Pop-Revolution, jetzt!

Der Trafalgar Square im Herzen Londons


und die Neuinterpretation eines Revolutionsepos der Filmgeschichte:


Die ‘Pet Shop Boys’ vertonen ‘Panzerkreuzer Potemkin’.




Das Abendläuten der Glocken von Saint-Martin-in-the-Fields tönt über den Trafalgar Square und bricht sich an der National Gallery.

Das klingt fast ein wenig zu staatstragend und festlich. Wenigstens nieselt es, wie sich das gehört an einem Sonntagabend im September

in London.


Ein nasengepiercter Pepitahut-Träger hat es sich schön proletarisch mit diversen Bierdosen vor der kolossalen Leinwand zwischen den

marmornen Springbrunnen gemütlich gemacht und vertreibt jeden mit originellen Beschimpfungen, der es wagt, sich vor ihn zu stellen.

Das muss er oft tun, denn der Trafalgar Square ist brechend voll. Heute Abend wird hier Revolution gefeiert.




Multimedia-Open-Air-Event




Angetreten sind dazu: die Pet Shop Boys, die Dresdner Sinfoniker und Simon McBurney vom Théâtre de Complicité. Das Institute of Contemporary

Arts hat die Künstler zu dem ehrgeizigen Projekt zusammengezogen, Sergej Eisensteins ‘Panzerkreuzer Potemkin’ von 1925 im Herzen Londons

als Multimedia-Open-Air-Event zu inszenieren.


Zur Einstimmung werfen die Projektoren Fernsehbilder der ‘Poll Tax Riots’ vom 31. März 1990 an die Wände des National Gallery-Gebäudes.

Polizisten zu Pferde, die genauso gekleidet sind wie die freundlichen Ordner hier an diesem Abend, galoppieren durch eine Menge, die

gegen Thatchers Steuerpolitik demonstriert.


Ein Platz, der also fraglos gut gewählt ist zur Aufführung und Neuinterpretation des ersten und größten Revolutionsepos der Filmgeschichte.

Seit seiner Vollendung 1845 war der Trafalgar Square der wichtigste Ort für Massenversammlungen und Demonstrationen in London. Im 19.

Jahrhundert versammelten sich hier die Suffragetten, 1910 sprach der Arbeiterführer Keir Hardie unter der Nelson-Säule erstmals vor

Labour-Aktivisten.




Ein Platz, wie gemacht für die Errichtung
eines poprevolutionären Denkmals
auf dem Eisenstein-Sockel




In den Siebzigern waren es die Minen- und Hafenarbeiter, in den Achtzigern die Anti-Thatcher-Demonstranten, in den Neunzigern und zuletzt

auch 2002 die Kriegsgegner, die sich auf dem Trafalgar Square in Massen einfanden, um – häufig nicht eben friedlich – zu protestieren. Ein

Platz, wie gemacht für die Errichtung eines poprevolutionären Denkmals auf dem Eisenstein-Sockel.


‘Old School!’ johlt Herr Pepitahut, als der Regisseur und Einpeitscher Simon McBurney die Bühne unterhalb der Leinwand betritt. McBurney,

ein begnadeter Theaterrevolutionär, schwingt sich dann auf den Dachstuhl von Saint Martin und ruft der Menge zu: ‘Ihr steht da, wo früher

die Slums von Charing Cross waren!’


Eine Babuschka-Darstellerin steigt die Stufen der National Gallery hinab, und bewegt sich auf die Bühne zu. Die Treppe des Gebäudes von

William Wilkins soll sich in die Stufen von Odessa wandeln. Auftritt der Pet Shop Boys.




Spiegelglatte Welten reiner Klangoberflächen




In der musikalischen Bearbeitung von Chris Lowe und Neil Tennant treibt der Panzerkreuzer von Beginn an auf den spiegelglatten Weiten

jener reinen Klangoberflächen, denen die Pet Shop Boys durch all ihre stilistischen Disco-, House- und Techno-Reinkarnationen treu geblieben

sind.


Wie der heroischen Ästhetik von ‘Go West’ vor gut zehn Jahren, nähert sich das Duo auch dem Werk Eisenstein mit urbaner Distanziertheit.

Angetrieben vom Dauerfeuer einer (zu dominant abgemischten) Bassdrum entrollt sich ein Synthesizer-Teppich der Selbstzitate zwischen ‘It’s

A Sin’, ‘Left To My Own Devices’ und ‘Home And Dry’.


Vergleichsweise selten schaltet sich Neil Tennant mit seinem bewährt nasalen Chorknabentimbre ins Geschehen ein. Im Augenblick, da etwa

einer der frustrierten Matrosen beim Abwaschen auf einem Teller liest: ‘Unser täglich Brot gib uns heute’, erweitert Tennant dies zu einem

Pet-Shop-Boys-Vaterunser, das beim Auftauchen des regimetreuen Popen an Bord eine kleine Reprise erfährt.


Beim Kampf zwischen Offizieren und Matrosen beschränkt er sich auf rhythmische ‘Da!’- und ‘Njet!’-Einwürfe. Ein paar Leute klatschen, als

der Offizier Giliarowski von den Aufständischen über Bord geworfen wird. Ein paar andere tanzen zu dem Samba, mit dem die Odessa-Stufen-Szene

unterlegt ist.


Die Dresdner Sinfoniker unter Jonathan Stockhammer haben alldem mit ihren vom Rammstein-Klassifizierer Torsten Rasch gesetzten Arrangements

wenig entgegenzusetzen oder hinzuzufügen. Die gesampleten Chöre, Streicher und Hörner übertönen das Ensemble fast durchgehend.


So bleibt dem Orchester letztlich die Rolle des analogen Echos der massiven Synthesizer. Das Ganze sitzt selten auf dem Montage-Rhythmus des

Films; die Pet Shop Boys haben so etwas wohl auch nie im Sinn gehabt. Das ist eben ihre Art der filmmusikalischen Revolution.

Taken from: Süddeutsche Zeitung
Interviewer: Alexander Menden