Alles so schön eckig hier






Da! Er tut es tatsächlich. Chris Lowe lässt für ungefähr zehn Sekunden seine Lieblingsspielzeuge allein, um federnden Schrittes die Bühne auszumessen. Seine dicke Kapuzenjacke, benäht mit den tausend Scherben einer abgestürzten Diskokugel, reflektiert glamouröse Lichtfunken bis in die letzte Reihe des Tempodroms. Doch länger als zehn Sekunden hält jemand wie Chris Lowe es ohne seinen eigentlichen Schutzwall nicht aus: den Berg aus Tastaturen nämlich, den vielen Reglern, Festplatten und den beiden silbernen Elektro-Pauken, die wie mutierte Champignons aus Lowes Elektro-Festung ragen.




Ein Knopfdruck genügt, und das wahrlich unverwechselbare Universum der Pet Shop Boys entfaltet sich: Synthesizer heulen, süße Melodien zeichnen fantastische Mitklatsch- und Marschbeats weich, Neil Tennant singt dazu verdächtig glockenhell aufs Halbplayback. Und jetzt alle: ‘Let’s take a ride, and run with the dogs tonight … In suburbia.’ Willkommen zum großen Sommerfest der Popmusik. Es darf geschunkelt werden, und es wird auch geschunkelt – auf den Rängen, wo Mittvierziger gerührt ihre Jugenderinnerungen auffrischen und im Innenraum, wo junge schwule Paare sich in einem gigantischen Club wähnen.




Herrje, die Pet Shop Boys, die sich 1981 in einem Londoner Elektronikfachgeschäft beim Kabelkauf kennenlernten, könnten wahnsinnig viel falsch machen, fast wartet man auf eine geschmackliche Entgleisung. Sie könnten zum Beispiel Pyrotechnik einsetzen. Sie könnten nackte Tänzer mit Engelsflügeln sich abseilen lassen. Sie könnten auch über schmale Laufstege ins Publikum schreiten oder einfach zu viel sprechen. Aber sie tun das alles nicht. Nach 14 Platten und 23 Jahren Bandgeschichte hat man hat schließlich einen Ruf zu verlieren.




Das Bühnenbild ist so genial wie minimalistisch: Eine Vielzahl identischer weißer Würfel formiert sich zu jedem Song neu. Mal hängen sie an unsichtbaren Fäden, mal bilden sie eine Mauer, dann wieder dienen sie als Projektionsfläche für Filmfetzen, schwimmen – von Gerhard Richter inspiriert – in Knallfarben oder fallen in sich zusammen. Es ist ein einziges Pixel-Inferno, die geniale Variation der immergleichen kleinsten Einheit, ein Baukasten für Spieltheoretiker.




So ähnlich ist es auch mit der Musik. Kein einziger Song wird dargeboten, wie man ihn von der Platte kennt; viele Details aus dem eher unbekannten Frühwerk vermengen sich zu behutsam modernisierten 12“-Versionen – eine Hommage an die Clubkultur der 90er Jahre.

Taken from: Die Zeit Online
Interviewer: Esther Kogelboom “