Pet Shop Boys – Eintrag im Poplexikon 2002






Pet Shop Boys: Neil Tennant (Vocals), Chris Lowe (Electronics) bastelten aus nonchalanten Beobachtungen des alltäglichen Irrsinns,

dem Straßentheater des Hip Hop und dem homosexuellen Disco-Drama Schlagermythologien von Jugend, Pop, Männer-Erotik, die sie mit düsteren

Elektronik-Effekten a la Kraftwerk verschnitten. Die schwermütige Nacht & Nebel Poesie der beiden Großstadt-Jungen schlug dabei meist um

in den ‘näselnden Zynismus eines Society-Kolumnisten, der genüsslich jene Rituals beschreibt, mit denen die bürgerliche Welt ihre brüchige

Moral kaschiert’ (): Vorort-Paranoia (Suburbia), Freundschaft gegen Vorauskasse (Rent) als Sozialpartnerschaft getarnte Profitgier

(Opportunities). Textbeispiel: ‘Ich hab den nötigen Sachverstand, du hast das entsprechende gute Aussehen – laß uns zusammen jede Menge

Geld machen.’ Dem Texter Tennant wurde bisweilen ‘Designer-Zynismus’ vorgeworfen. Doch er wußte seine galligen Bonmots über Yuppie-Strebertum,

Teenager-Ängste und den Warencharakter von Beziehungen treffsicher zu plazieren, Stücke wie It’s A Sin, eine hintergründige Persiflage auf

katholische Schuldgefühle, Heart, What Have I Done To Deserve This, ein Duett mit Dusty Springfield, Always On My Mind, Remake eines

Elvis-Erfolgs, Left To My Own Devices reflektierten mit Zorn und Trauer ‘die Schmierigkeit von Margaret Thatchers Kleinbürger-Kapitalismus und

die unerfüllte Lust in der Post-Aids-Ära’ (). Neil Francis Tennant, am 10. Juli 1954 in Gosforth, North Shields, geboren, war

zuvor Mitarbeiter der Pop-Gazette und mit Tradition wie Marktmechanismen im Pop bestens vertraut. Mit dem ehemaligen Architektur-

studenten Christopher Sean Lowe, am 4. Oktober 1959 in Blackpool, Lancs., England, geboren, veröffentlichte er 1984 auf einem unabhängigen

US-Label West End Girls, eine Phantasie über Verlockung und Abenteuer in den Großstadtstraßen. Der Song kam jedoch über den Status eines

Club-Hits nicht hinaus. Nach zähen Ablöseverhandlungen wechselten die Musiker zum EMI-Konzern und leiteten 1985 mit einer Neuversion von

West End Girls eine internationale Hitserie ein, die die Pet Shop Boys zur ‘wahrscheinlich besten Popgruppe der Welt’ ()

machte. hingegen war nicht beeindruckt und zeigte sich von Tennants nörgelndem Gesang und den trotzigen Kameraposen des Duos

auf Plattenhüllen wie in Videoclips irritiert: ‘Sie kommen einem vor wie Heulsusen, die ihr Taschengeld nicht rechtzeitig gekriegt haben.’

Außerdem: ‘Ihre Tanzrhythmen haben den ansprechenden Sound einer vielbenutzten Flughafen-Rollbahn.’ Beschaulicher ging es hingegen nach Meinung

britischer Premierenkritiker beim ersten Kinofilm der Pet Shop Boys zu. (1988), eine ‘Allegorie von Vergangenheit,

Gegenwart und Zukunft’ (Regisseur Jack Bond), war 87 Miuten lang angefüllt mit lüsternen Priestern, lasziv agierenden Nonnen, mordlustigen

Anhaltern, dicken Damen am Strand, tollkühnen Piloten in fliegenden Kisten sowie anderen Stereotypen und schlichtweg ‘zum Einschlafen’ ().

Pop, so Tennant, sei mehr als nur Musik: ‘ Es geht immer darum, von wem eine Platte ist, wie die Stars aussehen, wie sie im Fernsehen singen

und was sie für Kleider anhaben.’ Folgerichtig versuchten sie ihr Image, von der Cover-Grafik über Videos und Pressefotos bis zum Bühnen-Make-up,

komplett zu kontrollieren. Exklusivinterviews mit MTV steigerten den Videoeinsatz, perfektes Styling erhöhte den Promotioneffekt. Live wagten sie

sich 1989 erstmals auf die Bühne: Tennant als Dandy in Melone und Maßanzug, Lowe mit Baseball-Kappe, Bomberjacke und Gletscherbrille. Die Musik

kam aus dem Computer. Sänger Tennant: ‘Wir sind nicht Jimi Hendrix.’ Dafür aber das erfolgreichste Pop-Duo der Welt. 1989 gründeten sie mit New

Order-Gitarrist Bernard Sumner und Johnny Marr, vormals Gitarrist der Smiths, die Formation Electronic und gastierten erstmals in den USA –

Vorläufer einer Welttournee der Pet Shop Boys 1991, bei der sie unter der Regie des Opern-Spezialisten David Alden mit zehn Tänzern die Geschichte

ihrer Karriere als Musical darboten und mit wohl nicht zufällig an Bühnenspektakel von Oskar Schlemmer und Robert Wilson erinnerten.

