Aufprall der Welten






Schon am Gehen, bringen es Stephan Gräber und Sven Helbig noch einmal auf den Punkt. Sie betonen, dass die ‘Hochhaussinfonie’ auf und an dem 240 Meter langen Wohnblock der Prager Straße ein riesiges Gemeinschaftsprojekt ist, an dem viele ihren Anteil haben. Die Verkehrsbetriebe genauso wie natürlich die Woba, die Intendanz des Stadtjubiläums und die zahllosen ‘kleinen’ Helfer. Fakt ist, dass man sich den 20. Juli längst im Kalender angestrichen haben sollte. Denn der gemeinsame Open-air-Auftritt der Dresdner Sinfoniker mit der britischen Popband Pet Shop Boys, die live zu Sergej Eisensteins Filmklassiker ‘Panzerkreuzer Potemkin’ spielen werden, ist ein einmaliges und Aufsehen erregendes Ereignis. Darüber und über das Wachsen der Idee hat Andreas Körner für DNN mit den Urhebern gesprochen: mit Sven Helbig (Dresdner Sinfoniker) und Stephan Gräber (Waterloo Produktion).

Frage: Wann haben Sie den ‘Panzerkreuzer’ das erste Mal gesehen?

Stephan Gräber: Natürlich in der Schule, wie sich das für ein DDR-Kind gehört. Irgendwann Mitte der 1980er war das, im Rundkino.

Sven Helbig: Bei mir war es so 1982 herum.

Die filmgeschichtliche Bedeutung von Eisensteins Opus ist unbestritten. Hat das Werk damals mit Ihnen etwas angestellt?

Helbig: Wir waren natürlich zu jung dafür. Ich war einfach ein Kind, das sich einen Film über den Kommunismus angucken musste. Da kannst du noch gar nicht sehen, dass es da nicht nur um Kommunismus geht, sondern um Menschen, die sich befreien. Und ich als Kind einer Eisenhüttenstädter Plattenbausiedlung habe mich sowieso nicht so unterdrückt gefühlt. Später war das natürlich anders. Ich habe den ‘Panzerkreuzer’ zur Wendezeit oft gesehen. Über Schnitt und Kamera fehlte mir das Wissen, aber die Qualität des Films konnte man spüren. Plötzlich wurde der Propagandafilm absurder Weise zur Triebkraft der Wende, also gegen den DDR-Sozialismus. Das finde ich eine grandiose Umdeutung. Und man wird den Film noch oft umdeuten.

Gräber: Ich erinnere mich noch daran, dass wir damals viel lieber ‘Beat Street’ zum zwölften Mal gesehen hätten, als Eisenstein zum ersten. Von Freiwilligkeit konnte keine Rede sein. Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen, danach erst wieder, als es an die Vorbereitung der ‘Hochhaussinfonie’ ging.

Als Dresdner bzw. seit längerem in Dresden Lebender: Wie empfinden Sie die Prager Straße?

Gräber: Ich glaube, sie stand zu DDR-Zeiten auch für mich als das, wofür sie gebaut wurde: Als Prachtmeile mit Warenhaus, Pusteblumen-Springbrunnen, Rundkino und mit der ‘Jugendmode’ in der Nebenstraße. Wir waren also zwangsläufig öfter dort. Heute findet mein Leben woanders statt.

Helbig: Auch als Eisenhüttenstädter kannte man die Prager Straße. Ich habe heute natürlich einen veränderten Blick auf sie. Architektur und Ideologie lösen sich langsam voneinander. Heute sollte man eigentlich begreifen, dass die Prager Straße ein perfektes architektonisches Ensemble ist oder eher war, das die Epoche der Nachkriegsmoderne repräsentiert. Irgendwann wird man sicher auch den Kulturpalast als schön empfinden, doch wer ein Auge für Architektur hat, sieht es schon heute. Die nächste oder übernächste Generation wird fluchen, sollte er verbaut oder umgestaltet werden. Ich finde die Argumentation befremdlich, dass die Symbole der Macht beseitigt werden müssen. Schlösser und Paläste werden doch auch wieder aufgebaut, obwohl sie einst Macht und auch Unterdrückung symbolisierten. Ich gebe zu, dass meine Sicht auf die Prager Straße gerade etwas verklärt ist, weil ich mich im Zuge des Projekts intensiv damit beschäftige, Raffinessen der Architektur zu erkennen. Sieh’ dir einfach mal die Beton-Zierkante des Blocks an. Oder die V-Füße, die dem Koloss Luft geben. Daraus spricht das Architektur-Genie Le Corbusier.

