Interview auf Eins live

Im fortgeschrittenen Popstar-Alter wagen sich Neil Tennant


und Chris Lowe noch mal ganz weit raus: Auf ihrem neuen Album


‘Fundamental’ vergehen sich die Pet Shop Boys an gesteigertem


Kulturpessimismus und schimpfen über Politiker und Medien


samt Unterhaltungsindustrie.




Eins Live: In den letzten Jahren habt ihr euch an Musicals und Soundtracks versucht und scheinbar alles getan, um

dem typischen PSB-Sound zu entkommen. Warum jetzt diese Rückbesinnung auf die späten 80er/frühen 90er?



Chris: Weil wir das Gefühl hatten, dass es die Sorte Album ist, die die Leute von uns hören wollen – eben ein

sehr kraftvolles Album mit einer großen Produktion. Und das kommt scheinbar viel besser an als das, was wir

zuletzt gemacht haben.


Neil: Dabei hatten wir eigentlich vor, ein minimalistisches Elektronikalbum zu machen. Das war die ursprüngliche

Idee. Aber dann haben wir immer mehr von diesen bombastischen Stücken geschrieben, und so entschieden wir uns

schließlich, Trevor Horn anzurufen und das gesamte Album mit ihm aufzunehmen. Ganz einfach, weil er in der

Vergangenheit solche Klassiker wie ‘The look of love’ von ABC gemacht hat, ein wahnsinnig tolles Album. Oder

‘Buffalo girls’ von Malcolm McLaren und ‘Welcome to the pleasuredome’ von Frankie Goes To Hollywood.


Als wir in den frühen 80ern mit den Pet Shop Boys anfingen, waren das die Alben, die uns maßgeblich beeinflusst

haben. Und wir dachten, wie toll es doch wäre, mal wieder ein fantastisches Trevor Horn-Album zu machen, das ein

bisschen überproduziert ist, so wie er das früher immer gemacht hat. Denn seine letzten Platten waren etwas

gemäßigter. Etwa seine Arbeit mit Seal. Aber der Punkt, an dem wir wieder an Trevor dachten, war diese Single,

die er mit T.A.T.U. gemacht hat, ‘All the things she said’. Ein toller Popsong – und ein Riesenhit. Da dachten

wir uns, dass Trevor vielleicht wieder Interesse hat, Popmusik zu machen.



Eins Live: Und warum hat das vermeintliche Popalbum so einen starken politischen Unterton?



Neil: Es hat wirklich etwas von ‘Actually’, das sich mit dem Thatcherism auseinandergesetzt hat. Und das war

vielleicht sogar noch politischer. Aber auf diesem Album gibt es einen Song namens ‘I’m with stupid’, der von

der Beziehung zwischen Blair und Bush handelt – und das auf eine sehr humorvolle Art und Weise. Eben wie eine

Satire. Dann ist da noch der Song ‘Integral’, in dem es um die aktuelle Debatte um die Einführung von ID-Karten

geht. Die sollen mit einem zentralen Computersystem vernetzt werden, was wir unglaublich finden.


Chris: Das enthält sämtliche Informationen über dich. Sogar deine Krankengeschichte und alles andere.



Eins Live: Klingt nach real gewordenem Big Brother?



Chris: Es ist sogar noch schlimmer als das, denn es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, während Big Brother

reine Fiktion war. Dies ist die Realität.


Neil: Und deshalb haben wir den Song in diesem Stil aufgenommen. Eben in der Art von ‘Big Brother is watching

you’ – mit viel Bombast und neo-faschistischen Elementen. Und es impliziert diese Entschuldigung, die du immer

wieder von der Öffentlichkeit wie von der Politik hörst: Wenn du nichts Falsches gemacht hast, dann hast du auch

nichts zu befürchten.



Eins Live: Ihr habt jahrelang die Labour Partei unterstützt – u.a. mit größeren Geldspenden. Wo war der Knackpunkt,

an dem ihr zu Blair-Gegnern geworden seid?



