Wir sind nicht depressiv, nur alt

Wenn Sie eine Frau sind: Würden Sie für diese beiden über-50-jährigen Männer noch Ihre Brüste herausholen? Katja Schwemmers sprach mit den Pet Shop Boys Chris Lowe und Neil Tennant über ihren Wunsch nach einem Anti-Aging-Gesetz, lebendige Popkritik durch Londoner Taxifahrer und das neue Album „Elysium“.




Zuletzt hat man sie bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele gesehen. Wie ein altes Ehepaar wirken Neil Tennant (58) und Chris Lowe (52) indes, als ich sie wenig später zum Gespräch über ihr neues Album „Elysium“ (Parlophone/EMI) treffe. Seit 31 Jahren firmieren sie schon als Pet Shop Boys. Ihr nunmehr elftes Studioalbum haben sie in Los Angeles mit dem Kanye-West-Produzenten Andrew Dawson aufgenommen, „um einen warmen, kalifornischen Elektrosound hinzubekommen“, wie Tennant erklärt. Geschrieben wurden die Songs aber in Berlin. Und dorthin kehren sie auch zurück, wenn sie am kommenden Mittwoch die Platte im Hau-1-Theater vorstellen.



Meine Herren, ich habe die Pet Shop Boys diesen Sommer ein wenig vermisst, wo ich Sie doch letztes Jahr gleich mehrmals als Eröffnung von Take That erleben durfte.



Chris Lowe: Das war ein Spaß. Überall, wo wir waren, schüttete es wie aus Eimern und war kalt. Und das im Juli!



Aber wenn Sie anfingen Ihren Song „Together“ zu performen und die Leinwand-Kamera dazu Bilder vom Publikum einfing, haben alle gestrahlt!



Lowe: In England haben die Frauen sogar ihre Brüste für uns rausgeholt. Immer wieder.



Neil Tennant: Man muss eben nur eine Kamera auf eine englische Frau halten, und sie wird genau das tun!



Viele fragten sich dennoch: Warum machen die Pet Shop Boys das?



Tennant: Ich glaube, in Deutschland hat das mehr Leute verwundert als in Großbritannien. Weil Take That hier zwar populär sind, aber nicht so riesig wie bei uns. Niemand sonst könnte acht Mal das Wembley Stadium füllen – nicht mal Michael Jackson machte das. Der Schiedsrichter-Raum des Stadions war unsere Garderobe. Selbst Noel Gallagher sprach mich darauf an, wie unglaublich es sein muss, fast zwei Wochen jeden Tag ins gleiche Stadion zu fahren.



Seit Ihrem letzten Studioalbum „Yes“ im Jahr 2009 sind die Dinge für Sie eigentlich recht gut gelaufen. Sie haben den „Outstanding-Contribution“-Preis bei den Brit Awards erhalten, und Ihr Ballett „The Most Incredible Thing“ wurde mit einem Theaterpreis ausgezeichnet.



Tennant: Ich denke, mit der Würdigung bei den Brit Awards kam alles ins Laufen. In Großbritannien brachte uns das in die Köpfe der Leute zurück. „Yes“ verkaufte sich speziell in Deutschland gut. Und auch die Tour danach, die übrigens immer noch nicht zu Ende ist, war ein riesiger Erfolg. Dabei erinnere ich mich noch gut an die ersten Proben dafür – mit 300 Kartonschachteln auf der Bühne. Unsere Crew war entsetzt, weil das so un-rock’n’roll aussah. Aber das Ganze entpuppte sich als clevere Idee.



Umso mehr verwundert es, dass die Texte des neuen Albums so deprimierend sind, wo sich die Pet Shop Boys doch quasi im zweiten Frühling befinden.



Tennant: Eigentlich sollten sie nicht depressiv rüberkommen. Aber das sind wohl einfach wir – Männer in unserm Alter.



Da ist von gescheiterten Lieben die Rede, und Sie stellen sogar Ihre Karriere in Frage, wie es scheint. Ist das die Midlife-Crisis?



Lowe: Haha, über die sind wir längst hinweg. Die hatten wir bei „Nightlife“ im Jahr 1999. Und ganz sicher auch bei „Release“ aus dem Jahr 2002.



Aber im Song „Invisible“ lösen Sie sich in Nichts auf! Das klingt gar nicht positiv!



Tennant: Ja, da sind wir unsichtbar. Aber ist das nun depressiv oder doch eher gespenstisch?



Vielleicht ist es ein kulturelles Statement?



Tennant: Vielleicht ist es das. Das Lied ist inspiriert von der Autorin einer Zeitung, die meinte: Wenn du eine Frau von 45 Jahren bist, und du kommst bei einer Party durch die Tür, könntest du genauso gut unsichtbar sein! Und ich dachte: Es ist dasselbe, wenn du ein Mann bist! Aber natürlich haben Sie recht: Es ist auch ein Statement über unsere Position in der britischen Popkultur. Einige Radiostationen spielen unsere Platten nicht, selbst wenn sie finden, dass die Lieder fantastisch sind. Aus dem einfachen Grund, weil wir alt sind. Ich bin überrascht, dass noch keine Anti-Aging-Gesetze erlassen wurden. Es ist diskriminierend.



