Vernunft ist das Gegenteil von Pop

Die ‘Pet Shop Boys’ Neil Tennant und Chris Lowe


lästern über die Hässlichkeit des Rock ‘n’ Roll,


den Benefiz-Aktionismus und ihre Angst, wie Sting zu werden.




STERN: Mr. Tennant, Sie waren früher Musikjournalist. Was würden Sie sich selbst als Erstes fragen?


TENNANT: Im Augenblick frage ich mich, wo ich meinen verdammten Hotelschlüssel habe. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Zufrieden?


STERN: Die naheliegende Frage wäre: Wie um Himmels willen sehen Sie aus?


TENNANT: Sie meinen, was es mit unserem spacigen Outfit auf sich hat? Darauf kann ich auch keine zufriedenstellende Antwort geben.

Es gibt nun mal Dinge, die sich der Vernunft entziehen, die einen gewissen irrationalen, außerweltlichen Touch haben. Vernunft ist das

Gegenteil von Pop.


STERN: In einem Gespräch mit dem US-Magazin ‘Interview’ klagten Sie unlängst, Sie würden nicht ernst genommen. Wie geht das

zusammen?


TENNANT: Wir beklagten uns darüber, dass uns und unserer Musik immer die Authentizität abgesprochen wird. Dabei kann etwas,

das fremdartig und artifiziell ist, genauso wahr und authentisch sein wie etwas, das vorgeblich ‘echt und ehrlich’ ist. Das ist eine

Stilfrage. Die Authentizität von Bob Dylan ist ebenso kreiert wie ‘Star Wars’.


STERN: ‘Star Wars’ ist Ihnen lieber, nehmen wir an.


TENNANT: Nicht unbedingt.


LOWE: Was uns stört, ist nur der nach wie vor verbreitete Irrglaube, wonach Gradlinigkeit und redliches Denken

erstrebenswerte Ziele seien im Pop. Wenn Sie es sich aber mal überlegen – und um bei ‘Star Wars’ zu bleiben -, ist Pop immer dann

interessant, wenn er etwas Dunkles, Unerlöstes, Hintergründiges in sich trägt.


STERN: Zumindest Ihre Songs sind oft einfach nur herzergreifend.


TENNANT: Das emfinde ich als Kompliment. Wir haben ja dieses Image, extrem clever oder gar zynisch zu sein. Das rührt noch

von dem Song ‘Opportunities (Let’s Make Lots Of Money)’ her, der tatsächlich eine kleine Satire auf das Business war. Ansonsten haben

wir uns aber immer bemüht, die Leute zu bewegen. Es ging meistens um menschliche Beziehungen und darum, in einer zynischen Welt seine

Würde zu bewahren.


LOWE: Mir war’s sogar oft etwas zu philosophisch.


TENNANT: Wozu man natürlich mit zunehmendem Alter immer mehr tendiert. Da muss man aufpassen, dass man nicht Sting wird.


STERN: Dem wirken Sie ja von vornherein entgegen – indem Sie Ihre Betrachtungen in poppige High-Energy-Songs kleiden.


TENNANT: Genau diese Überlegung war immer der Ausgangspunkt unseres Tuns: Disco-Musik mit einer lyrischen Komponente zu versehen.

Das gab es zuvor nicht, allenfalls bei den wundervollen späten Abba. Ich verstand nicht, warum etwas so Stilvolles und Erbauliches wie

ein Text von – da haben wir ihn wieder – Bob Dylan nicht auch eine ebensolche musikalische Form haben darf. Dagegen galt es anzukämpfen.


STERN: Was kommt bei Ihnen zuerst? Musik oder Text?


LOWE: Meistens beginnt es mit einer musikalischen Idee. Danach schreibt Neil den Text.


STERN: Sind Sie mit den Texten immer zufrieden, Mr. Lowe?


LOWE: Wenn ich an einem Song arbeite, habe ich Phrasen wie ‘Feel So Real’ oder ‘Everybody In The House’ im Kopf. Dann heißen sie

aber ‘I Don’t No What It Is But I Can’t Give It Anymore’. Oder ‘I Woudn’t Normally Do This Kind Of Thing’. Ich bin ein ums andere Mal

überrascht, was am Ende rauskommt.