Neil: Für mich war der Wendepunkt die Diskussion über die Einführung dieser ID-Karten. Wenn Politiker die Vision

von einer derart kontrollierten Gesellschaft entwickeln, dann kann ich dem einfach nicht zustimmen. Und wenn du

mich fragst, sind Blair und Bush zwar beide sehr dumm, aber doch völlig unterschiedliche Politiker.


Wirtschaftlich gesehen ist Bush zum Beispiel eine Katastrophe, während man in England immer noch davon ausgeht,

dass New Labour wirtschaftlich erfolgreich ist. Das nimmt zumindest jeder an. Und insofern wird das auch nicht

diskutiert. Dagegen gilt Bush in Amerika als wirtschaftlicher Alptraum. Was komischerweise für alle

republikanischen Präsidenten gilt. Clinton hat es ganz locker geschafft, das wirtschaftliche Defizit in ein Plus

zu verwandeln. Und dann kommt Bush und macht daraus wieder ein massives Defizit. Genau wie Reagan. Dabei hat der

nicht einmal Krieg geführt.



Eins Live: Wobei ihr mit eurer Kritik riskiert, nicht noch einmal in die Downing Street eingeladen zu werden –

wie 1997, nach dem Wahlsieg von Blair?



Chris: Daran hätte ich auch gar kein Interesse.


Neil: Ich glaube auch nicht, dass Blair überhaupt noch solche Empfänge abhält.


Chris: Schließlich mag ihn keiner mehr. Wahrscheinlich würde er nicht mal mehr genug Popstars für ein kleines

Abendessen zusammenbekommen. Die haben sich längst von ihm abgewandt. Außer Mick Hucknall von Simply Red. Aber

den nimmt ja keiner ernst.


Neil: Und die ganze Sache, damals am Anfang von New Labour, war sowieso völlig überzogen. Ich meine, das war

eine völlig bescheidene, fast schon armselige Cocktail-Party. Mehr nicht. Wir waren da höchstens eine Stunde.

Länger nicht.


Chris: Dann haben wir uns durch die Hintertür verdrückt.


Neil: Deshalb sind wir in diesem Zusammenhang auch nicht in der Presse aufgetaucht. Die hat sich nämlich auf

Noel Gallagher gestürzt. Auch, wenn es mittlerweile überall heißt, Liam wäre da gewesen. Was nicht stimmt.



Eins Live: Wie ist demnach der Titel des neuen Albums zu deuten? Ein Seitenhieb auf den Zeitgeist, oder betont

ihr mehr den ‘Fun’ und das ‘Mental’ in ‘Fundamental’?



Neil: Es ist beides. Für uns ist das Album elementar – es beinhaltet ein paar fundamentale Sachen. Etwa unseren

typischen Sound, aber auch eine Menge Spaß und ein bisschen Verrücktheit. Es ist also von jedem etwas, und

insofern passt der Titel. Außerdem ist er provokant, weil Fundamentalismus ja gerade wieder so ein wichtiges

Thema auf der Welt ist.



Eins Live: Was im 21. Jahrhundert schon etwas verwunderlich ist, oder?



Neil: Es ist ziemlich deprimierend, dass Religion immer noch so ein Thema ist.


Chris: Ich hatte gehofft, wir wären endlich darüber hinweg, aber plötzlich erlebt sie eine regelrechte

Renaissance.



Eins Live: Hat das vielleicht mit der Schnelllebigkeit und der Dekadenz der heutigen Zeit zu tun? Oder was hat

euch veranlasst, ein Stück wie ‘The Sodom and Gomorrah show’ zu verfassen?



