Im Panzerkreuzer Plattenbau

Bei der spektakulären „Hochhaussinfonie“ von Pet Shop Boys und Dresdner Sinfonikern lebte an der Prager Straße in Dresden Geschichte auf




Gerda Neuber wohnt im achten Stock ihrer Platte an der Prager Straße in Dresden, 47 Quadratmeter, seit elf Jahren. Früher, als ihr Mann noch lebte, wohnte sie in einer Villa mit 120 Quadratmetern. Jetzt steht sie am späten Donnerstagabend auf dem schmalen Balkon der Nachbarin und schaut, was da unten vor sich geht. Die Straße ist voll wie vielleicht zuletzt zu den Demonstrationen zur Wendezeit, 10.000 Menschen stehen und sitzen da zwischen Centrum-Warenhaus und Wiener Platz. Sie alle schauen auf den gigantischen 240-Meter-Block und damit auch ein bisschen auf sie, angeblich ist es die größte Wohnzeile Deutschlands. Und eben diese ist das Zentrum der „Hochhaussinfonie“, der unbestrittene Höhepunkt der 800-Jahr-Feierlichkeiten der Stadt. „So etwas war noch nie da“, ist sich Neuber, immerhin 88 Jahre alt, sicher. „Das ist wunderbar, vielleicht kommt das auch nie wieder vor.“




Die Pet Shop Boys, weltweite Superstars des massentauglichen Dance-Pop, haben es mit den Dresdner Sinfonikern, dem europäischen Spitzenorchester für außergewöhnliche zeitgenössische Projekte, aus der Taufe gehoben. Sie haben die Musik zu Sergej Eisensteins meisterhaftem Revolutionsepos „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925 neu vertont, 2004 feierte die musikalische Neuschöpfung ihre Uraufführung in London. In Dresden jedoch machen die Musiker daraus ein spektakuläres Film-, Licht- und Tonprojekt, das ganz von der Symbolik des Ortes lebt.




Ein Projekt, das ganz von der Symbolik des Ortes lebt




Wie spektakulär, das sieht man nur von der Prager Straße selbst. Dort drängeln sich die Besucher kurz nach 22 Uhr noch bei fast 30 Grad und recken sprichwörtlich die Köpfe. Auf der Platte patrouillieren zwei Matrosen, das Dach wird zur Reling, der Panzerkreuzer Plattenbau ist eröffnet. Darunter, auf jeweils drei Mal sieben Balkonreihen seitlich der Leinwand sitzen die Sinfoniker in ihren knallig-gelb erleuchteten Waben. Es wirkt, als wäre der Orchestergraben in die Vertikale ausgeklappt, unten die Streicher, oben die Bläser. Über der Leinwand sitzen die Pet Shop Boys, die zwei Balkone leuchten in dunklem Rot. 44 der insgesamt 246 Balkone werden damit bespielt, während der Film über die Leinwand flimmert. Davor thront der Dirigent in luftiger Höhe – wie in einem Tower hat ihn ein Kran in 15 Meter Höhe gehoben.




Da bekommt Balkonien einen völlig neuen Klang




Mit der Sicht hapert es zwar etwas, denn nur die Minderheit der Zuschauer kann ungestört auf die Leinwand sehen. Dafür bekommt Balkonien einen völlig neuen Klang: Es ist eine enorme musikalische Leistung, dass auf die großen Distanzen das Zusammenspiel so hervorragend funktioniert. Auch die Akustik ist sehr gut. Und, fast erstaunlich, die Pet Shop Boys, eher für einfache musikalische Strukturen bekannt, liefern exzellente Arbeit ab. Die grundsätzlichen Stimmungen des Films wie das Aufbegehren der Schiffsbesatzung, das Elend der Bevölkerung, Emotionen wie Kampf, Wille und Hoffnung werden hervorragend transportiert. Übernehmen die Elektropop-Elemente die musikalische Führung, ergänzt sie das klassische Repertoire – und umgekehrt.
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In den besten Szenen wird das Revolutionsepos musikalisch entstaubt und ein popästhetisches Gewand darüber gelegt, das durch seine Konsequenz besticht. Das hat Eleganz, Kraft und auch Witz. Zum Schluss, gegen Mitternacht, werden alle bejubelt. Brav bedanken sich die Pet Shop Boys und gratulieren Dresden zum Jubiläum und geben einen Auszug unter dem Titel „No time for tears“ („Keine Zeit für Tränen“) als Zugabe. Es ist ein Freiheitslied für den Wandel, mit der Zeile „Zusammen sind wir stark“.




Wandel, Revolution und Reformen sind auch die unausgesprochenen Motive des Abends. Ging vom Panzerkreuzer 1905 das Signal für die erste Russische Revolution hin zum Kommunismus aus, startete an der Prager Straße 1989 die friedliche Revolution vom Kommunismus weg. Ausschnitte davon sind in Dresden in einem Vorfilm zu sehen. Die filmische Montage zeigt auch Bilder von Überwachungs-Kameras, die auf den heutigen Ibis-Hotels standen. Etliche Zuschauer sind davon sichtlich bewegt, es ist wohl der emotionale Höhepunkt des Abends. In diesen Minuten ist förmlich zu spüren, dass der Aufführungsort, die gigantische Platte auf der Prager Straße, weit mehr ist als nur Kulisse.




Auch für Gerda Neuber ändert sich das Leben – schon wieder




Das weiß auch Gerda Neuber, sie hat den Wandel miterlebt. 2007 muss sie allerdings raus aus dem 60er-Jahre-Block, dann wird saniert, „ganz schön aufgehübscht“, wie es beim Vermieter, der Dresdner Woba, heißt. Schon jetzt ist nur noch ein Viertel der Wohnungen belegt und praktisch jeder der Bewohner im Rentenalter. Die Prager Straße findet Neuber inzwischen weniger schön. „Sie ist kälter geworden“, sagt sie. „Ein Brunnen ist weg, vieles ist neu. Aber alles Neue ist eine Veränderung, und da muss man eben durch.“

Taken from: Freie Presse
Interviewer: Daniel Gräfe