Mauerfall verlassen, um in London Fotograf zu werden und die freie Popkultur der Neunziger- und Nullerjahre abzubilden. Als das Referendum um den Brexit anstand, wurde Tillmans politisch. Er entwarf Plakate für Europa, 44 Botschaften wie “No one is an Island” und “We are the european family”. Geholfen hat es wenig. Wenn schon die coolen Briten lieber unter sich sein wollen und identitären Trotteln hinterherdackeln, dann gute Nacht.

“The Pop Kids” ist die Hymne dieses Sommers. In der Oper stimmt Neil Tennant sie gleich zweimal an, als drittes Lied nach “West End Girls” und “Inner Sanctum”, und am Ende als Reprise: Wir waren die Popkids, wir kannten die Pophits.

Auch ins Deutsche übersetzt ist der Refrain gar nicht so albern. Die Generation Globalisierung singt über die Zeit vor 25 Jahren: “We where so sophisticated/ Telling everyone we knew that rock was overrated.” Nicht nur Rockmusik, auch die EU wurde für überschätzt und lächerlich gehalten in ihrem Bemühen, alles zu normieren, vom schottischen Schafsmagen bis hin zum Lagerbier aus Bournemouth. Seit Europa echte Feinde hat, lieben die Popkids die EU wie eine alte Freundin.

Nun ist dieses Wir der Pet Shop Boys ein lyrisches wie immer. Sie sind eher im besten Brexit-Alter. Sie waren schon im Geschäft, bevor die Welt nach 1989 größer und gleichzeitig kleiner wurde. Aber sie sind immer noch die väterlichen Freunde aller Popkids und erklären nonchalant wie immer schon, dass Pop, wenn man ihn richtig, in Versalien, schreibt, politisch ist.

Britishness und Englishness

Pop ist für alle da. Bereits vor 15 Jahren sangen sie in “London” von den Männern, die aus Osteuropa einwandern und kriminell werden, wenn man sie abweist. “London” wird am Abend in der Oper nicht gespielt. Die Männer aus dem Osten machten nämlich Läden auf, gründeten Start-ups oder wurden Klempner, um die alte Inseltradition tropfender Wasserhähne und verstopfter Abflüsse zu überwinden. Jetzt sollen sie wieder heimkehren nach Osteuropa.

An der Brexit-Front ist nach wie vor von Britishness und noch lieber von Englishness die Rede. Britishness und Englishness verkörpern wiederum die Pet Shop Boys aufs Feierlichste. In der Etikette konservierte Euphorie, im Ungerührtsein gut gehütete Gefühle, in Humor gezähmte Anarchie. So wurde London mal zum Sehnsuchtsort der Europäer und der Popkultur.

Die gerade freundlich durch Europa reisende Premierministerin Theresa May scheint einiges zu haben von den Pet Shop Boys und ihrer Englishness – die ja auch wir immer gemeint haben und deretwegen uns der Brexit mehr erschreckt als unsere eigene AfD.

Eine Bühne voller Ameisen-Wutbürger

In ihrem “Singspiel”, wie die Pet Shop Boys ihr “Inner Sanctum” nennen, kann man, wie gesagt, so ziemlich alles sehen, was der Schnürboden, die Laser und die Videoprojektionen hergeben. Viel euroblaues Licht, darin kreisen auch goldene Sterne, während “Se A Vida É” gesungen und getanzt wird, Europop von 1996. “The Dictator Decides” warnt 20 Jahre später vor den rechten Autokraten unserer Zeit mit Ameisen als Wutbürger im Bühnenbild.

Auch “Twenty-something” ist eine Generationenhymne, aufgenommen für ihr aktuelles Album “Super”. Darin geht es um die jüngere Jugend, um die Kids der Popkids: “Take your smartphone/ Make your way home/ By your own.” Das Video handelt von Latinos in San Diego; in der Londoner Oper handelt “Twenty-something” selbstverständlich von der einheimischen Jugend, die den Alten vorwirft, mit dem Brexit ihre Zukunft ruiniert zu haben – sie hätte ja auch gern abgestimmt, wären sie nicht erst draußen auf dem Primrose Hill und dann im Club gewesen.

Auf der Single, die zum Brexit und zur Euro-Opera erschienen ist, singen die Pet Shop Boys sogar ein Lied, das “Wiedersehen” heißt. Eigentlich dreht es sich um Stefan Zweig und seinen Freitod 1942, als der lebensmüde Schriftsteller in Salzburg von Europa, seiner untergehenden “geistigen Heimat”, Abschied nahm, wie er der Welt in einer letzten Botschaft kundtat. Traurig, dass daraus ein Lied für das Vereinte Königreich geworden sei, im Sommer von 2016, twitterte Neil Tennant. Er singt deutsch im Kehrreim: “Wiedersehen/ Auf Wiedersehen/ Wie wir gehen.” Europa ist das Allerheiligste.

Aus: Die Welt
Von: Michael Pilz