Coming Out – Neil Tennant Schamlos ehrlich

Zweifellos waren die Pet Shop Boys während


der letzten zehn Jahre ein wichtiger Bestandteil


der schwulen Kultur. In ihren Texten waren die Andeutungen


immer schon vorhanden – doch man mußte zwischen den


Zeilen lesen. Jetzt ist Neil Tennant zum ersten Male bereit


in einem Interview offen über sein Schwulsein zu reden.




Im April 1984 veröffentlichten die Pet Shop Boys ihre erste Single, veränderten damit den Soundtrack zum Leben

der schwulen 80er, veränderten seine Ausrichtung und sein Tempo. Die Urfassung von ‘West End girls’ wurde zum Club-Hit

an der amerikanischen Westcoast und war ein kleinerer Erfolg in Frankreich und Belgien. Kaum ein Jahr später mit

Stephen Hague am Mischpult neu aufgenommen, hatte der Song schon Anfang 1986 in Großbritannien und acht weiteren

Ländern in der ganzen Welt Platz 1 der Hitparaden erreicht. Die Pet Shop Boys waren da! Sie taten außerdem etwas

Undenkbares: Sie kombinierten den euphorischen Sound schwuler Discomusik mit Texten, die sehr ernsthaft klangen. Vor den

Pet Shop Boys waren Discotitel für die Geistlosigkeit ihrer Texte berühmt. In vielen Fällen ergaben die Worte

wenig mehr als das verbale Echo des alles bestimmenden Beats. Auch den Pet Shop Boys war der Beat wichtig, sie waren jedoch

nicht bereit, ihm alles zu opfern. Selbst heute fällt es einem schwer, sich vorzustellen, wie Neil Tennant sich

ganz einem typischen Discohit wie ‘Oh love to love you Baby’ hingibt. Dies wäre viel zu leidenschaftlich. Die Pet Shop Boys

mögen ja Platten gemacht haben, die die Leidenschaft besangen (‘I don´t like much really, do I?, verkündete

Chris Lowe unbewegt auf ‘Paninaro’, ‘But what I do love, I love passionately’), doch sie waren nie besonders stark darin,

Leidenschaft durch Lieder auszudrücken. Andererseits ist ein Text wie ‘Oh love to love you Baby’ sehr Pet Shop Boys-untypisch,

weil er zu eindeutig ist. Eindeutig ist aber ein Wort, das man normalerweise nicht mit Tennant und Chris Lowe assoziiert.

Trotz Tennants berühmter Behauptung, dass ihre Musik eine Verbindung von Tanzmusik und ‘traditionellem Songwriting’ ist,

mit Texten, die interessant sind und persönliche Statements ausdrücken, war der Anteil der Statements nie besonders

ausgeprägt. Wirklich ironisch ist dabei, dass die Pet Shop Boys es trotzdem irgendwie geschafft haben, ihre Karriere

rings um die Ängste, die Frustrationen und (nur manchmal) die Freuden, die das mit sich bringt, jung (na ja), begabt und

schwul zu sein, aufzubauen, ohne je in Diskussionen hineingezogen worden zu sein, in denen der Begriff überhaupt nur

auftaucht.


‘Natürlich werden die Leute sich unsere Lieder anhören und Dinge in sie hineinlesen’, sagte Neil einmal. Offensichtlich –

doch er behauptete auch, dass er und Chris ‘sowieso vollkommen mißverstanden werden’. Sich weigernd, Klarheit zu schaffen,

beharrte er darauf, dass es einen Unterschied gab zwischen dem, was er und sein musikalischer Partner privat taten, und dem,

was sie öffentlich zu sagen bereit waren. ‘Wir haben mit der Presse nie über unser Sexleben gesprochen’, erklärte

er dem ‘New Musical Express’ 1986. ‘Und wir haben dies auch nicht vor.’


