Quo vadis Pop?
Laut Pet Shop Boy Neil Tennant steht die Subkultur vor dem Exitus.
Den Künstlern mangelt es an Kreativität,
der Jugend an Verstand und der Industrie an Verantwortung.
Es regiert der Plastik-Sound von Britney Spears,
N’Sync oder S-Club-7 – und keinen stört’s.
Die Kids stehen halt auf junge Hüpfer
nicht auf 40-jährige Berufspessimisten.
Die Popmusik der Gegenwart lebt vom Extrem – und das auf beiden Seiten der Richterskala. Um Anno 2002 erfolgreich zu sein muss man entweder super-hart oder super-weich sein, aber immer dem gängigen Format entsprechen. Von R&B über HipHop, Boygroups und Nu Metal – gehört wird, was den Nerv der Radio- und Fernsehsender trifft, was sich leicht vermarkten und problemlos konsumieren lässt. Wer da nicht mitspielt, scheitert kläglich, auch wenn er in der Vergangenheit populär war. Mariah Carey und Michael Jackson können ein Lied davon singen – sie fallen durch die Maschen des Systems. Eine der wenigen Ausnahmen: Die britischen Pet Shop Boys. Ein Duo, das seit Mitte der 80er einen Welthit nach dem nächsten landet, allen Strömungen, Trends und Modeerscheinungen trotzt, große theatralische Tourneen inszeniert und auch mit Remixen und Musicals glänzt. Eben, weil Neil Tennant und Chris Lowe immer mit der neuesten Technik arbeiten, für alles offen sind und vor keinem Abenteuer zurückschrecken. So auch mit ihrem neuen Album ‘Release’, auf dem sie einen verblüffenden Stilwechsel vollziehen: Vom volltechnisierten Synthi-Sound der letzten 20 Jahre zum volltechnisierten Gitarrenpop des Milleniums. Merke: die Pet Shop Boys sind immer en vogue -auch, wenn sie für die musikalische Gegenwart nur wenig übrig haben.
KEYBOARDS: Euer neues Album heißt ‘Release’, ein derart simpler Titel…
Neil Tennant: … dass er unmöglich von uns stammen kann. Ehrlich! Wir wollten das Album ‘Home’ nennen, aber unsere Plattenfirma meinte, das wäre ziemlich langweilig. Was uns nicht weiter störte, bis Wolfgang Tillmanns, der das Video für ‘Home And Dry’ drehte, auf die Idee kam: ‘Wisst ihr was, ihr solltet es ‘Release’ nennen. Und das fanden wir toll. Schließlich ist es ein Release, also eine Veröffentlichung – auch auf emotionaler Ebene. Und das korrespondiert hervorragend mit dem Cover, das mit roten Rosen bedeckt ist. Eben richtig sexy Blumen.
KEYBOARDS: Du bezeichnest es als euer bestes Album seit Jahren. Was macht dich da so sicher?
Neil Tennant: Nun, es ist zweifellos ein gutes Album mit richtig guten Songs. Und weil wir diesmal nicht so viele Dance-Elemente verwendet haben, konnten wir viele andere Stile und Rhythmen einbauen.
KEYBOARDS: Und warum musste der Computer den Gitarren weichen?
Neil Tennant: Nun, wir haben schon immer Gitarren benutzt, aber diesmal stehen sie halt mehr im Vordergrund, sind viel dominanter. Es war eine ganz neue Art des Schreibens – wir konnten eine simple Rhythmus-Sektion mit Gitarre, Bass und Schlagzeug bilden und hinterher einfach die passenden Akkorde hinzufügen.
KEYBOARDS: Also ein Bruch mit der Routine?