STERN: Sehen Sie die Songschreiberei als Fortsetzung Ihrer journalistischen Arbeit, Mr. Tennant?


TENNANT: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber es kann sein, dass die Distanziertheit, die man mir nachsagt, mit meiner

journalistischen Vergangenheit zu tun hat. Die Art, die Dinge aus gesicherter Entfernung zu betrachten und zu erforschen, was die Leute

umtreibt, welchen Leidenschaften sie verfallen, wie sich ihre Wahrnehmung ändert. Ich stelle mir nie vor, dass ich den Song singe, den

ich gerade schreibe.


STERN: Und wenn Sie es dann tun, stehen Sie auch irgendwie daneben.


TENNANT: Das ist meine Stimme, der Tonfall. Die Leute empfinden ihn als nonchalant und distanziert. Auch den habe ich mir

vermutlich als Schreiber angeeignet. Sie haben also Recht. In vielem steckt noch der Journalist…


STERN: …der auch ein kleiner Prophet ist: Mit ‘DJ Culture’ prägten die Pet Shop Boys schon vor acht Jahren den Pop-Begriff

von heute.


TENNANT: Die Wirklichkeit heute ist leider nicht so faszinierend wie meine Vorstellungen von damals. In den späten 80ern gab

es die Hoffnung, dass durch die DJ- und Clubmusik der Pop für immer von der Hässlichkeit und Selbstgerechtigkeit des Rock ‘n’ Roll

befreit wird. Leider trägt die Sache inzwischen ähnlich hässliche und formelhafte Züge – und ist nicht mehr zwingend cooler und

kreativer als Rockmusik.


LOWE: Aber meistens.


STERN: Ihr neues Album ‘Nightlife’ ist erstaunlich sanft und melancholisch. Wo sind Ihre Beats geblieben?


TENNANT: Es klingt nicht gerade nach Puff Daddy. Das hätte die Plattenfirma gern gesehen. Aber wissen Sie, vor drei Jahren

brachten wir ein Latin-Album heraus, und auch da haben die Leute erst mal den Kopf geschüttelt.


LOWE: Wir hatten 1985 mit ‘West End Girls’ die erste Rap-Nummer auf Platz eins der US-Charts. Wieso sollten wir jetzt noch

mal mit HipHop anfangen?


STERN: Sie haben lange voll Verachtung auf den Benefiz-Aktionismus Ihrer Kollegen her-abgeblickt. Im vergangenen Jahr

produzierten Sie selbst ein Album zu Gunsten des britischen ‘National Aids Trust’ – eine All-Star-Hommage an Noel Coward. Hat

dieser Sinneswandel persönliche Hintergründe?


TENNANT: Aids ist etwas aus der Mode gekommen. Das ist der einzige Grund. Es gab eine Zeit, da war Aids schwer angesagt,

jeder hat sein Solidaritätsschleifchen angeheftet und seine kleine Charity-Nummer abgezogen. Danach zog die Karawane weiter, zu

einem neuen, hipperen Problem, dem Regenwald, dem Kosovo, dem Rechtsradikalismus. Obwohl das alte Problem mitnichten aus der Welt war.


LOWE: Das ist das Gefährliche und Unverantwortliche an diesem ganzen Betroffenheits-Hippstertum. Sowie eine Sache nicht mehr

für Medienpräsenz und Plattenverkäufe bürgt, ist sie vergessen.


STERN: Sie wirken auch anderweitig gegen das Vergessen. In den 80ern restaurierten Sie die Karrieren von Dusty Springfield

und Liza Minnelli, in den 90ern verhalfen Sie David Bowie (‘Hello Spaceboy’) zu seiner einzigen Hit-Single und holten nun Kylie Minogue

für ein Duett aus der Versenkung. Sie arbeiten gern mit gefallenen Engeln.


TENNANT: Wir träumen seit Jahren von einer Platte mit Madonna. Aber jedesmal, wenn wir denken, die Zeit sei reif, kommt sie

von selbst wieder auf die Beine.


LOWE: Kris Kristofferson hat unlängst mal nachgefragt.


TENNANT: Aber wir arbeiten nicht für Männer mit Bärten.

Taken from: Stern
Interviewer: Christian Seidl