Bis heute haben sie sich daran gehalten. Bis heute. Heute hat Neil Tennant mir etwas mitzuteilen. Oder jedenfalls ist dieser

Eindruck bei mir erzeugt worden. Der schwule Flurfunk tuschelt nämlich, dass die vokale Hälfte der Pet Shop Boys

sich entschlossen hat, über Privates zu sprechen – also habe ich natürlich nach einer Möglichkeit gesucht,

ihn eben dies tun zu lassen. Das einzige Problem dabei ist, dass in allen Gesprächen zur Vorbereitung dieses Interviews

keiner tatsächlich diesen Punkt je angesprochen hat. Weder ich noch mein Redakteur, noch nicht einmal der Pressechef der

Pet Shop Boys, der vorschlug, dass wir uns 20 Minuten vor Neils Eintreffen sehen sollten. Ich erwartete Instruktionen wie:

‘Schau mal, Neil hat lange überlegt, ob er dieses Interview geben soll, also respektiere bitte seine Gefühle und sei

bitte, bitte freundlich zu ihm.’ Stattdessen hatten wir ein freundliches Geplauder über das Leben und die Medien im

allgemeinen und über nichts wirklich Besonderes.



Ich verweigerte mich der Vorstellung


für irgend jemanden ein positives Vorbild


abzugeben. Ich finde das persönlich eine


ziemlich arrogante Sicht der eigenen Person



Und so sitzen Neil und ich uns gegenüber, 45 Minuten von meiner verabredeten zwei-Stunden-Interviewzeit sind schon vertan,

und die große Frage ist immer noch nicht gestellt. Wir haben stattdessen über viele eher öffendliche Dinge geredet,

etwa, warum die Pet Shop Boys sich entschieden, ein Benefizalbum herauszubringen. Wir redeten auch über den Beitrag der

Pet Shop Boys für das neue Album von Kylie Minogue. ‘Oh ja, das legendäre Kylie-Album. Na ja wir mussten

natürlich einfach mal mit Kylie arbeiten, einfach weil sie so ein Markenzeichen geworden ist: KYLIE! Sie hat es wirklich

geschafft.’ Einfach mit ihrem Namen. Weil Kylie so ein modernes Mädchen ist, sind Neil und ich der Sache schon ein paar

Mal ganz nah gewesen. Zum Beispiel sprachen wir über Kylies schwules Publikum und die Möglichkeiten populärer

zu werden, ohne den harten Kern der Fans vor den Kopf zu stoßen. ‘Ich glaube, es ist nicht leicht, Kylie zu sein’,

bemerkt Neil, worauf meine naheliegende Reaktion war: ‘Und ist es schwierig Neil Tennant zu sein?’ – ‘Inwiefern?’ war seine

vorsichtige Nachfrage. Von wegen mißverstanden werden! Und weiter: ‘Manchmal, obwohl ich lerne, nichts darauf zu geben.

Offensichtlich ist es unser Versagen, dass die Leute den Eindruck haben, dass das was wir tun, alles nur ein

komplizierter Scherz ist.’ Nachdem er somit deutlich gemacht hat, dass es wohl mein Versagen ist, wenn ich Neil Tennant

noch keine Möglichkeit gegeben habe, etwaige Zweifel, ob oder ob er nicht schwul sei, auszuräumen, rette ich mich in

eine sehr lange, sehr elaborierte Frage darüber, wie er die Reaktion der schwulen Presse auf die Pet Shop Boys sieht,

gebe meinen Eindruck wieder, dass ihr erstes Album ‘Please’ einiges mit dem ‘Smalltown-Boy-Album’ von Bronski Beat gemein

hat, und frage, was er von Jimmy Somervilles vielzitierter Anschuldigung hält, dass Chris Lowe und er die

schwule Kultur nur für eigene Karrierezwecke missbrauchten, ohne etwas zurückzugeben.


Neil Tennant atmet tief durch. ‘Die Sache ist’, sagt er, und setzt sich auf dem Sofa zurecht, ‘dass wir vom ‘New Musical Express’

darauf ein bisschen festgenagelt wurden. Sie machten ein Interview mit uns und quatschten dauernd nur über Goldhamster.

Sie fragten uns nicht mal offen: ‘Seid ihr schwul?’ Und dann wurde Jimmy Somerville überall zitiert, der uns fertig machte,

wir würden zu unserem Schwulsein nicht stehen. Ich fand das ziemlich arrogant von ihm. Er glaubte das Recht zu haben,

über uns in dieser Weise zu sprechen, und dass seine Ansichten zu diesem Thema wichtiger seien als unsere. Seine

Ansicht ist, dass es, wenn man Popstar ist, nur darum geht, ein positives Rollenmodell abzugeben. Ich verweigerte mich der

Vorstellung, für irgend jemanden ein positives Vorbild abzugeben. Ich finde das persönlich eine ziemlich arrogante

Sicht der eigenen Person.’ Er hält einen Moment inne, vielleicht weil er merkt, dass diese Argumentation sich gut eignet,

alte Wunden wieder aufzureißen. ‘Als Bronski Beat auftauchte, war ich noch Redaktionsassistent bei ‘Smash Hits’. Ich liebte

ihre ersten Platten. Ich liebte die Tatsache, dass sie schwul waren und so offen damit umgingen. Darum ging es ja in allem,

was sie taten. Jimmy Somerville war eher ein Politiker, der das Medium der Popmusik dazu nutzte, seine Message zu transportieren.