Neil Tennant: Nein, es war nur simpler, als sonst. Wir mussten nicht ewig programmieren, sondern konnten einfach drauflos spielen. Außerdem war es eine gute Entschuldigung für einen Shop-ping-Ausflug nach Newcastle, wo wir die Gitarren gekauft haben. Shoppen ist die wichtigste Inspirationsquelle -die Grundlage für alles, was wir tun. Und es ist eine gute Entschuldigung, um sich aus dem Studio abzusetzen. Jedes Mal, wenn uns nichts einfällt, gehen wir einkaufen. Und diesmal hieß es eben: ‘Warum holen wir nicht ein paar Gitarren? Das wäre mal was Neues’. Also sind wir nach Newcastle gefahren, denn das Album ist bei mir zu Hause in Nordengland entstanden. In County Durham. Da habe ich zwar auch einige Gitarren. Aber die brauchten halt eines Tages eine Generalüberholung — sie waren immer zu schnell verstimmt. Das ging mir total auf die Nerven, dieses ewige Justieren. Also sagte ich irgendwann zu Chris: ‘Jetzt reicht’s! Lass uns ein paar Neue kaufen.’ Und das haben wir in Newcastle getan, wo ich gleich drei Stück erworben habe. Die waren so toll, dass ich sofort auf ihnen zu spielen begann – und dabei kam ich halt auf die Akkordfolge von ‘Home And Dry’. Ich dachte zuerst: ‘Mmmhhh, das klingt ja nach den Red Hot Chili Pep-pers’. Und dann schrieb Chris ‘I Get Along’, was an Oasis erinnert. Nur war das ja nicht geplant – es war einfach das, was dabei herauskam. Und das ist immer so, wenn du Gitarren einsetzt. Du erzielst nie das, was du dir vornimmst, sondern kommst immer ganz woanders raus. Und stell dir vor: die ursprüngliche Idee war, ein HipHop-lastiges Album zu machen.
KEYBOARDS: Wie bitte?
Neil Tennant: Ja, das erkennst du auch, wenn du dir einen Track wie ‘e-Mail’ anhörst. Das ist ein lupenreiner HipHop-Song, eben das einzige Überbleibsel der Grundidee. Außerdem haben wir noch ein paar Dance-Tracks aufgenommen, die aber nicht auf dem Album gelandet sind, weil sie nicht zu den übrigen Sachen passen. Die bewegen sich nämlich eher im Midtempo und legen viel Gewicht auf die Texte. Also etwas Simples, aber doch mit richtig guten und sehr persönlichen Geschichten. Wenn du dir unser letztes Album ‘Nightlife’ anhörst, welches das bestproduzierte unserer Karriere ist, dann ist das viel komplexer und anspruchsvoller. Diesmal ist es einfacher und weniger episch. Die Leute erwarten von den Pet Shop Boys immer etwas ganz Bombastisches und Extravagantes, aber genau das ist diesmal nicht der Fall. Auch wenn es sicherlich seine Momente hat -etwa in ‘Birthday Boy’ oder ‘Love Is A Catastrophe’.
KEYBOARDS: Verwandeln sich die Pet Shop Boys in eine Rockband?
Neil Tennant: Niemals! Es ist einfach ein neuer Ansatz – ein neues Handhaben derselben Technik, die wir immer verwenden. Und lange Zeit war es ja auch so, dass Rockmusik unser erklärter Feind war. Die Pet Shop Boys haben gegen alles gekämpft, was aufgeblasen, bombastisch, pompös und belanglos war. Aber das hat sich inzwischen geändert. Anno 2002 ist Rock nicht mehr der Feind – der Feind ist durchgestylte Popmusik. Belangloser, oberflächlicher Müll.
KEYBOARDS: Und woher kommt der?
Neil Tennant: Ich denke, die Musikindustrie hat einfach keine Ahnung, wie man Krisen managt. Sie versucht sich zu retten, indem sie belanglosen Mist fürs Fernsehen produziert. Eben dieses Popstars-Zeug, dessen Marketing-Potenzial sie bis zum Letzten ausschöpft, um so viele Platten wie eben möglich zu verkaufen. Aber das hat bislang ja nicht wirklich geklappt. Denn wer hat mehr CDs verkauft – Hearsay oder Eminem? Es war Eminem, der die Nation in Aufruhr versetzt und einfach haufenweise CDs verkauft. Das finde ich faszinierend. Und die sind nicht einmal teuer in der Herstellung. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Industrie ganz schnell neue Künstler aufbauen muss.
