Schlachtschiff und Elektronik-Klänge

Die Pet Shop Boys vertonen den Stummfilm


‘Panzerkreuzer Potemkin’ auf der Museumsinsel




Es gibt an diesem milden Sommerabend keine Umstürze. Nur Unmut wird gelegentlich geäußert: ‘Hinsetzen!’ skandiert das Volk beim allerersten Sitzkonzert

der Pet Shop Boys, des Londoner Disco-Duos, in Berlin. Der Boden der Museumsinsel ist mit grünem Fließ bedeckt. Die Gäste kauern vor der Bühne wie beim

Kirchentag. Nur die besonders großen, breiten Kerle wollen nicht nur mit den Köpfen wackeln, sondern zur Musik auch in den Knien federn. Ein Kulturstreit.

Allerdings finden sich beide Seiten friedlich damit ab und starren schließlich auf die Leinwand, wo der Klassiker des Propagandakinos läuft. Sergej

Eisensteins ‘Panzerkreuzer Potemkin’ von 1925. Dazu musizieren hinter einer blau erleuchteten Gardine die zwei Pet Shop Boys gemeinsam mit den Dresdner

Sinfonikern.



Zu dieser merkwürdigen Arbeit kam es erst auf Anregung des Institutes für moderne Kunst in London. In ‘Potemkin’ geht es um Matrosen. Und vermutlich hielt

das Institut Neil Tennant und Chris Lowe als Schwulenaktivisten für die passenden Lieferanten eines neuen Soundtracks. Ursprünglich wurde zum Stummfilm

Schostakowitsch aufgeführt. Doch Eisenstein wünschte sich ausdrücklich eine beständige Erneuerung der Filmmusik. Im Auftrag der sowjetischen Regierung

hatte er sein Meisterwerk gedreht über die Aufstände von 1905: Die leidgeprüfte Mannschaft eines Schlachtschiffs widersetzt sich den Befehlshabern, der

Rädelsführer wird erschossen und zum Märtyrer. Das reißt das Volk im Hafen von Odessa mit, bis die Armee des Zaren in die Menge schießt, auf Frauen,

Kinder und Behinderte, weil alle diese Menschen plötzlich Brüder wurden.



Dazu haben dann die Pet Shop Boys vor einem Jahr daheim auf dem Trafalgar Square gespielt. Nun reisen sie durchs Land des sie begleitenden Orchesters.

Unter aufgebrachten Seeleuten werden zu Streichern Elektronikklänge eingespielt oder Maschinenbeats zu mundgeblasenen Fanfaren. Hin und wieder zeichnet

sich Neil Tennant hinter der Gardine ab und singt Parolen, die sich durch die helle Stimme eher in revolutionären Sehnsüchten verlieren als in

Schlachtgesängen. Deshalb funktioniert es. Dieser Film gilt noch als hochästhetische Tragödie. Und die Pet Shop Boys sind kluge Künstler, die zwar nicht

an Utopien glauben, aber daran, daß der Mensch schon um der Schönheit willen auf das Gute hofft. Da ähneln sich die Disco und die inszenierte Meuterei

tatsächlich. Also sind hier keineswegs die Sitzenden im Recht. Man hätte ‘Aufstehen!’ rufen sollen.

Taken from: Berliner Morgenpost
Interviewer: Michael Pilz