West End Mice

Das britische Duo Pet Shop Boys

und sein neues Album ‘Release’ oder:


Die Geschichte vom verbotenen Schönklang




Die Mickymaus wurde auf einer Bahnfahrt erfunden, und in ihrem ersten Film steuerte sie gar ihr eigenes Flugzeug. Mäuse

sind mobil, so viel ist sicher, da muss man nur einmal in einer U-Bahn-Station lange genug auf die Gleise schauen: Da

sieht man sie gleich laufen, einsammeln, was sie finden können oder, wenn es eine leckere Apfelkitsche ist, gleich an

Ort und Stelle anknabbern. Sie haben es gut, die U-Bahn-Mäuse: Sie dürfen, was wir nicht dürfen, nämlich die Gleise

betreten. Und sie müssen nicht, was wir müssen, nämlich noch irgendwohin. Sie sind bereits zu Hause, home and dry.



Wir wissen nicht, ob es nun die feinen West-End-Mäuschen sind, die Wolfgang Tillmans mit seiner Videokamera für den neueste

Videoclip der Pet Shop Boys eingefangen hat oder ihre einfach gestrickten Artgenossen aus Suburbia, aber die Verbindung,

die sie mit dem einfachen Liebeslied eingehen, ist unwiderstehlich. Da sitzt jemand schon gemütlich zu Hause, während

der andere noch unterwegs ist, wahrscheinlich etwas Wichtigeres und Aufregenderes zu tun hat. Und so wünschen wir ihn

von ganzem Herzen dahin, wo es gerade so entsetzlich langweilig ist, aber dafür trocken und warm. So ist das mit der

familiären Fürsorge: Sie will uns immer wieder auf das wohlige Mittelmaß zurückziehen. Dorthin, wo wir, wie es der wie

immer bei dieser Band doppelbödige Titel ebenfalls suggeriert, auf dem Trockenen Sitzen. Home and dry.



Der weltweit führende Musiksender wehrte sich mit Händen und Füßen, den Clip des Fotografen Wolfgang Tillmanns zur

Singleauskopplung des neuen Albums der Pet Shop Boys zu spielen. Was ist schon ein Turnerpreis gegen einen MTV-Award?

Natürlich haben die Clip-Päpste inzwischen doch vor den in Stilfragen über jeden Zweifel erhabenen Musikern kapituliert –

wie damals die verdutzte Marketingabteilung ihrer Plattenfirma, als das Duo darauf bestand, ihr Porträt auf einem Cover

auf Passbildgröße zu verkleinern und im Weiß verschwinden zu lassen.



Das Verschwinden ist stets eine Option gewesen, die sich die Pet Shop Boys als Gegenpol zur öffentlichkeit vorbehielten,

so wie sie stets auch der Langeweile ihren Respekt erwiesen als untrennbaren Begleiter der Unterhaltung. Ihr neues Album

ist getragen von der unerfüllbaren Sehnsucht des Partyflaneurs nach Heimkehr, dem unstillbaren Hunger des Geschmacksmenschen

nach unverstelltem Wohlklang und dem Drang des unverbesserlichen Ironiker nach ungebrochener Wahrheit. In einem Augenblick

des Interesses für die Klangwelten der Hausmusik zwischen Bontempi-Keyboard und Akustikgitarre sowie die unkorrumpierbare

Aussage eines selbst komponierten Liebesliedes könnte Tillmanns Video nicht besser passen: Das Spiel mit dem Amateurhaften

tritt auf beiden Ebenen in eine unauflösliche Konkurrenz zu einem Formwillen, der sich gerade in der Einfachheit nicht

verstecken lässt. Bei den Pet Shop Boys so wenig wie bei Wolfgang Tillmans.



Für gewöhnlich würde man nun die Alarmglocken drohender Verspießerung läuten hören, aber so gut kennen wir das Popduo

inzwischen, dass wir wissen: Kein Image hat bisher lange gehalten. Dass es mit der Suche nach dem unverstellten emotionalen

Ausdruck allerdings ernst ist, daran lässt ihr neues Album kein Zweifel – und es lohnt sich über das darin enthaltener

Verlustempfinden einmal nachzudenken.