Die Pet Shop Boys wollen einfach nur fantastische Platten machen. Wir zogen nicht aus, Politiker zu sein oder positive Vorbilder.

Indem wir dies deutlich machten, haben wir den Kampf für schwule Rechte auch unterstützt’.


Hier erinnert er daran, dass die Pet Shop Boys die einzige Gruppe waren, die bei ‘Before the Act’ gespielt hat, einer

Benefizveranstaltung für den Kampf gegen den Paragraphen ‘Clause 28’. ‘Darüber hinaus’, fährt er fort, ‘denke ich,

dass wir durch unsere Musik, aber auch durch unsere Videos und die Art, wie wir Dinge generell darstellen, ziemlich viel zu

dem beigetragen haben, was man ‘schwule Kultur’ nennen könnte. Der Grund dafür ist einfach, dass ich Lieder von

unserem eigenen Standpunkt aus geschrieben habe…’


Wieder legt er eine Pause ein. ‘Was ich damit sagen will, ist dass ich schwul bin und dass ich Lieder von dieser

Position aus geschrieben habe. So, ich glaube, dass ich hier mit Dir ganz überraschend offen und aufrichtig bin,

doch das sind einfach Tatsachen.’


Nachdem er das endlich alles losgeworden ist, schenkt Neil Tennant sich ein Glas Mineralwasser ein und zieht sein Sweatshirt aus.

Sein Gesicht ist deutlich rosiger geworden.



Ich denke, dass wir durch unsere Musik


aber auch durch unsere Videos und die Art,


wie wir Dinge generell darstellen,


ziemlich viel zu dem beigetragen haben,


was man ‘schwule Kultur’ nennen könnte.



Vielleicht, weil er eben zugegeben hat, dass er all die Jahre lang nichts als die Wahrheit gesungen hat. Es könnte auch

einfach die schier unerträgliche Hitze im Raum sein. ‘Also’, sagt er, mit einer deutlichen Nur-schnell-weiter-Stimme, ‘was

ist die nächste Frage?’


Die Frage, die sich angesichts der Pet Shop Boys jeder andauernd stellt, ist: Meinen sie das alles ernst? Was normalerweise bedeuten

soll: Kann ein so offensichtliches Zurschaustellen ‘Campiger’ Ironie auch nur im entferntesten aufrichtig sein? ‘Ja’, ist Neil Tennants

prompte Antwort, obwohl es natürlich längst nicht so einfach ist. ‘Viele Leute meinen, dass mir das, worüber ich singe, nicht wichtig sei’,

sagt er traurig. ‘Ich nehme an, dass das an der Art meines Singens liegt. Alles erhält dadurch so etwas Distanziertes. Dabei stimmt das

für mich persönlich nicht. Ich persönlich denke, dass meine Stimme voller Ausdruck ist. Zumindest höre ich sie so. Ich weiß aber,

dass andere Leute sie als diese coole, distanzierte Stimme hören und deshalb wohl annehmen, dass sie ironisch sein soll. Doch es ist

einfach der Gesangstil. den ich mag, und außerdem ist das alles, was ich kann. Ich kann nicht so singen wie Jocelyn Brown. Jemand

fragte mich mal, warum Leute wie ich oder Bernard Sumner so singen, warum wir nicht mehr vokale Kunststückchen lieferten. Ich sagte: ‘Also,

einfach weil wir nicht gut genug sind.’ Wir können es nicht, fürchte ich. Ich würde gern in der Lage sein, doch ich kann es einfach nicht.

Allerdings formen die Grenzen deiner Möglichkeiten ja letztlich auch deinen Stil. In der Popmusik wird Stil oft durch das bestimmt, was jemand

nicht kann. Deshalb sind Beschränkungen so wichtig und deshalb ist Popmusik für vollendete Musiker so schwierig. Sie haben keinen Stil,

weil sie keine Beschränkungen kennen. Und so spielen sie schließlich Jazz.’