Jedes Mal, wenn uns nichts einfällt,
gehen wir einkaufen. Und diesmal hieß es eben:
‘Warum holen wir nicht ein paar Gitarren?!’
KEYBOARDS: Aber alles, was sie tut, ist weitere Peinlichkeiten wie S-Club-7 unters Volk zu werfen…
Neil Tennant: Ja, und dafür muss es einen Grund geben, den ich bislang noch nicht verstanden habe. Obwohl: S-Club-7 haben durchaus eine Berechtigung. Es ist leichte Unterhaltung für Kids, genau wie es früher die Mon-kees waren. Einige Plastik-Pop-Sachen sind eben gar nicht schlecht. Die Monkees waren toll, obwohl sie ein Kunstprodukt waren. Und das lag daran, dass sie gute Songs und gute Songwriter hatten – zum Beispiel Carol King. Und das ist OK. Es wird immer so ein Zeug geben. Und wenn wir ehrlich sind, haben S-Club-7 letztes Jahr eine richtig gute Platte gemacht – nämlich ‘Keep On Moving’. Das einzige, was ich daran nicht mag, ist diese blöde Popbiz-Mentalität. Schau dir nur die Auditions bei ‘Popstars’ an – da sitzt jemand am Klavier und die Mädels und Jungs trällern eine herzerweichende Ballade dazu. Das ist nicht Pop – das ist Kabarett. Bei Popmusik geht es darum, sich auszudrücken und seine Generation zu definieren. Eben mittels Sound und Stil. Es ist genauso, wie es Malcolm McLaren formuliert hat: ‘Bei Musik geht es um Sex, Stil und Rebellion.’ Dem kann ich nur zustimmen.
KEYBOARDS: Das klingt, als wäre der Musikkritiker in dir noch lebendig…
Neil Tennant: So habe ich schon immer gedacht. Und ich war auch nie ein Musikkritiker – ich war ein Pop-Autor. Vor kurzem unterhielt ich mich mit jemandem, der beim britischen Magazin ‘Smash Hits’ arbeitet, und er sagte: ‘Heute ist alles total langweilig. Du hast ja keine Vorstellung davon, wie langweilig es ist.’ Eben, weil Popstars nicht mehr richtig interessant sind. Und das waren sie definitiv mal. Früher hat ‘Smash Hits’ wahnsinnigen Spaß gemacht – es war witzig, spritzig und extrem vielseitig. Eben genau wie die Stars, über die es berichtete… Aber heute haben sie keine Geschichten mehr. Sie haben kein Manifest, in dem sie deutlich machen, was sie vorhaben, wie sie sich kleiden, was sie hassen, was sie lieben. Früher war das Standard. Bands wie Human League oder Culture Club hatten ein exakt festgelegtes Konzept, einen Plan, an den sie sich auch hielten. Culture Club war zum Beispiel eine geniale Idee. Da hattest du einen Schwulen, einen Schwarzen, einen Juden und einen weißen Jungen aus Essex, der Musiktechnologie studiert hatte. Eine geniale Mischung – mit einem ebenso genialen Namen. Da kann S-Club-7 nicht mithalten. Auch, wenn es sieben Leute sind. Ich meine, ich mag Popmusik – aber nur, wenn sie kreativ ist. Und das war sie zuletzt in den 80ern, als die Leute noch Fotografie, Film und Mode mit-einbezogen.
KEYBOARDS: Die letzte aufregende Phase der Musikgeschichte?
Neil Tennant: Im Nachhinein schon. Deswegen ist es einfach unglaublich, dass sie oft so runtergemacht und belächelt wird. Denk doch nur an die großartigen Platten, die zu dieser Zeit entstanden. Etwa ‘When Doves Cry’, ein unglaublich starker Song, der immer noch fantastisch klingt.
