«Hochhaussinfonie» auf Balkonien






«Wir sind das Volk!» schallt es aus den Lautsprechern auf der Dresdner Flaniermeile Prager Straße vor einem unsanierten Plattenbau. In der Mitte der grauen Gebäudefassade sind auf einer riesigen Leinwand Filmsequenzen und Fotografien aus der Wendezeit von 1989 zu sehen. Unter den Zuschauern kehrte am Donnerstagabend beim Anblick des originalen und zum Teil erstmals veröffentlichten Bildmaterials gespenstische Ruhe ein.

Zu Tausenden waren sie auf die einstige sozialistische Prachtstraße vor dem Plattenbau gekommen und wurden Zeugen eines wohl weltweit einzigartigen Kunstprojektes. Der fast 40 Meter hohe und 240 Meter lange Elfgeschosser aus den späten 60er Jahren war Bühne für die «Hochhaussinfonie», einer multimedialen Inszenierung aus Film, Musik und Licht der Dresdner Sinfoniker und des britischen Pop Duos Pet Shop Boys.

Nachdem auf der Leinwand an jene Tage der friedlichen Revolution in der DDR erinnert wurde, unter anderem mit Filmmaterial von Überwachungskameras in der Prager Straße von 1989, gingen auf den Balkonen der angeblich längsten Platte Deutschlands die Spots für die Musiker an. Bei dem Konzert erklang ein von den Pet Shop Boys komponierter Soundtrack zum Stummfilmklassiker «Panzerkreuzer Potemkin».

Der Film von Sergej Eisenstein (1898-1948) wurde auf die Hausfassade projiziert und setzte das Thema von Aufstand und Revolution fort. Über der Filmwand in einem Balkon in der letzten Hausetage thronten die Pioniere der elektronischen Tanzmusik Neil Tennant und Chris Lowe in rotem Schummerlicht mit ihren Keyboards.

Beidseitig der Leinwand besetzten die Dresdner Sinfoniker jeweils drei in gelbem Licht getauchte Balkone über sieben Stockwerke. Der ungewöhnliche Orchestergraben war teils mit Sonnenschirm, Lichterketten und Geranienkästen geschmückt, denn die insgesamt 600 Wohnungen des Hochhauses sind zum Teil noch bewohnt. Den Takt für die 42 Musiker des Sinfonieorchesters gab der US-amerikanische Dirigent Jonathan Stockhammer aus einem vorgelagerten weißen Kran in 25 Metern Höhe und rund 40 Metern Entfernung vom Haus mit einem Leuchtstab an.

Hinter ihm drängten sich dicht auf dem eingezäunten Festgelände auf der Prager Straße die nach Angaben der Stadt rund 10.000 Schaulustigen. Die Veranstaltung, die als ein Höhepunkt der Feierlichkeiten des 800-jährigen Stadtjubiläums von Dresden gilt, sei ausverkauft gewesen, sagt Karla Kallauch vom Veranstaltungsbüro 2006.

Manche Zuschauer hatten es sich auf dem blanken Boden gemütlich gemacht, auf Stühlen oder am Rand der Brunnenanlagen auf der Straße. Nach anderthalb Stunden des Crossovers aus Kino, elektronischer Clubmusik und orchestralem Konzert reckten sich vom Dach des Hochhauses fünf Lichtstrahlen in den nächtlichen Sommerhimmel.

Das Publikum jubelte und bedankte sich mit Standing Ovations. «Ich bin begeistert von der Kombination aus Film und Konzert», schwärmte Giso Zeibig aus Dresden. Er habe nicht geglaubt, dass in der innerstädtischen Fußgängerzone «ein derart guter Sound» erzeugt werden könne. Die Dresdnerin Annette Hähner war beeindruckt, «dass ein hässliches Gebäude noch einen kulturellen Sinn bekommen kann».

Ein «neues Verhältnis zum Plattenbau» hat auch der Geschäftsführer der Radeberger Exportbierbrauerei, Axel Frech, bekommen, der zusammen mit Frau und Freunden dem Spektakel beiwohnte. Das Zusammenspiel technischer und logistischer Leistung sowie musikalischer Arrangements sei «beeindruckend» gewesen.

Am meisten freute sich wohl einer der Urheber der Inszenierung, Sven Helbig von den Dresdner Sinfonikern, der am Pult alle Befehle für Licht-, Ton- und Bildeinsatz gab. «Nichts ging schief, alles hat geklappt», sagte er erleichtert weit nach Mitternacht. Alle Erwartungen hätten sich erfüllt.

Taken from: Neue Musik Zeitung
Interviewer: Sandra Hänel