Neil Tennants leidenschaftliche Verteidigung der Popmusik ist bekannt, genauso wie seine Tendenz, defensiv zu reagieren, wenn jemand

andeutet, dass das, was er als Ausdruck tiefer Gefühle ansieht, von anderen Menschen als Stilübung in übermäßigem ‘Camp’ empfunden

werden könnte. ‘Ich sehe uns nie als typisch camp an’, sagt er. ‘Dabei ist die Vorstellung, dass die Pet Shop Boys eine Aufnahme

mit Liza Minelli machen, vielleicht an sich schon Camp. Hin und wieder machen wir sehr dramatische Dinge, in etwa den Anfang von ‘Left

to my own devices’, der wahrscheinlich ziemlich campy ist. Die Liza-Platte nimmt dagegen niemanden auf den Arm. Das ist eine

völlig aufrichtige Platte. Camp ist naiv. Wirklicher Camp glaubt 100prozentig an sich selbst.’


Neil Tennant wurde in Newcastle geboren, wo er auch aufwuchs. Seine Eltern erzogen ihn zum Katholiken, und ab dem 11. Lebensjahr

besuchte er die St. Cuthberts Catholic Grammar-School. Jahre später faßte er seine Gefühle über seine Schuljahre in einem Lied

mit dem Titel ‘This must be the place I waited years to leave’ zusammen. ‘Ich haßte vor allem die Religion’, sagte er jetzt.

‘Diese kleinliche Disziplin. Und es war eine sehr sportliche Schule. Diesen Aspekt haßte ich definitiv. Doch das hat mich zu dem gemacht,

was ich bin. Es ließ mich denken: Okay, ihr werdet alle langweilige Mittelklasse-Leben haben, und ich werde ein Superstar sein!

Es hat gezeigt, was ich in keinem Fall werden wollte.’ Seine Gefühle für den Katholizismus waren dagegen nie so deutlich definiert.

‘Als Junge wollte ich immer Priester werden. Da ich ich war, wollte ich natürlich Papst sein. Ich dachte mir: Wenn Du Dich schon

darauf einlässt, dann kannst Du auch gleich die Nummer eins sein. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich die Schule fertig machen

sollte, und wenn ich dann immer noch Priester werden wolle, wären sie einverstanden. Als ich dann 18 war, wollte ich natürlich

kein Priester mehr werden.



Ich musste da eine Wendeltreppe hinauf


und trug Frauenschuhe mit zehn Zentimeter


hohen Keilabsätzen.


Ich konnte kaum gehen. Die Haare hatte ich


ganz kurz geschnitten und rot gefärbt.


Ich bekam den Job trotzdem.



Ich habe aufgehört an das alles zu glauben, als ich etwa 16 war. Ich glaube, das ist genau das Alter dafür. Da kommt es zu einem

Wettbewerb zwischen Religion und Sex. Die Kirche erzählt dir, dass Masturbation falsch ist. Doch natürlich kannst Du in dem Alter

nicht darauf verzichten, also mußt du dich entscheiden. Die Kirche verliert dabei unweigerlich.’


Als er die 11. Klasse erreichte, hatte der wichsende Möchtegern-Superstar längst das Interesse für die Schule verloren und hing lieber

mit gleichgesinnten Freunden in der Stadt herum. Zur selben Zeit fantasierte er auch zum ersten mal, wie e wäre, nach London abzuhauen.

‘Ich ging dauernd zur Newcastle Central Station und sah samstags abends um elf den Zügen nach, die ausfuhren, und mahlte mir aus, wie

ich in einen Zug steigen würde und viereinhalb Stunden später in London sein könnte. Das klingt alles wunderbar romantisch, ich weiß.

Doch ich hatte damals eine sehr eskapistische Sicht der Dinge. In gewisser Weise habe ich das immer noch. Ich renne noch ziemlich

viel davon, wirklich.’


1972 schaffte er es endlich bis in die Hauptstadt. Er studierte Geschichte an der North London Polytechnic und arbeitete im British

Museum, um sich seinen Urlaub zu finanzieren. ‘Ich erinnere mich noch, wie ich zu dem Vorstellungsgespräch ging’, sagt er lachend.

