Die Dance-Musik ist uns zu mainstreamig geworden

Pet-Shop-Boys-Sänger Neil Tennant (47), über


Flugangst, Eminem und das neue Gitarrenpop-Album


‘Release’. Was ist bloss mit den Pet Shop Boys los


– die Discobrüder krachen plötzlich mit Gitarren




SonntagsZeitung: Auf Ihrer neuen CD inszenieren Sie Eminem als Schwulen. Glauben Sie wirklich, der homophobe Rapstar

sei schwul?



Tennant: Nein. Aber ich weiss: Eminem ist nicht er selbst, wenn er rappt. Er karikiert Amerikas schwulenfeindli-che Seite.

In unserem Lied ‘The Night I Fell In Love’ stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn ein schwuler Fan Eminem träfe und mit dem

Star ein Verhältnis begänne. Viele US-Rapper sind schwul, nur weiss das keiner.



SonntagsZeitung: Finden Sie als geouteter Homosexueller Eminems homophobe Töne etwa cool?



Tennant: Nein. Eminem spielt, wie einst David Bowie, eine Rolle, die Unbehagen und Verwirrung auslöst. Er ist ein richtiger

Künstler. Darin liegt der Sinn von Popmusik: Sie sollte junge Leute herausfordern und provozieren. Pop ist unglaublich

formelhaft geworden. Die Boygroup Westlife oder diese ‘Popstars’-Bands erinnern mich an die Musik, die meine Eltern hörten:

leichte Welle voller Klischeezeilen wie ‘Queen Of My Heart’. Unsere Songs dagegen drücken etwas aus. Nehmen Sie die Ballade

‘Love Is A Catastrophe’, sie zwingt die Leute zum Zuhören. Wir verwandeln das banale Leben in schöne Musik.



SonntagsZeitung: ‘Don”t like rock’, behaupteten die Pet Shop Boys 1986 im Lied ‘Paninaro’. Jetzt spielen Sie auf der

CD ‘Release’ selber Gitarre. Können Sie uns diesen Gesinnungswandel erklären?



Tennant: Die neue musikalische Richtung ist eine Reaktion auf die Omnipräsenz von Dance. Dance-Musik hat sich in eine

Industrie mit unzähligen Magazinen und Superclubs verwandelt. Sie ist uns zu mainstreamig, zu berechenbar, zu langweilig

geworden.



SonntagsZeitung: Und deshalb klingen Sie nun wie Sting oder Jon Bon Jovi?



Tennant: Well, wir waren nie eine reine Dance-Band. Auf unseren Platten gabs immer Balladen und Gitarren. Auf ‘Release’

präsentieren wir uns als Songwriter und Musiker, ohne Make-up und Kostüme.



SonntagsZeitung: Müssen Sie sich nach 28 Millionen verkauften Platten und diversen Preisen noch beweisen?



Tennant: Dieses Album ist einfach ein sehr persönliches Statement. Wir nahmen es in meinem Haus in Nordengland auf. Früher

hasste es Chris (Lowe, der andere Pet Shop Boy), wenn ich Gitarre spielte. Trotzdem kauften wir eines Nachmittags zusammen

drei Gitarren. Und machten dann im Grunde das, worin wir immer gut waren: Melodien schreiben.



SonntagsZeitung: Die neue Single ‘Home And Dry’ erzählt von dem Gefühl, daheim zu warten und nicht zur Ruhe zu kommen,

bis der Geliebte sicher aus dem Flugzeug steigt. Der Pet-Shop-Boys-Song zum 11. September?



Tennant: Stimmt, in diesem Song geht es um Flugangst. Nach dem 11. September gewann er allerdings eine neue Be-deutung.



SonntagsZeitung: Fliegen war für mich immer schon ein Horror. Mitten auf einem Flug nach New York aufzuwachen und

tief unter einem das wogende Meer zu betrachten ist eine eindringliche Erfahrung. Da wirkt das Leben plötzlich sehr fragil.

Taken from: Schweizer Sontagszeitung
Interviewer: Philip Wegmüller