Neil: Irgendwie schon. Wobei das nicht geplant war. Der Begriff ist mir einfach so eingefallen, als ich darüber

nachdachte, dass die ganze Welt wie eine TV-Show ist. Denn das ist sie ja – eine einzige große Seifenoper. Nimm

nur die Art, wie heute die Nachrichten präsentiert werden. Das ist, als würde es sich dabei um ein wer weiß wie

spannendes Drama handeln, das sich da vor unseren Augen auftut. Und da geht es fast immer um Sonne, Sex, Tod und

Zerstörung. Es ist wirklich die Sodom-und-Gomorrah-Show. Und der Charakter in dem Song hat damit überhaupt nichts

zu tun. Trotzdem wird er da hineingezogen. Er muss erkennen, dass die einzige Möglichkeit zu überleben, darin

besteht, einander zu lieben. Es hat also ein bisschen was von den Beatles, von ‘All you need is love’.



Eins Live: Das heißt, du offerierst einen Ausweg, wenn nicht eine Lösung?



Pet Shop Boys: Das mag sich jetzt naiv anhören, aber ich glaube wirklich, dass die einzige Möglichkeit, wie wir

alle überleben können, aus der Liebe resultiert. Wobei das Hauptproblem darin besteht, eine politische Partei oder

eine politische Agenda auf der Basis von Liebe zu gründen. Was einige Leute ja schon versucht haben.



Eins Live: Ihr werdet ständig mit bestimmten Promis verwechselt. Etwa mit Fatboy Slim. Stimmt das?



Neil: Das waren Leute, die absolut keine Ahnung haben, wer Fatboy Slim ist. Nämlich bei einer Dinner-Party

in Südfrankreich. Sie meinten: ‘Gott, wir sind wirklich stolz, dass sie hier sind. Wir lieben Fatboy Slim!’

(lacht) Ich hielt das für lustig. Eben als Pet Shop Boy mit Fatboy Slim verwechselt zu werden – das ist echt

der Brüller. Deswegen habe ich auch nichts gesagt …


Chris: Promi zu sein basiert auf einer bewussten Entscheidung. Eben, ob du zu Filmpremieren, auf bestimmte Partys

oder in bestimmte Bars oder Clubs gehst. Du hast die Wahl, ob du dazugehören willst oder nicht. Und wir haben uns

halt dagegen entschieden.


Neil: Dabei verdienen Promis echte Bewunderung. Denn einer zu bleiben ist verdammt viel Arbeit. Eine Menge

Sport, vielleicht sogar plastische Chirurgie. Dazu die neueste Mode und das perfekte Styling. Du musst immer

en vogue sein. Und das ist verdammt hart – auch finanziell. Da musst du schon die richtigen Sponsoren haben,

um überleben zu können. Eben, indem du Werbung machst, deine Geschichten an das OK-Magazin verkaufst oder in

Shows wie ‘Ich bin ein Star – holt mich hier raus’ auftrittst. Solche Sachen.



Eins Live: Wann habt ihr euch dagegen entschieden?



Neil: Von Anfang an. Wir haben uns nie als Promis präsentiert, sondern uns ständig darüber beschwert,

fotografiert zu werden und zu irgendwelchen Veranstaltungen erscheinen zu müssen. Ganz einfach, weil wir

dachten, dass wir darin nicht besonders gut sind. Schließlich sind wir keine besonders glamourösen Menschen.

Und deshalb haben wir auch irgendwann aufgehört, uns über die Paparazzi zu beschweren. Eben, weil wir erkennen

mussten, dass diese Fotos ohnehin nicht verwendet werden. Also haben wir uns daran nicht weiter gestört.


Und was Filmpremieren und den Roten Teppich betrifft: Da haben wir uns sowieso nie blicken lassen. In den

80ern hat man uns auch gar nicht gefragt. Das ist erst in den 90ern passiert, als wir plötzlich zu allen

möglichen Sachen eingeladen wurden.


Aber die Events an sich sind ja auch ganz anders als früher. Wenn es zum Beispiel irgendeine große

Hollywood-Premiere ist, ist das einfach schrecklich. Das macht keinen Spaß. Du musst wirklich den kompletten

Leichester Square vor all diesen Leuten entlang gehen.