‘Ich mußte da eine Wendeltreppe hinauf und trug Frauenschuhe mit 10 cm hohen Keilabsätzen. Ich konnte kaum gehen. Die Haare hatte

ich ganz kurz geschnitten und rot gefärbt. Ich bekam den Job trotzdem. Aus irgendeinem Grund mochten sie mich. Das British Museum

ist ein sehr seltsamer Ort. Da passiert immer ziemlich viel hinter den Regalen.’


Mit seinem guten Abschluß bekam er sofort einen Job als Londoner Herausgeber von Marvel Comics, wo sein erster Auftrag ein Interview

mit Marc Bolan war. ‘Ich arbeitete dann ein paar Jahre im Buchgeschäft, kam dann zu ‘Smash Hits’, und dann kamen die Pet Shop Boys.

Man könnte also sagen, dass es nie langweilig war.’


Es gehört zu Neil Tennants Gewohnheiten, Bruchstücke seiner Liedtexte in seine Unterhaltung einzubauen. Im Lauf unseres

Gesprächs schaffte er es, ziemlich lange Zitate aus mindestens sechs jener Lieder zu zitieren, die ich erwähnte. Vielleicht

ist dies ein Zeichen des vollkommenden Fehlens jeglicher Prätention: Er ging wirklich nicht davon aus, dass ich die Texte kennen könnte.

Vielleicht kann er aber auch – trotz der Tatsache, dass er sehr darauf besteht, alles andere als ein cleverer Popstratege zu sein –

keiner Möglichkeit widerstehen, der Welt zu zeigen, wie clever er wirklich ist. ‘Dabei sind meine Lieblingssongs gar nicht die, die

besonders clever klingen’, berichtigt er mich. ‘Es sind eher die, in denen es mir gelingt, das rüberzubringen, was ich sagen will,

aber in Worten, die so einfach sind, dass die Leute sie nicht mal richtig wahrnehmen.’



Ich wollte nie ein Teil dieser abgeschlossenen


schwulen Welt werden. Ich weiß,


dass viele Leute es nicht mögen werden


wenn ich sowas sage. Doch wenn Leute


zum Beispiel von ‘gay community’


sprechen, was meinen sie dann damit?



Wir redeten gerade über seine Erziehung, als Neil Tennant das Außergewöhnlichste sagte. Sich daran erinnernd, wie er mal vor den

Schulleiter zitiert wurde, weil er so oft fehlte, schaute er ins Ferne und sagte mir: ‘Eines Tages rief er mich in sein Büro und

sagte mir: ‘Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, Tennant. Sie sind ein Weichling, oder? Sie mögen die schulische Disziplin nicht.’

Ich sagte nur: ‘Ja, Vater, nein, Vater’, und dachte mir: Was meint er nur damit? Dabei wußte ich genau, was er meinte. Ich nehme

an, dass ich schon damals eine klassische Tunte war.’


Er sprach diesen Satz mit einer solchen lockeren Beiläufigkeit aus, dass es unglaublich erschien, dass ich eben mit Neil Tennant sprach.

Neil Tennant, der einem nachhakenden Journalisten mal gesagt hatte, dass überhaupt nicht zähle, wie er sich sexuell definiere,

weil ‘nur die Lieder zählen’. Neil Tennant, der mit seiner Homosexualität in seinen Liedern am liebsten so umging, dass er sie auf

Nuancen und Assoziationen reduzierte. Neil Tennant, in dessen Texten die Romantik schwulen Verlangens immer gegen die Schande

schwuler Verfehlung steht (‘it’s a… it’s a… it’s a sin!’). Neil Tennant, der so viele Jahre brauchte, ehe er offen sein und

über das reden konnte, was er privat tut, beichtet, dass er sich nicht sicher ist, ob er öffentlich als ‘klassische Tunte’ bekannt sein

will, ja, ob er überhaupt als irgendwas öffentlich bekannt sein will.


‘Ich kannte eine Menge schwuler Leute, als ich in Newcastle aufwuchs’, erzählt er mir, als ich nach ein paar sexuellen Einzelheiten

forsche. ‘Das waren die frühen 70er, und alles war ziemlich dekadent, Darling, weißt du, mit David Bowie, der ganz androgyn war,

und ‘Cabaret’ und so… Ich ging damals mit Mädchen aus und wollte irgendwie nicht schwul sein. Das, was ich vom schwulen Lebensstil sah,

mochte ich nicht, und ich wollte bestimmt kein Teil davon werden. Dann, in den 80ern, kapierte ich, dass ich wahrscheinlich doch

schwul war. Ich meine, inzwischen wusste ich, worauf ich stand. Doch ich hatte bis vor drei oder vier Jahren keine wirkliche Affäre

mit jemandem. Während eines Großteils der 80er Jahre war ich wohl nicht wirklich im Zölibat, aber kurz davor.’


