Wie die Kelly Family






Zwischen Keyboardwänden und wummernden Drum- und Bassklängen stand plötzlich Neil Tennant mit einer Akustikgitarre auf der

Bühne. Umringt von seinem Partner Chris Lowe und dem Chor gab er zu den handgemachten Klängen des Zupfinstruments die Hits

‘Rent’ und ‘Drunk’ zum Besten. ‘Don’t we look like the Kelly Family?’ fragte er das Publikum anschließend schmunzelnd. Das

war auf der Düsseldorfer Show im Rahmen der 99er ‘Nightlife’-Tournee. Niemand hätte damals geglaubt, dass auf dem nächsten

Album der Pet Shop Boys tatsächlich die Gitarre eines der prägenden Instrumente sein würde.



Keine schrägen Kopfbedeckungen oder grellen Kostüme. In Jeans und Pulli, mit Klampfe auf dem Schoß, schauen uns die beiden

Herren auf dem einzigen kleinen Foto im CD-Booklet des neuen Albums RELEASE (was simpel mit ‘Veröffentlichung’ übersetzt

werden kann) an. Auch ansonsten ist optische Schlichtheit Trumpf. Ganz in weiß die CD-Hülle und das Booklet – die Beschriftung

mit Titel und Interpret ebenfalls in Weiß und nur gegen das Licht gehalten überhaupt zu lesen. Die zur Zeit erhältliche

limitierte Erstauflage ist in einen zusätzlichen Pappschuber gesteckt, der mit dem Relief einer Blüte versehen ist. Der Käufer

hat die Qual der Wahl: Die Papphülle gibt es in vier verschiedenen Farben – mit jeweils unterschiedlichem Blütenrelief. Ich

habe mich spontan für die schwarze Variante entschieden – sie passt meiner Meinung nach am besten zur schneeweißen CD-Box und

wiederholt sich außerdem im Booklet. Dort sind neben den Texten der zehn Titel alle Blütenrefliefs noch einmal im Hochglanzdruck

zu sehen.



Musikalisch erwartet uns eine dreiviertel Stunde Musik, bestehend aus zehn Stücken. Für Produktion, Musik und Texte zeichnen

Tennant und Lowe selbst verantwortlich. Aufgenommen wurde im eigenen Studio PSB, den letzten Schliff gab es in den Londoner

Sony Studios. Ein Take weicht von diesem durchgängigen Schema ab: Witzigerweise wurde ausgerechnet der Titel LONDON in Berlin

aufgenommen. Dort ist außerdem Chris Zippel als Produzent, Co-Autor und Keyboarder vermerkt. Ein Remake a la ‘Go West’ oder

‘Always On My Mind’ ist auf RELEASE, wie schon auf den letzten Alben, nicht zu finden.



Schlicht und (teilweise) handgemacht – dieses Motto durften wir schon beim Video der ersten Singleauskopplung HOME AND DRY staunend

zur Kenntnis nehmen. Wie ein Schlag ins Gesicht der Popvideo-Industrie mit immer teureren und ausgefeilteren Filmchen muss es wirken,

wenn die einschlägigen Musikkanäle diese offensichtlich mit einer Homevideokamera aufgenommene Verhaltensstudie einer Mäusefamilie

im Powerplay ausstrahlt. Dieses Midtempo-Stück, mit dem das Album beginnt, gehört auf RELEASE schon zu den flotteren Rhythmen und

bereits hier ist die stärkere Rolle der Gitarre in der neuen Musik der Pet Shop Boys zu erahnen. Neben Neil Tennant ist für die

Saiten durchgängig ex-‘The Smiths’-Gitarrist Johnny Marr verantwortlich, der schon auf früheren PSB-CDs die (wenigen) Gitarrenakzente

setzte.



Nummer zwei, I GET ALONG, ist wohl das untypischste Stück auf dem Album. Chris Lowes Keyboards spielen kaum eine Rolle, im Vordergrund

stehen Bass, Perkussion und Johnny Marrs gefühlvolles Gitarrenspiel. Auf I GET ALONG trifft noch am ehesten die Klassifizierung ‘Britpop”

zu. Ich könnte mir diese Nummer auch sehr gut auf einem Robbie-Williams-Album vorstellen.