Lassen Sie uns über „Requiem In Denim And Leopardskin“ reden. Jede Band, die Adam Ant in Verbindung mit Derek Jarmans Film „Jubilee“ in einem Text unterbringt, ist für mich ein Freund.



Tennant: Oh, das ist Ihnen aufgefallen – wie schön. Eigentlich handelt das Lied von der Londoner Make-up-Künstlerin Lynne Easton, die mit Malcolm McLaren auf der Kings Road abhing und mit allen Bands der Achtziger arbeitete. Wir gingen 2006 zu ihrer Beerdigung. Sie hat uns für unser allererstes Fotoshooting zurecht gemacht, für Boy George auf dem Höhepunkt seines Ruhms mit Culture Club das Make-up gemacht, und sie war auch mal mit Adam Ant liiert.



Lowe: Als ich mir neulich mein Visum in der amerikanischen Botschaft besorgen musste, stand Adam Ant vor mir in der Schlange. Er ist einer der Leute, die immer wie ein Popstar aussehen. Er trug einen Hut und sein Bandana, er sah wie Adam Ant aus.



Tennant: Die amerikanische Botschaft in London um 8 Uhr morgens ist so erheiternd! Die normalen Leute dürfen sich nicht vor 9 Uhr in die Schlange stellen, zu der Zeit sind nur VIPs erlaubt. Wenn du also um 8 Uhr durch die Reihen gehst, musst du dich ständig kneifen. So nach dem Motto: Oh, da ist der Schauspieler aus „Doctor Who“. Und da schau, da steht Lily Allen!



Lowe: Ja, es ist wirklich saukomisch. Ein einziges Schaulaufen!



Tennant: Aber sie sind nett zu uns. Wir sind von der Botschaft zu einer Party eingeladen worden in der Nacht, als Obama gewählt wurde. Die waren alle gut drauf. Man hatte das Gefühl, die waren erleichtert, dass sie George Bush nach acht Jahren losgeworden sind. Jedenfalls fragte ich den Chef der Visa-Abteilung, ob denn jeder so ein Visum beantragen müsse wie wir. Und er sagte: „Nein, für Sir Elton John gibt es ein spezielles Arrangement.“ Frechheit!



Sehr zum Schmunzeln gebracht hat mich der Song „Your Early Stuff“, in dem jemand Ihnen vorhält, dass Sie früher aber wirklich besser gewesen sind. Waren das Journalisten, die Sie zu dem Text inspiriert haben?



Tennant: Der Text besteht aus Bemerkungen, die Taxifahrer mir an den Kopf geworfen haben! In London sitze ich oft in Taxis. Und das kommt dann dabei raus. Ich habe alles in diesen Song gepackt. Und sie hören nicht auf damit. Der Song ist lustig, weil er sich auf gewisse Weise gegen uns richtet.



Einer der Taxifahrer hat demnach behauptet, Sie wären über den Tisch gezogen worden.



Tennant: Das fand ich interessant. Ich sehe Taxifahrer als Repräsentanten der Gesellschaft. Sie hören den ganzen Tag englisches Talk-Radio. Sie haben deshalb ihre ganz eigenen Ideen, was mit Popstars passiert. Und der besagte Mann hatte gar nicht mal so unrecht: Nicht wir wurden abgezockt, aber ich kenne einige, denen es damals so erging. Man kann viel von Taxifahrern lernen!



Was denn zum Beispiel?



Tennant: Die besten Routen durch London zu fahren. Aber solche Gespräche machen dir auch etwas bewusst: Wie schwierig es ist, zur großen Öffentlichkeit durchzudringen als Künstler. Du musst wirklich überall stattfinden und das immer, damit die Leute den Eindruck haben, dass du noch dabei bist. Ich stelle das immer wieder fest. Die Take-That-Tour hat da einiges bei uns verändert. Ich bekam dann immer zu hören: „Meine Frau hat dich gestern bei Take That gesehen!“ Das höre ich heute noch oft. Erst gestern sagte mir ein Taxifahrer: „Ihr habt ’ne neue Platte draußen, nicht wahr? Aber die Pet Shop Boys werden ja sowieso immer erfolgreich sein!“ Und ich sagte: „Oh, du wärst überrascht, wie anders die Zeiten sind!“



Sie mögen es also, sich mit Taxifahrern zu unterhalten?



Tennant: Sagen wir’s so: Man hat oftmals keine andere Wahl.



Pet Shop Boys: Mi (5.9.), 21 Uhr, Hau 1. Ausverkauft! Aber für Leser der Berliner Zeitung verlosen wir 1×2 Tickets. Lesen Sie dazu Seite 3 dieser Beilage!

Taken from: Berliner Zeitung
Interviewer: Katja Schwemmers