Selbst heute sagt er, dass er jeden hassen könnte, der unterstellt, dass seine Indentität durch seine Sexualität bestimmt sei. ‘Ich

wollte nie ein Teil dieser abgeschlossenen schwulen Welt werden. Ich weiß, dass viele Leute es nicht mögen werden, wenn ich sowas sage.

Doch wenn Leute zum Beispiel von ‘gay community’ sprechen, was meinen sie dann damit? Es gibt eine Interessengemeinschaft, vor allem,

was Gesundheitsthemen angeht, doch daneben – was ist da wirklich? Da gibt es Nachtclubs, Musik, Drogen, Shopping. Okay, tut mir leid,

aber so definiere ich mich nicht. Ich will zu keiner engen Gruppe gehören, in kein Ghetto. Und ich denke, dass viele Schwule, wenn sie

ehrlich wären, sagen würden, dass es ihnen genauso geht.


Nach seinen Diskurs über das Sichdefinieren durch das, was man nicht sein möchte, über das Wegrennen, über die Nahkämpfe um ein Gefühl

der Zugehörigkeit, denke ich mir, dass die gay community genau der Ort sein muß, den Neil Tennant jahrelang erreichen wollte.

Erst dann entdeckte er, dass er wirklich raus wollte, doch zu seiner tiefen Frustration mußte er feststellen, dass er nicht konnte.

dass die Leute es ihm nicht erlaubten. ‘Ich habe immer vertreten, dass meine Entscheidung, meine Texte allgemeingültig zu halten,

richtig war’, protestiert er. Um dann, fast als würde er laut vor sich hindenken, hinzuzufügen: ‘Wenn ich Selbstgespräche führen

würde, würde ich jetzt wohl sagen: Das klingt wie ein ziemlich kompletter Rückzieher, Neil.’


‘Ja, ich denke, das ist es’, sagt er bedrückt. ‘Aber es kommt doch trotzdem rüber, oder?’



Wie viele Leute bin ich den Pet Shop Boys 1986 zum ersten Mal begegnet. Ich war im ‘Heaven’ und beobachtete einen Jungen in einer engen

weißen Jacke, der zu ‘Opportunities’ tanzte. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass etwas unbestimmt Sexuelles in diesem Lied liegt.

Im Video hängt Neil, angezogen wie ein feiner Pinkel, in einer Autowerkstatt herum und versucht einen sehr mürrischen Chris zu einer

Reaktion zu bringen: ‘Ich hab’ das Hirn, du hast das Aussehen, laß uns eine Menge Geld verdienen!’


Im Grunde ist es ein Lied darüber, wie man jemanden hereinlegt. Und es hat immer mehr als eine Möglichkeit gegeben, das zu

interpretieren.


Und dann waren da die langsamen Songs, die Songs zum Heulen, die Songs über das Ausgehen, die Suche nach Liebe und über Enttäuschungen.

‘Dieser Junge hat nicht einmal in deine Richtung gesehen’, bemerkt Neil in ‘Later tonight’. Ich denke, was er wirklich sagen wollte,

war: ‘Dieser Junge hat nicht einmal in meine Richtung gesehen.’ Aber egal. Wie er schon sagte: Es kommt ja trotzdem rüber.


Auch in späteren Texten ‘kommt es rüber’: ‘Ich liebe dich, du zahlst meine Miete’, ‘dein Leben ist ein Geheimnis, meines ein offenes

Buch’, ‘mir selbst überlassen, würde ich wahrscheinlich…’ Egal, ob sie so gelesen werden sollen – die Pet Shop Boys haben dem

Rhythmus schwulen Großstadtlebens einen Disco-Beat unterlegt und blieben dabei immer in Kontakt mit den sich verändernden Stimmungen

der Zeit. Wenn ‘Please’ von dem Wunsch nach einem Lover und spätem Weggehen handelte, war ‘Actually’ darüber, wie man aufwacht und

einkaufen geht, und ‘Introspective’ war über den Wunsch nach einem Hund und einem, na ja, eben introspektiven Gefühl. Als die 80er

dann mit ‘Behaviour’ endeten, schrieben Tennant und Lowe Lieder über das Zuhausebleiben, darüber, wie man das Rauchen aufgibt (‘Weil

es tödlich ist’), und den Umgang mit der Belastung der Monogamie.


