Triumph einer seltsamen Idee

Die Pet Shop Boys und die Dresdner Sinfoniker


gastierten mit ihrem ‘Panzerkreuzer Potemkin’


in drei deutschen Städten.




Was für eine seltsame Idee, war Neil Tennants erster Gedanke, als er gefragt wurde, ob die Pet Shop Boys nicht Lust dazu hätten, ‘Panzerkreuzer Potemkin’

neu zu vertonen. Vor einem Jahr führten die ergrauten Jungs aus der Zoohandlung dann ihren Soundtrack zu Sergej Eisensteins Stummfilm-Klassiker auf dem

Trafalgar Square vor über 25 000 Menschen auf. Eine seltsame Idee hatte einen künstlerischen Triumph gezeugt. Nicht zuletzt dank der fruchtbaren

Zusammenarbeit mit dem deutschen Komponisten Torsten Rasch und den Dresdner Sinfonikern. Am Wochenende führten die Pet Shop Boys ihr Projekt in Deutschland

auf – am Freitag in Bonn, am Sonnabend in Frankfurt und gestern in Berlin.




Madiges Fleisch




Die Musiker sind halb verborgen hinter einem schwarzen Gaze-Vorhang, links das 26-köpfige Streichorchester der Dresdner Sinfoniker, rechts, hinter

identischen Korg-Keyboards und Apple-Laptops, Chris Lowe und Neil Tennant, die Pet Shop Boys. Darüber thront die Leinwand.



Auf der wogen Wellen, Ziffern zählen langsam hundert Jahre zurück, eine Stimme erzählt von der revolutionären Stimmung im zaristischen Russland, die bald

auch die Schwarzmeerflotte erreicht: ‘Und es begann alles mit diesem madigen Fleisch!’ Die Potemkin durchkreuzt ein Geigenmeer, man denkt an Hitchcocks

Lieblings-Komponisten Bernhard Herrmann. Bis die Elektronik einsetzt und schnell klar wird, dass wir es hier mit einem durch und durch originellen Ansatz

zu tun haben. Den Close-Up auf das verdorbene Fleisch, in dem sich die Maden winden, begleitet eine Erik-Satie-ähnliche Keyboard-Melodie. Über den Massen

der hungrigen Matrosen singt Tennant einen Teil des Vaterunser: ‘Unser täglich Brot gib uns heute’. Ihren ersten Höhepunkt erreicht die Musik, als die

Matrosen den Feuerbefehl gegen ihre Kameraden verweigern, die Meuterei beginnt. Ein harter Detroit-Technobeat unterstützt Eisensteins dynamischen Schnitt,

‘Da’ und ‘Njet’ poltert dazu eine Stimme, man denkt an Kraftwerk, zugleich zitieren die Dresdner Sinfoniker aus Schostakowitschs Potemkin-Soundtrack.



Schon einmal, in ihrem Video zu ‘Go West’, haben die Pet Shop Boys mit dem Image gut gebauter russischer Matrosen gespielt. Damals ging es um Schwule, die

ins New Yorker Village ziehen, um in der Gemeinschaft frei leben zu können. Auch für ihr Potemkin-Projekt haben die Pet Shop Boys ein Freiheits-Lied

geschrieben. ‘Wo ist die Freiheit, von der wir so lange geträumt haben?’, singt Tennant da. ‘Go West’ war im Original von den Village People. Über der

Version der Pet Shop Boys liegt melancholischer Glanz. Eisensteins aufrüttelndem Revolutionswerk ergeht es nicht anders. Die Freiheit, von der die

Seeleute träumten, scheint bei den Pet Shop Boys fast verloren. ‘Frieden ist doch noch möglich’, heißt es zu Anfang der Szene auf der Treppe von Odessa,

während eine Frau – ihr sterbendes Kind im Arm – auf die Soldaten zugeht. Die Frau wird erschossen. Die Soldaten marschieren zu Minimal-Techno die Treppe

herunter.




Für die Freiheit




Dann, zum triumphalen Ende des Eisenstein-Films, schwenken die Kanonen des Panzerkreuzers zu immer erhebenderen Synthie-Klängen, teilen die Beats die

Minuten immer schneller auf. Bis die zaristische Flotte die Potemkin doch noch passieren lässt, die nun in heroisch überhöhter Perspektive direkt auf die

Zuschauer zufährt. ‘For freedom’, für die Freiheit, bricht es ein letztes Mal aus Tennant heraus. Der Vorhang fällt. Das Publikum steht und jubelt.



Draußen hat die Revolution nicht gesiegt. Draußen verhungern Arme in Footballstadien. Wieder zu Hause legen wir eine Pet Shop Boys-Single auf. Und glauben

für drei Minuten, dass alles gut wird.

Taken from: Sächsische Zeitung
Interviewer: Christian Bos