Chris: Was mir jedes Mal ein völlig komisches Gefühl gibt. Und wenn ich dann ins Bett gehe, bedauere ich es,

dass ich mich überhaupt darauf eingelassen habe. Ich komme mir ausgenutzt und vorgeführt vor, und das ist

wirklich unangenehm.


Neil: Aber egal, ich schätze, es klingt ein bisschen anmaßend, hier zu sitzen und sich über Filmpremieren

auszulassen.



Eins Live: Aber eurem Ruf als mürrische alte Männer des Pop entspricht das doch voll und ganz!



Neil: Stimmt schon …


Chris: Ich habe uns nie als besonders mürrisch empfunden, auch wenn das vielleicht gerade so rüberkommt. Aber

das liegt einfach am modernen Leben – und daran, dass alles immer schlimmer wird.


Chris: Ich glaube, dass es noch sehr viele subversive Bands gibt. Etwa die Arctic Monkeys, bei denen es ja

vor allem um die Musik geht.


Neil: Und die dieses ganze Promi-Ding ablehnen, auch wenn sie längst dazu gehören – ob sie das nun mögen oder

nicht. Eine Menge Leute empfinden das einfach als peinlich, und genau dieses Problem hatten auch wir am Anfang.

Wir haben es nicht mal bewusst abgelehnt, es war uns einfach nur peinlich, zumal wir dabei immer eine sehr

schlechte Figur gemacht haben. Ich meine, einige Leute sind einfach tolle Promis. Kylie Minogue zum Beispiel.

Die hat das voll drauf. Und dafür bewundere ich sie. Oder Bono: Er ist der Sänger einer glaubwürdigen Rockband,

gleichzeitig aber auch ein echter Promi. Genau wie Elton John. Du musst einfach die entsprechende Persönlichkeit

dafür haben.


Chris: Dabei verlierst du auch immer etwas von deiner Freiheit – eben einfach so auf die Straße zu können.



Eins Live: Was ihr immer noch tut?



Chris: Ja, wir sind gestern Abend durch Köln gelaufen, und keiner hat’s gemerkt.


Neil: Das ist einfach unbezahlbar. Etwas, auf das ich nie verzichten möchte.



Eins Live: Ihr seid im Sommer auf Tour. Habt ihr schon eine Idee, wie die Shows aussehen könnten?



Chris: Da sind wir noch ganz am Anfang der Planung. Bislang wissen wir nur, wer die Show designt, und dass es

dabei um Licht und Projektionen gehen wird. Das ist alles, was ich verraten kann. Aber es wird bestimmt

b eindruckend. Ein echter Hingucker.



Eins Live: Wobei ihr erst nach der WM anfangt?



Chris: Vorher geht gar nichts. In London wurden alle großen Konzerte während der WM abgesagt. Und dagegen

können wir nichts machen.



Eins Live: Hand aufs Herz: Wer wird Weltmeister?



Chris: Es wäre nett, wenn England das endlich mal wieder schaffen würde. Aber letztlich ist es doch so: Die

Deutschen können noch so ein schlechtes Team haben, sie gewinnen trotzdem. Oder Brasilien. Auch, wenn die im

letzten Finale grottenschlecht waren.


Neil: Ich glaube, ich organisiere ein Festival für Leute die Fußball hassen. Ganz einfach, weil ich es

interessant finde, dass in einer Stadt wie London in diesem Zeitraum kaum Konzerte stattfinden. Und weil mich

die Weltmeisterschaft völlig kalt lässt. Deshalb denke ich darüber nach, ein Konzert mit elektronischer,

klassischer oder ambient-mäßiger Musik zu veranstalten. Vielleicht sogar im Hyde Park.


Chris: Ich komme nur, wenn du das Spiel auf einer Großleinwand zeigst.


Neil: Nein, das Ganze findet am Abend des Endspiels statt – und wir tun einfach so, als würde es nicht

existieren.

Taken from: Eins live
Interviewer: Marcel Anders