Und die Last des Verlustes. Die Pet Shop Boys starteten genau in dem Moment, als Aids in England zum ersten Mal Schlagzeilen machte.

Ein Jahr später vertraute einer seiner engsten Freunde Neil Tennant an, dass vor kurzem bei ihm Aids diagnostiziert worden war.

Sie hatten einander schon gekannt, seit sie 15 waren. ‘1986 war es noch ziemlich schockierend, jemanden zu kennen, der Aids hatte’,

erinnert Neil sich. Er drückte seine Gefühle in einem Lied des Albums ‘Actually’ aus, ‘It couldn’t happen here’, und ging in den

nächsten drei Jahren regelmäßig zu Besuchen ins St. Mary Krankenhaus. Als sein Freund 1989 starb, schrieb er ein Lied über die

Beerdigung. ‘Your funny uncle’ beschreibt die Spannungen, die entstehen, wenn Familie und Freunde eines schwulen Mannes sich zum

letzten Geleit das erste Mal treffen. Es war die Rückseite zu ‘It’s alright’, der Coverversion eines Sterling-Void-Titel, dessen

Text dauernd beteuert, dass alles in Ordnung kommen wird, einfach weil das ‘die Musik für immer spielen wird’.


Tatsächlich ist das alles nicht annähernd so durchgeknallt, wie es klingt. 1987 hatte Tennant in einer Nummer mit dem Titel

‘Hit music’ laut über die sich verändernde Funktion der Musik in einer Welt mit Aids nachgedacht. ‘Das Lied handelt davon, was

passiert, wenn du den Sex aus der Tanzmusik abziehst’, erklärt er. ‘Zu was wird die Musik dann? Sie wird zu einer Art Isolator,

einer Art Schutz, zu einem Trost.’ Für den Fall, dass jemand gemeint haben könnte, er ginge zu leichtfertig mit diesem Thema um,

brachen die unterdrückten Ängste ein Jahr später in ‘Domino dancing’ durch, wo er über das Tanzen mit seiner Wut singt und mit

‘Watching them all fall down’ noch ein Stück weiter ging. ‘Allein in diesem Jahr sind drei meiner Bekannten an Aids gestorben.

Das ist eine Menge. Ich werde deshalb immer wütend, wenn Leute darüber schwätzen, dass Aids eine ‘Modekrankheit’ sei. Ich meine,

ich kenne schließlich keine drei Leute, die an Herzversagen gestorben sind, oder an Multipler Sklerose. Das sind immer meine

Hintergrundgedanken. Nein, eigentlich steht es immer im Vordergrund meiner Gedanken.’


Nachdem sie 10 Jahre überstanden haben, indem sie auf ihre Sprache achtgegeben und sich grüblerisch gefühlt haben, beendeten die

Pet Shop Boys das Jahr 1993 mit dem, was viele Leute – ich auch – als ihr offenstes schwules musikalisches Statement sahen.

Neil Tennant wehrt meinen Vorschlag ab, ‘Very’ sei eine Abweichung von den vorherigen Alben, ja, dass es das eigentliche

Coming-Out-Album der Pet Shop Boys darstelle. ‘Du musst immer bedenken’, sagt er geduldig, ‘dass alle unsere Alben Lieder aus

12 Jahren beinhalten. ‘To speak is a sin’, das auf diesem Album ist, wurde 1983 geschrieben. Wenn es einen Unterschied zwischen

diesem und den anderen Alben gibt, dann einfach, dass ‘Very’ von einer Position aus geschrieben wurde, in der ich verliebt war.

Es ist das Tagebuch einer Beziehung. Doch das ist der einzig bezeichnende Unterschied. Auf dem letzten Album war ein Lied mit dem

Titel ‘Nervously’, das hatte ich 1981 geschrieben, schon bevor ich überhaupt Chris Lowe getroffen hatte. Es handelt von zwei

Leuten – Entschuldigung, von zwei Jungen oder zwei Männern oder was auch immer -, die sich zum ersten Mal treffen. Und einige

der Lieder auf ‘Please’ sind genauso schwul wie alles andere seitdem auch. Deshalb glaube ich nicht, dass es wirklich wahr ist,

wenn man behauptet, dass in diesen Punkten ein radikaler Fortschritt stattgefunden hat. ‘Vielleicht ja nicht – doch die