KEYBOARDS: Es gibt nicht umsonst so viele Coverversionen aus dieser Ära…
Neil Tennant: Stimmt, da gibt es Tausende. Aber wir selbst haben uns nie als 80s Band gesehen. All die Gruppen, von denen wir hier sprechen, sind lange vor uns da gewesen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich das erste Mal von einer ‘New Romantics’-Nacht in einer Londoner Disco hörte. Ich konnte es nicht glauben. Die Leute schmeißen sich in irgendwelche lächerlichen Fantasiekostüme und hängen in langweiligen Clubs ab, wo sie zu Bowie und Roxy Music tanzen. Und stell dir vor: Das sind noch die spannendsten Parties, die London zu bieten hat. Ist das nicht traurig? In einer Weltstadt wie London! Es gibt einfach keine jungen Leute mehr, die noch etwas Spannendes machen.
Anno 2002 ist Rock nicht mehr der Feind –
der Feind ist durchgestylte Popmusik.
Belangloser, oberflächlicher Müll.
KEYBOARDS: Wo sind die echten Charaktere abgeblieben?
Neil Tennant: Gute Frage. Ich schätze, es hat damit zu tun, dass die Dance-Musik der späten 80er zwar viele gute Platten hervorgebracht hat, aber eben nichts Kreatives. Es wurde einfach nur eine Unterhaltungsmaschine aufgebaut, die überall auf der Welt vertreten ist -in Moskau genauso wie in Boulder/Colorado. Gleichzeitig profitieren davon aber nur ganz wenige, ausgesuchte Künstler, bei denen dieses Netz auch wirklich greift. In den 80ern waren britische Popstars auf der ganzen Welt erfolgreich – doch die Zeiten sind definitiv vorbei. Nimm nur Boy George. Seine Vor- Stellung von einem Nachtclub beginnt mit der Frage: ‘Was tragen wir denn bloß?’ Ein Ansatz aus längst vergangenen Zeiten.
KEYBOARDS: Trotzdem gibt es einen Track, in dem ihr euch der 80s bedient – ‘The Samurai In Au-tumn’ mit seinen billigen Synthi-Sounds…
Neil Tennant: Das sind eher billige Keyboards aus den 90ern – und es ist der einzige Track der Platte, der Elemente aus der Dance-Musik aufgreift. Dabei klingt er für mich mehr trance- mäßig, als nach den 80ern. Denn um ehrlich zu sein, verwenden wir hochmoderne Keyboards und keinen Vintage-Kram. Gott bewahre! Von dem 80er-Jahre-Zeug sind wir längst runter. Und die neuen Songs sind auch viel Instrumental-lastiger, als die alten Sachen. Wir verwenden jede Menge Filter, die ja erst in den 90ern entwickelt wurden.
KEYBOARDS: Da wir gerade von der Technik sprechen: Als ihr 1981 anfingt, müssen die Möglichkeiten noch sehr bescheiden, weil antiquiert gewesen sein…
Neil Tennant: Wir hatten nichts, gar nichts. Ehrlich, als wir anfingen, hatten wir riesige technische Probleme – wir konnten uns das notwendige Equipment nämlich gar nicht leisten. Also haben wir versucht, das Ganze nach großen Maschinen klingen zu lassen. Wir wollten Kraftwerk sein – die Menschmaschinen. Dabei haben wir alles manuell eingespielt. Alles, was wir an Technologie zur Verfügung hatten, war eine miese, kleine Drumbox. Mehr nicht. Und wir haben uns hier und da mal ein billiges, altes Keyboard geliehen – ein Yamaha DX7 oder DX5. Wir jagten es durch ein Delay, um es wie einen Sequenzer oder ein Piano klingen zu lassen. Und das ist auch der Grund, warum es immer noch zeitgemäß klingt, (lacht) Der DX7 ist heute schließlich angesagter als je zuvor.
KEYBOARDS: Inzwischen müsstet ihr doch regelrechte High Tech-Freaks sein…
Neil Tennant: Nicht wirklich. Klar, kaufen wir uns die neuesten Keyboards und alles, was es auf dem Markt gibt. Wir haben Korg MIRs, Akai Sl000s, einen Roland S770, ein Proteus/FX, Oberheim Matrix 1000, Roland MK S50s, JD 8000 Roland, Juno 106, Roland R70 und Fairlight.