Ihren Liedern, mittlerweile auf einem Dutzend LPs verbreitet, bescheinigte zu dieser Zeit ‘frostige Schönheit, lässige Modernität,

verträumte Distanz, elegante Melancholie’. Kolumnist Thomas Hüetlin: ‘Die Jungs mögen es, wenn ihre Songs nach großem Kino klingen, nach Cinemascope

und Technicolor, nach nassem Pflaster, hohen Häusern und nach Frauen, die schön sind, aber unerreichbar.’ Liza Minnelli, immerhin, ließ sich von

den Jungs 1989 das Album Results schneidern. Die von den Boys produzierte Single Losing My Mind stieg in die Top Ten. Ihr eigenes Album Behaviour

(1990) fiel gegenüber früheren Veröffentlichungen leicht zurück, wurde aber durch die Umsätze von Very (1993) wieder aufgefangen. Die Musiker

benutzten Hi-NRG-Stilelemente und setzten statt durchgängiger Synthesizerstimmen partiell auf reale Orchester-Grundierungen; die darin versierte

Anne Dudley von Art Of Noise besorgte die Arrangements. In ihr Album Bilingual (1996) brachten die Boys nicht nur eine Vielfalt südamerikanischer

Rhythmen mit der ‘Atmosphäre des brasilianischen Karnevals’ (, London) ein, sondern zum erstenmal auch handfesten Funk-Groove. -Kritikcr

David Sinclair: ‘Clever waren die beiden schon immer. Jetzt haben sie auch noch Soul.’ Sein Landsmann Roger Scruton hielt dagegen: Der Beitrag der

Pet Shop Boys zu ihrer eigenen Musik, so lästerte er in seinem Buch (1998), sei ‘eher minimal’

und wurde von den Boys prompt wegen Rufschädigung verklagt. In der Öffentlichkeit zeigten sich die Partner drei Jahre lang nur selten: bei einer

Party von Premierminister Tony Blair in Downing Street 10 zu Ehren der britischen Mu-sikindustrie (1997), bei einer Aids-Gala anläßlich des

Benefiz-Samplers Twentieth Century Blues -The Songs Of Noel Coward im Londoner Park Lane Hotel (1998), bei der Beerdigung ihres Idols Dusty

Springfield in Henley-on-Thames, Berkshire (1999), der sie Ende der Achtziger mit den Songs What Havel Done To Deserve This, Nothing Has Been

Proved und dem Album Reputation zu einem Comeback verholfen hatten. Tennant erging sich in Gummistiefeln der Marke Wellington mit seinem

Yorkshire-Terrier auf seinem Anwesen in Nord-England bei der Gartenarbeit, Lowe war zwischen London, Ibiza und New York beinahe nonstop auf

Party-Trip. Im Mai 1998 quittierte ihre Managerin Jill Carrington nach neun Jahren den Job, angeblich um sich mehr ihrem Sohn widmen zu können.

Das war wohl das Zeichen, dass wieder einmal Studio angesagt war. Doch die CD Nightlife, die Tennant und Lowe im Herbst 1999, maskenhaft geschminkt

unter gelbblonden Struwwelpeter-Perücken, in London der Presse präsentierten, fand – mit Ausnahme des und der Postille – nicht

das Wohlwollen der Kollegen. Die Orchesterarrangements von Vincent Montana Jr. (Salsoul Orchestra) und der Mix des New Yorker DJ David Morales

hätten das Duo in die Disco-Anfänge des Studio 54 zurückgeschmettert, befand Lisa Verrico im New Yorker Blatt < metro>, die Duettpartnerin Kylie

Minogue (In Denial) habe mit den Pet Shop Boys so viel zu tun wie diese mit einem Weihnachtslied. Einen Teil des Albums habe zudem, so Sebastian

Wehlings im Berliner , der Faithless-Produzent Rollo ‘mit klammen Trance-Sounds verhunzt’. Selbstzitate, Klang-Diebstahl bei Chic und den

Village People sowie Selbstzerstörung und Overkül waren weitere Kritiker-Verdikte. Arne Willander im deutschen : ‘Die Pet Shop Boys

als müde Maden des Popkulturbetriebs, ohne Thema, ohne Statement, aber mit Tournee.’ Die Welttournee sodann auf einer in Goldtönen gehaltenen, von

der iranischen Star-Architektin Zaha Hadid mit Ornamenten aus verzierten Hollywood-Bühne, Show-Treppe inklusive – keinesfalls

‘ein gewöhnliches Konzert, eher eine überkandidelte Inszenierung mit Kulturauftrag’ (Kritiker Ulf Lippitz). In den späten Siebzigern, so hatte Lowe

einst dem Magazin gestanden, habe er in einer Londoner Disco namens Dixieland Gläser eingesammelt und jedesmal Gänsehaut bekommen, wenn

der DJ mittels einer genialen Disco-Platte sogar die Barmixer zum Tanzen brachte: ‘Plötzlich war ich mittendrin in einem gigantischen Musical. Das

war eine der besten Erfahrungen meines Lebens.’ Im Juni 2001 wurde das Musical von Lowe, Tennant und dem britischen Bühnenautor

Jonathan Harvey über einen Jungen aus Irland, der in London die Ups and Downs eines Clubtänzer-Lebens durchmacht, im Londoner Westend uraufgeführt.

Neil Tennant: ‘Das Ganze spielt im Club, weil die Nachtkultur eine Welt ist, die wir kennen und verstehen. Ich kannte Menschen, die in diesem

Universum an Spaß und Drogen zugrunde gegangen sind – und trotzdem kenne ich keine schönere Art, das Leben zu verbringen.’ Böswillige Kritiker

hatten indes auch für eine solche Attitüde wieder nichts als Häme parat. Die CD Nightlife klinge, so Heiko Zwirner im Berliner ,

‘wie das Nachtleben von ergrauten Dandys, die mit leeren Blicken am Rand der Tanzfläche stehen und in den jungen Bewegungen der Tänzer nur noch

ihre eigene Vergangenheit erkennen können’.

Taken from: Deutsches Pop-Lexikon 2002
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