Entscheidung, ein bestimmtes Lied zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzunehmen, ist sicher nicht zufällig. Schließlich wird erst

in diesem Moment das, was bisher ein privater Gedanke war, zum öffentlichen Ausdruck. Und während die diskrete Codierung

vorheriger Alben es dem Hetero-Hörer erlaubte, den ‘Punkt’ zu umgehen und die anderen zu beschuldigen. ‘Dinge hineinzulesen’,

kann nur ein vollkommener und unverbesserlicher Vollidiot den Text von ‘Very’ mißverstehen. Jeder, der Tennant hört, wie er

davon singt, in einer Disco zu tanzen, seine Klamotten auszuziehen, Freiheit in der Liebe zu finden, von der Queen zu träumen,

aus einem Aids-durchsetzten Alptraum aufzuschrecken und schließlich nach Westen aufzubrechen, und der dann zu dem Schluß kommt,

dies sei KEIN Album darüber, was es heißt, in den 90ern schwul zu sein, liest ganz eindeutig ‘Dinge heraus’.


‘Die Leute werden immer ihre eigenen Ansichten über Texte haben’, sagt Neil und es klingt, als würde das Thema ihn etwas

langweilen. ‘Offensichtlich haben wir viele Ideen über das Schwulsein genommen und sie einem heterosexuellen Publikum präsentiert.

Ich weiß wirklich nicht zu sagen, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist.’ Ich hatte immer diese tolle Idee für den Titel

des nächsten Pet Shop Boys Albums. Ich denke, sie sollten es ‘Honestly’ nennen – ‘Ehrlich’. Ich finde, ‘Honestly’ ist ein

typisches Pet-Shop-Boys-Wort. Wie ‘Please’, ‘Actually’, ‘Behaviour’ und ‘Very’ ist es insoweit strapazierfähig, als es eine Vielzahl

von Bedeutungen zugleich übermitteln kann. ‘Ehrlich’ wie ein ‘aufrichtig’. ‘Ehrlich!’ wie in ‘Ich kann nicht glauben, was Du

mir da gerade sagst!’ ‘Ehrlich?’ wie in: ‘Ich glaube dir keine Sekunde lang!’ Es könnte tatsächlich der Titel zu eben dem Album

werden, das die Pet Shop Boys bisher noch nicht machen konnten, aber fast gemacht hätten. Eben will ich Neil Tennant meinen

Vorschlag unterbreiten, als er mir ein weiteres Wort aus dem Pet-Shop-Boys-Vokabular vorstellt. ‘Es ist dieses Lied auf der

B-Seite von ‘Go west’ mit dem Titel ‘Shameless’, erzählt er, während er den letzten Schluck trinkt. ‘Der Text geht so: Wir sind

schamlos und wir würden für unsere Viertelstunde Ruhm lles machen, wir sind schamlos, wir haben keine Integrität, wir sind zum

kriechen bereit, wir würden alles tun.’ Es ist eine Hymne auf die Schamlosigkeit. ‘Schamlos’ ist überhaupt eines meiner Lieblingsworte.

Ich denke, man muß schamlos sein, um in der Popmusik sein zu können. Man muß eine schamlose Seite in sich haben, sonst könnte man

es einfach nicht. Man würde sich zu sehr schämen. Für mich war meine Arbeit mit den Pet Shop Boys immer ein Kampf zwischen

völliger Scham und völliger Schamlosigkeit.’


Als ich das Band unserer Unterhaltung einige Tage später abhöre, frage ich mich, was der Kernpunkt dieser völlig seltsamen Beichte

war. Vielleicht die Anspielung darauf, dass Neil Tennant sich nicht mehr für das schämt, was er ist, dass seine Entscheidung, mit

seinen Privatangelegenheiten in die Öffentlichkeit zu gehen, bedeutet, dass er einen Punkt erreicht hat, an dem er nicht länger

‘für immer dem Gefühl von Scham’ auf sein Leben zurückblickt.


Oder lese ich da vielleicht zuviel hinein?


Vielleicht war es ja einfach nur seine Art, mich daran zu erinnern, dass er normalerweise ‘so etwas’ nie tun würde. Ehrlich.

Taken from: Vielen Dank an Adam für dieses Interview.
Interviewer: Paul Burston (übersetzt von Thomas Plaichinger)