KEYBOARDS: Alles 80er-Jahre-Schätzchen…
Neil Tennant: Kann sein, dass sich das jetzt dilettantisch und Ignorant anhört. Doch mal ehrlich: Wenn du deine ganze Zeit darauf verwendest, um das Equipment und die Technik zu beherrschen, hast du ja keine Muße mehr zum Schreiben. Und wir ziehen es nun mal vor, unsere Ideen schnell und spontan umzusetzen. Deswegen arbeiten wir auch mit einem Programmierer. Ein richtiger Hightech-Experte zu sein steht dem Song-writing nur im Weg.
KEYBOARDS: Und wie sieht euer Arbeiten konkret aus?
Neil Tennant: Sobald wir eine Idee haben, wollen wir sie auch festhalten und ja nicht vergessen. Und das geht nur, wenn du nicht in diesem Mechanismus des ‘Wie-mache-ich-das-nun’ gefangen bist. Denn ein Computer ist ja nicht mehr, als ein Kassettenrekorder. Er nimmt nur das auf, was du ihm vorgibst. Und er dient dazu, dass du es nicht vergisst und deine Ideen so schnell wie möglich bearbeiten kannst. Wenn das nicht so wäre, hätte ich ein fürchterliches Problem: Ich würde so lange mit der Technik kämpfen, bis ich alles vergessen habe, was ich aufnehmen wollte. Denn wenn du schreiben willst, und es tauchen irgendwelche technischen Probleme auf, verlierst du einfach den Spaß daran. Wir haben früher mit etlichen Programmen gearbeitet, die einfach viel zu langsam waren. Irgendwann hast du dann genug: ‘Ach Scheiße, lass uns lieber was Essen gehen das Ding will nicht.’ Wenn du arbeitest, muss alles glatt gehen. Es muss fließen, sonst macht es keinen Sinn.
KEYBOARDS: Dann macht die Technik das Leben leichter, aber man kann sich auch leicht darin verlieren?
Neil Tennant: Oh, sie macht das Leben viel, viel leichter, aber auf der anderen Seite auch schwerer. Denn heute ist es wirklich so, dass du etwas in den Computer einspielst und schon hast du einen fertigen Song – ohne, dass du genau weißt, wie das passieren konnte, geschweige denn wie es sich wiederholen ließe. Du schreibst einen Song und wenn er fertig ist, musst du ihn erst mal erlernen, damit du ihn rezitieren kannst. Ich meine, das ist doch wirklich krank, oder? Früher haben wir uns genau daran erinnert, was wir gerade geschrieben haben – und das waren richtige Songs. Die haben wir immer und immer wieder gespielt. Eben, weil wir gar nicht die Möglichkeit hatten, sie aufzunehmen. Aber bei dem neuen Zeug ist es genau umgekehrt, da haben wir hinterher keinen Plan mehr, wie wir überhaupt darauf gekommen sind – wir haben es ja nur einmal gespielt. Und ich finde es wirklich amüsant, wenn du zwei Akkorde spielst und ein bisschen Gitarre hinzufügst, und schon druckt dir der Computer die komplette Musik in Noten-Form aus. Das ist witzig… Wenn du dir das dann auf Papier ansiehst, musst du dich erst mal hinsetzen und die richtigen Akkorde finden. Da bin ich dann manchmal selbst überrascht, was wir da gemacht haben. Etwa, als ich mir hinterher diesen tollen Akkordwechsel bei ‘Being Boring’ ansah. Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Ein anderer Song hat dann sogar öfters die Tonlage gewechselt. Das war bei ‘Birthday Boy’.
Die Musikindustrie hat einfach keine Ahnung,
wie mann Krisen managt.
KEYBOARDS: Der Song erinnert stark an Pink Floyd – eine ArtMini-Oper…
Neil Tennant: Genau das ist er – er ist exakt so aufgebaut. Und deswegen hat er auch starke Soundeffekte, wie wir sie immer verwendet haben. Etwa im Intro zu ‘West End Girls’, das in unserem neuen Live-Set direkt auf ‘Birthday Boy’ folgt. Das hört mit den Klängen der Straße zur Weihnachtszeit auf, und dann kommt ‘West End Girls’, wo plötzlich richtig etwas los ist – es spielt in derselben Stadt.