Leonard Cohen hat von dem einen, geheimen Akkord gesungen, den David spielte, um den lieben Gott zu erfreuen. Und fast

hätte er ihn auch verraten, in seinem Song Hallelujah. Doch dann, und nur um des Reimes auf den Titel willen, hat er darauf

verzichtet. ‘But you don’t really care for music, do ya?’, heißt es stattdessen. So ist das Geheimnis des absoluten Wohlklangs

ein Geheimnis geblieben, und was sollte ein Leonard Cohen auch damit anfangen? Der liebe Gott wird schon gewusst haben, wen er

damit segnet und ebenso hätte er es auch einer krächzenden Krähe anvertrauen können. Die Pet Shop Boys dagegen hätten eine

Verwendung dafür gewusst.



Leonard Cohen hat allerdings mehr als man meint mit den beiden gemein – und das nicht nur als trockener Beziehungschronist,

der in Neil Tennants Texten eine Art schwules Gegenstück gefunden hat. Cohen war der erste, der sich in den frühen achtziger

Jahren mit einem einfachen Keyboard auf die Bühne stellte, um es mit einem Finger und der eingebauten Rhythmusbegleitung zu

benutzen. Chris Lowe, der Keyboarder der Pet Shop Boys, machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass es bei einem sorgfältig

programmierten Instrument auf der Bühne wenig für ihn zu tun gibt. Die ultimative Performance, des bravouröse Gitarrensolo,

erkannten und verachteten die Pet Shop Boys als muffige Lebensbeweise sterbender Rock-Opas. Erst mit den Pet Shop Boys

triumphierte der Pop dauerhaft über den Rock; verheißt doch gerade das Aufgehen in einer musikindustriellen Perfektion die

wahre, ewige Jugend.



Aber es ist etwas Wahres an der Geschichte vom verbotenen Schönklang, und niemand wüsste es besser als die Pet Shop Boys.

Ihr ästhetizismus erzählt wie der ihres Vorbilds Andy Warhol von den Verlockungen der Gefälligkeit und den selbstauferlegten

Tabus um sie herum. Es sind die Verbote, die don’ts nicht die dos, die den Stil von der Stillosigkeit trennen. Nun aber ist

eingetreten, was sich schon zaghaft mit dem Aufscheinen einer einzelnen Gitarre auf dem Vorgängeralbum angekündigt hatte: Auf

der Suche nach dem großen Gefühlsklang sind alte Fesseln obsolet und alle Mittel recht. Release heißt das neue Album (erschienen

bei Parlaphone/EMI), und wie fast alles im Werk dieser Ironiker bedeutet es mindestens zweierlei: Neben der lapidaren

‘Veröffentlichung’ auch die emphatische ‘Befreiung’, wie von Engelbert besungen: Please release me, let me go / For I don’t

love you anymore. Und so geht es diesmal um das hemmungslose Schwelgen, die unverstellte Harmonie. Der Himmel hängt voller

Gitarren, akustischer zumal, eingespielt von einem Veteranen des Britpop, Johnny Marr.



Es lag schon immer eine hoch stilisierte Unschuld in Tennants Stimme, evoziert durch geradlinige Melodieläufe abseits aller

Phrasierungs-Verlockung. Und diese Zurücknahme erwies sich stets als wirksamer Kontrapunkt gegenüber der hemmungslosen Melancholie

der Texte. Nun, sie könnten diesmal kaum bitterer sein. Vom Unschuldsverlust in der Erinnerung an einen Liebhaber, der auch

Christus heißen könnte, im weihnachtlichen Birth Day Boy über das Schicksal eines russischen Emigranten in London, der

masochistischen Bitte um eine E-mail im gleichnamigen Song mit dem fatalen Inhalt I Love You bis zum unverhohlenen Love is

a Catastrophe: Selbst die für das Duo so typische Sophistication, das Herunterspielen von Emotionalität im smarten Understatement,

ist der imponierenden Sehnsucht nach offenem Gefühlsausdruck geopfert worden. Selbst Hoagy Carmichaels berühmte Phrase ‘I Get

Along Without You Very Well’ verliert in Tennants Nachdichtung ihren sicheren ironischen Unterbau.



Der Ironiker ist immer aus dem Schneider, aber Geborgenheit sieht anders aus. Vielleicht ist es gerade diese Unvereinbarkeit,

die dieses Album melancholischer klingen lässt als jedes andere zuvor. Es zeugt von großem Mut. Der Sicherheit pulsierender

Dancebeats bedarf es nicht mehr; nichts ist dem Duo offenbar wichtiger als das Songmaterial klar hervortreten zu lassen. Wäre

nicht die sängerische Disziplin Tennants, der stets an der Tür pochende Kitsch wäre endlich angekommen, dort angekommen, wohin

es ihn stets gesehnt hat: Home and dry.

Taken from: Frankfurter Rundschau
Interviewer: Daniel Kothenschulte