Orchestral manœuvres in the dark

Die Pet Shop Boys haben ihr 9. Album veröffentlicht


das beste seit ‘Behaviour’. Ekstatische Uptempo-Nummern,


charmante Balladen & Hits, Hits, Hits.




Sechs Jahre lang habe ich nicht geraucht, nicht gesoffen und keinen Sex gehabt! Und dann wurde ich eingeschult.’

Schonmal irgendwo gelesen, ja? Vermutlich auf einem Stück ehemals weißem Stoff, der dank eines von Bier geformten

Körpers Dehnungsübungen absolvierte. Auch schon auf dem T-Shirt-Rücken eines Motorradfahrers ‘If you can read

this, the bitch fell off’ erspäht und müde gelächelt? Oder einem aufmüpfigen Pennäler begegnet, der mit der auf

Baumwolle gestickten Destruktivparole ‘Montags könnt ich kotzen’ assi geht? Wer zuletzt lacht, hat es einfach

nicht früher begriffen. Wer Glück im Spiel hat, hat auch Geld für die Liebe. Rettet Radkäppchen vor dem bösen

Golf. Wieviele dieser T-Shirt-Sprüche hält man aus, bevor man glaubt, daß ganz bestimmt Montag ist? Man weiß es

nicht genau.



Fest steht aber: In England erfreut sich seit Jahren das Modell ‘I’m with stupid’ großer Beliebtheit. Ein Shirt,

das den Nebenläufer seines Trägers zum Deppen erklärt. Die Hölle sind immer die anderen, das wußte ja schon Sartre.

Die politisch philosophierenden Pet Shop Boys meinen in ihrer so betitelten Single allerdings zwei ganz bestimmte

Herren: Tony Blair und George W. Bush. ‘See you on the TV / Call you every day / Fly across the ocean / Just to

let you have your way […] / Love comes / Love grows / And power can give a man / Much more than anybody knows.’

Wer ‘Fundamental’ zum rundesten Pet-Shop-Boys-Longplayer seit ‘Behaviour’ (1990) powerte, ist kein Geheimnis:

Trevor Horn. Der Mann, der 1981 mit seiner Band The Buggles und ‘Video killed the radiostar’ die MTV-Ära eröffnete,

Frankie Goes To Hollywood produzierte und auch schon 1988 für das Album ‘Introspective’ zwei Stücke mit Neil

Tennant und Chris Lowe aufnahm.



Nach dem niedlichen Seepferdchenpop von ‘Release’ (2002) angeln die Pet Shop Boys endlich wieder mit

unwiderstehlichen Ködern. Und nicht zu knapp im ‘Twentieth century’ ihres eigenen Schaffens. Der gleichnamige

Song allerdings ist der einzige und dafür um so deutlichere musikalische Fehlgriff auf ‘Fundamental’. Aber

ansonsten: ekstatische Uptempo-Nummern, charmante Balladen – allen voran ‘Indifferent leave to remain’ -,

intelligente Arrangements und Hits, Hits, Hits. Natürlich wird auch nicht mit orchestralem Bombast und epischen

Tendenzen gegeizt, wie man das von einer Trevor-Horn-Produktion schließlich erwarten darf. Überladen wirken die

zwölf Stücke trotzdem nie. Ganz im Gegenteil: Man entdeckt jedes Mal ein neues liebevolles Detail im Mosaik aus

Neil Tennants unverwechselbarer Säusel-Stimme, Chris Lowes Keyboard-Kapriolen, Trevor Horns Soundbüffet-Stürmung

und, tatsächlich, richtigen Instrumenten: Streicher, Bläser, Gitarren, Vibraphon, Marimba, Harfe, Percussion –

möchte noch jemand behaupten, bei den Pet Shop Boys würden nur Tasten gedrückt und Knöpfchen gedreht?



Auch die Behauptung, das Duo sei plötzlich politisch geworden, ist natürlich Unsinn. Die Pet Shop Boys waren nie

unpolitisch, agierten bloß nie mit erigiertem Zeigefinger. Auch dieses Mal nicht. Politische Statements werden

stets so verpackt, daß sie auch auf die kleinste Koalition (Liebesbeziehung zweier Menschen) passen. Während auf

‘Actually’ (1987) der Thatcherismus kommentiert wurde, widmet sich das neueste Werk dem interkontinentalen

Angstklima und der gepflegten Paranoia – insbesondere das düstere, beinahe kraftwerksche ‘Psychological’, ebenso

wie ‘Integral’, ein aufgeregtes Plädoyer gegen die Einführung von ID-Karten. ‘Sometimes the solution / Is worse

than the problem’, lautet das inhaltliche Destillat von Album Nummer neun. Da kann man schon mal Sehnsucht nach

einem temporären Taubheitsgefühl bekommen. Frau Doktor Diane Warren, Fachärztin für Powerballaden, verschafft

Abhilfe: ‘Numb’ (ursprünglich – kein Scherz! – für Aerosmith geschrieben) hypnotisiert mit orchestralen Wogen,

und der ‘Casanova in hell’ spendiert sogar noch einen ausgelassenen Chor dazu.



Bei all dem Übel dieser Welt bleibt einem ja wenigstens immer noch der Hedonismus. Und den wußten die Pet Shop

Boys schon immer hübsch zu vertonen: ‘The sodom and gomorrah show’ ist ihr E-Gitarren-gepeitschter Sündensong des

neuen Jahrtausends, samt dreckig lachendem Mephisto. Die zwingendste Single seit ‘Se a vida é’ mündet in die

Gewissenserleichterung ‘I made my excuses and left’, bei der man sogar den verstörten Geistlichen aus dem ‘It’s

a sin’-Video wiederzuerkennen glaubt: ‘I’m on the run again’, klagt er in einem dumpf hallenden Kloster. Eine

Violine imitiert sein Seufzen, die Streicherflotte sticht in See, eine Tür quietscht, schlägt zu, und dann erzählt

Tennant, wie er peinlich berührt in einen Raum hineinplatzte: ‘Each of you looked up / But no one said a word /

I felt I should apologize / For what I hadn’t heard.’ Nach diesem Schock am besten erstmal mit ‘Minimal’ in die

maximale Besinnungslosigkeit tanzen. Und danach sofort das verschwitzte T-Shirt ausziehen. Dann ist es auch egal,

was vorne draufsteht.

Taken from: NEON – Das Online Magazin
Interviewer: Ina Simone