KEYBOARDS: Während ‘The Night I Fell In Love’ eher an ein Rock’n’Roll-Märchen erinnert.
Neil Tennant (lacht): Das hast du toll formuliert. Und irgendwie stimmt das sogar. Es wurde von der Kontroverse um Eminem inspiriert, der gemeinhin als schwulenfeindlich verschrieen ist. Dabei hat er bei den Grammy Awards mit Elton John gespielt. Und das macht ja nur dann Sinn, wenn er gar nichts gegen Tunten hat. Und genau das vermute ich. Die schwulenfeindlichen Texte, die sich auf seinem Album finden, stammen daher, dass er in eine Rolle, in einen Charakter schlüpft. Er repräsentiert das reaktionäre, schwulen-feindliche Amerika. Dabei ist er doch stockschwul, oder? Er bringt seine Freundin um, um mit Eminem zu leben. Das ist schon sehr extrem. Es ist ein schwules Liebeslied, ein schwuler Liebesbrief. Und trotzdem war es so ein Erfolg. Das finde ich wirklich interessant. Insofern hat es mich auf den Gedanken gebracht, ein Stück über jemanden wie Eminem zu schreiben: Den jungen, männlichen Fan, der ein Konzert besucht und einen Backstage-Pass erhält. Dann verbringt er die Nacht mit seinem Star. Und das ist nichts anderes, als Eminems Methode zu benutzen -ich setze die Charakterstudien fort.
KEYBOARDS: Hast du ihn je persönlich getroffen?
Neil Tennant: Eminem? Nein – und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er sehr glücklich über den Song ist. Obwohl: Wahrscheinlich wird er ihn eh nie hören. Wenn doch, streite ich einfach alles ab… (lacht)
KEYBOARDS: Ihr habt unlängst in Köln gespielt und euch dabei als Band ohne theatralische Performance präsentiert. Sind das die neuen Pet Shop Boys?
Neil Tennant: Nicht wirklich. Zumindest das Licht war doch sehr extravagant. Und wir versuchen, das Ganze zu einer anderen Form von Theater auszubauen. Deswegen hatten wir zum Beispiel einen ganz weißen Bühnenboden – um all das Equipment und die Technik zu betonen, was ich großartig finde. Genau wie die Tatsache, dass einige Stücke nahtlos in die nächsten übergingen, es viele Gitarrenwechsel gab und auch sonst viel passierte. Es ist definitiv eine Show, und die werden wir in nächster Zeit konsequent ausbauen, um sie bei einer richtigen Arena-Tour einzusetzen. Obwohl: Du hast schon Recht. Im Vergleich zu unseren früheren Shows wirkt es geradezu grungig.
KEYBOARDS: Wie kommt’s? Waren euch die letzten Tourneen zu bombastisch?
Neil Tennant: Das würde ich so nicht sagen. Klar, die letzten Sachen, die wir gemacht haben – also die Savoy-Shows und die ‘Nightlife’-Tour waren schon sehr theatralisch. Aber sie waren längst nicht so aufgeblasen wie die ‘Performance’-Tour vor zehn Jahren. Wir suchen einfach neue Möglichkeiten, um uns und unsere Musik auf die Bühne zu bringen. Und mit dieser Light-Show verfolgen wir ganz klar das Ziel, die Pet Shop Boys als Mu- siker zu präsentieren, was wir ja nie zuvor getan haben. Wir haben der Öffentlichkeit nie die Idee vermittelt, dass wir so etwas wie Musiker sind.
KEYBOARDS: Ein neuer, seriöser Anspruch?