Es gehört nicht viel Mut zu der Prophezeiung, dass Stück drei, BIRTHDAY BOY mit Textzeilen wie ‘Birthday Boy can’t explain Christmas

Eve He’s born again’ im November als dritte oder vierte Singleauskopplung die vorweihnachtlichen Charts stürmen wird. In dieser fast

kitschigen Ballade schmachten Tennants Gesang und Marrs Gitarre um die Wette, ehe sie nach fast sechseinhalb Minuten zu den Stimmen

des Clare College Chores, Cambridge, die ein Winterlied singen, ausklingt.



Das nächste Lied ist LONDON und weicht – wie oben bereits geschrieben – vom Produktionszyklus der anderen Takes ab. Ein schöner Popsong,

der wieder viel ‘Pet-Shop-Boys’-mäßiger klingt und sich thematisch mit dem Schicksal illegaler Einwanderer auseinandersetzt. Gitarre und

Bass werden bei LONDON von einem gewissen ‘Little Mike’ bedient.


Mit einem relaxten Midtempo-Beat unterlegt und sehr entspannt kommt E-MAIL daher. ‘Send me an e-mail that says ‘I love you” fordert

Neil Tennant. Ich hoffe er meint nicht den gleichnamigen Virus … 😉


‘It’s not as easy as it was or as difficult as it could be for the Samurai in autumn’. Das ist der komplette Text von Track sechs THE

SAMURAI IN AUTUMN (Was will uns der Autor damit sagen?!?). Bei dieser Aufnahme hatte Johnny Marr seinen freien Tag und Chris Lowe durfte

in altbekannter Manier an den Knöpfen seines Keyboard spielen. Herausgekommen ist ein klassischer Chillout-Track auf hohem Niveau.


So düster wie der Titel LOVE IS A CATASTROPHE präsentiert sich diese Ballade auch. Neil Tennant leidet, unterstützt von Marrs weinender

Gitarre und sparsamer Rhythmik. Ist mir ein bisschen zu pathetisch.


HERE ist mit gut drei Minuten der kürzeste Titel auf RELEASE, aber für mich ein todsicherer Singlehit. Klassisch, keine Gitarre, dafür

ein stampfender Bassrhythmus. Vor allem aber ein Refrain der sich mir schon nach zweimaligem Durchhören in den Gehörgängen festgesetzt

hat: ‘You’ve got a home here. Call it what you want. You’ve got a home…”


Wie begegnet man dummen, gewalttätigen, schwulenfeindlichen Gangster-Rappern? Am besten auf die englische Art: In THE NIGHT I FELL IN LOVE

schildert Tennant zu einer zuckersüßen Melodie die Liebesnacht eines Jungen mit einer solchen Person, die aufgrund der textlichen Anspielungen

leicht als Eminem zu identifizieren ist. Er macht ihn zu einer privat sehr netten und höflichen Person, die obendrein im Bett mit Jungs gut

kann (‘And he was passionate I guess I would rate him a nine out of ten’). Ich habe mich abgerollt vor Lachen und hoffe, dass die Pet Shop

Boys dieser Dumpfbacke auch ein Exemplar der CD zugeschickt haben …


Beendet wird die CD – natürlich mit einer schönen verträumten Ballade: YOU CHOOSE. Die letzten Worte sind irgendwie programmatisch für

RELEASE: ‘Play the sad songs. Sing the Blues. You don’t fall in love by chance. You choose.”


Bei den Pet Shop Boys anno 2002 ist eine Entwicklung zu erkennen, die ich sehr schätze: Wenn Musiker so ziemlich alles in ihrer Karriere

erreicht haben, machen sie oft nur noch das, was sie wirklich wollen, ohne Rücksichten auf Verkaufszahlen oder Markterfordernisse. Und

dabei schaffen sie vielfach echte Perlen! Neil Tennant und Chris Lowe haben diesen Punkt spätestens mit RELEASE erreicht. Das Album ist

wunderschön, perfekt komponiert und produziert, verlässt teilweise ausgetretene Pfade und wird sicherlich keine Megahits wie ‘Go West’

abwerfen. Aber die Fangemeinde wartet sehnsüchtig zwei bis drei Jahre lang auf das neue Album der Boys. Und die wird es lieben.



Ich werde jedenfalls dabei sein, auch wenn die Jungs eines Tages auf schmuckloser Bühne nur mit Klampfe und Piano ihr ‘Back to the Roots’

perfektionieren. Und wenn sie dann wie die Kelly Family aussehen, ist das auch o.k.

Taken from: Kulturförderverein Ruhrgebiet e.V.
Interviewer: Mario Herrmann