Neil Tennant: Es ist einfach eine neue Art der Präsentation. Denn ich glaube, dass viele Leute meinen, dass wir das bislang ganz bewusst vermieden hätten. Sie sind jedes Mal überrascht, dass wir unsere Instrumente beherrschen. Wenn du dir eine unserer Platten anschaust, dann steht da nie, was wir selbst gemacht haben. Es listet immer nur die anderen Musiker und Mitarbeiter auf. Und dann steht da irgendwo ‘produziert von den Pet Shop Boys’ – mehr nicht. Dabei erledigen wir den Löwenanteil der Arbeit. Und das gilt auch für dieses Album, auf dem wir alles alleine gemacht haben. Das einzig Externe sind Johnny Marrs Gitarre, ein paar Percussions und ein Bassist, der auf ein paar Stücken agiert. Und deswegen wollen wir eben mehr betonen, dass wir die kreativen Köpfe sind und es wirklich unsere Musik ist.
KEYBOARDS: Dann fühlt ihr euch doch ein wenig missverstanden?
Neil Tennant: Nein, bislang hatten wir nur nie das Verlangen, für unsere Arbeit respektiert zu werden. Aber jetzt probieren wir mal etwas Neues aus – wir präsentieren uns einfach anders. Und inzwischen haben wir auch das Selbstbewusstsein, auf die Bühne zu gehen, ohne uns hinter einer großen Show oder 15 Tänzern zu verstekken. Denn das war ja alles, was es war -eine Möglichkeit, sich zu verstecken.
Wir wollten Kraftwerk sein –
die Menschmaschinen.
KEYBOARDS: Wie steht es mit eurem Musical am Londoner West End. Wird das verlängert oder läuft es endgültig aus?
Neil Tennant: Es ist schon im Oktober ausgelaufen -nach sechs Monaten Spielzeit. Das ist zwar uns schon immer für Musik und Theater interessiert haben. Aber gleichzeitig haben wir versucht, etwas ganz Neues zu machen. Es ging darum, Musik für ein bestimmtes Thema zu kreieren. Und bei dem Stück ging es eben ums Clubbing, dementsprechend fiel auch die Musik aus. Es ging um Tanzen, um Drogen und um Subkultur. Und ich glaube, das haben wir ganz gut zum Ausdruck gebracht. Wir wollten ein anderes Publikum erreichen, eines, das sonst nicht unbedingt in ein Musical geht. Deswegen ist die Show auch sehr extrem ausgefallen. Viele Leute haben sie geschmacklos gefunden, was noch einer der harmloseren Vorwürfe war. Aber das war uns von vornherein klar. Wenn du etwas Extremes und Provokantes machst, gibt es immer Leute, denen es nicht gefällt. Eben, weil wir ja nicht das ‘Cats’-Publikum erreichen wollten. Deswegen ist es immer wieder vorgekommen, dass mehrere alte Leute den Saal verlassen haben – unter lautem Fluchen und Schimpfen. Sie waren richtig sauer. Und das ist eigentlich bei jeder Aufführung passiert. Es ist immer jemand ausgerastet und hat sich fürchterlich aufgeregt. Die meisten Kritiker haben uns jedenfalls ziemlich verrissen.
KEYBOARDS: Und das reicht nicht aus, um euch vom Schreiben weiterer Stücke abzubringen?
Neil Tennant: Auf keinen Fall! Schließlich gab es ja auch Leute, denen es gefallen hat. Es gab sogar richtig euphorische Kritiken. Die haben verstanden, dass wir etwas Neues machen wollten. Etwas, das nicht nur eine nette banale Handlung hat, sondern schon ein bisschen mehr Tiefe. Und das hat bei einigen Leuten ein gewisses Unwohlsein erzeugt -was sich wie ein roter Faden durch unsere Arbeit zu ziehen scheint. Schließlich haben wir ja so unbequeme Titel wie: ‘You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk’, was die meisten Leute nicht gerade als netten Pop-Song verstehen. Damit haben viele ein echtes Problem. Dabei ist das Leben nicht immer Sonnenschein. Es gibt viele unangenehme Situationen. Und mit denen setzen wir uns auseinander, statt nur schöne heile Welt zu spielen.
Taken from: Keyboards 06/2002
Interviewer: Marcel Anders