Den Film jetzt gerade an diesem Ort aufzuführen, scheint ideal. Es waren aber auch andere Orte im Gespräch, das Neubaugebiet Prohlis beispielsweise.

Helbig: Wir haben verschiedene Ideen entwickelt und wieder verworfen. Wichtig war nur, dass sich das Ganze nicht auf die barocke Geschichte Dresdens bezieht, sondern einen modernen, jüngeren Ausschnitt zeigt. Irgendwie kam dann eine alte Idee der Sinfoniker ins Spiel, die Musiker einmal auf Balkone eines Hauses zu verteilen. Denn für uns sehen Plattenbauten aus wie aufgeklappte Orchestergräben. Doch die Idee an sich ist wertlos, wenn das Futter fehlt. Von Waterloo kam die Prager Straße ins Gespräch, und plötzlich liefen alle günstigen Komponenten zusammen: Die Idee, der Ort, der alte Film, das Stück Popkultur der Pet Shop Boys, die perfekt zu dieser Art Wohnkultur passen.

Gräber: Der Titel ‘Hochhaussinfonie’ entstammt ja noch der Frühphase der Ideenfindung, als nur klar war, dass zeitgenössische Musik im Plattenbau erklingen soll.

Helbig: Wobei wir im ersten Moment die Prager Straße so empfanden, dass sie eigentlich schon in der neuen Welt angekommen ist. Einzig dieser große Block verkörpert noch das Urbane und Raue, das wir als Kulisse wollten. Deshalb ist es für das Projekt ganz gut, dass das Haus noch nicht saniert ist und thront wie der Panzerkreuzer selbst. Da prallen die Welten noch aufeinander: modern, altmodisch, Kapital, Revolution, die Flut – ein großer Geschichtskessel, unter dem wir noch mal ein wenig die Flamme hochdrehen. Für die Menschen im Block wird es allerdings langsam Zeit für eine gründliche Sanierung.

Macht es eigentlich Sinn, die einzelnen musikalischen Anteile am Projekt auseinander zu dividieren?

Helbig: Das muss jeder handhaben, wie er es möchte. Ich bin zunächst nur der Produzent des Albums, der sich natürlich dafür eingesetzt hat, dass die Sinfoniker aktiv werden und jene Musik einspielen, die wiederum zu einem Teil von Torsten Rasch und mir entworfen wurde. Alles, was Streicherarrangements und Programmierung der Beats und Sounds, das Koppeln der Themen angeht. Die Pet Shop Boys haben uns hinzugeholt, weil sie genau diese Dimension der Tiefe in ihre Kompositionen einbringen wollten. Für die Vertonung des Films sind die Sinfoniker also hauptsächlich der Klangkörper, dagegen sind wir für die ‘Hochhaussinfonie’ in der Prager Straße der aktive Teil, Ideengeber und Regisseur.

Bleiben wir kurz bei den Dresdner Sinfonikern: Wie würde eine kleine Bilanz, zehn Jahre nach Gründung des jungen Orchesters, ausfallen?

Helbig: Durchweg positiv. Dafür, dass sich so viele Menschen nicht gerade für moderne Musik interessieren, kann man nur von einem Erfolg sprechen. Die Projekte waren fantastisch, der Zuspruch sehr gut, unser Profil ist geschärft. Ich registriere sehr aufmerksam, wie anderswo mit zeitgenössischer Musik umgegangen wird, da können wir hier in Dresden wirklich froh sein. Kollegen beneiden uns dafür, vor allem für die Resonanz bei Uraufführungen unbekannter Komponisten. Ich bin sehr glücklich damit.

Unterscheidet sich der Dresdner ‘Potemkin’ wesentlich von der 2004er Uraufführung in London?

Helbig: Alles ist ein wenig größer. So stehen insgesamt 42, nicht 26 Streicher auf den Balkonen, denn wir wollen ja schließlich eine richtige Matrosen-Mannschaft.

Was sind die größten logistischen Herausforderungen?

Gräber: Die lange Vorbereitungszeit hat uns erlaubt, uns auf mögliche Probleme einzustellen. Die eigentliche Herausforderung sind nicht einzelne Elemente wie Technik und Sound, sondern die Komplexität des Projekts. Allein die Vorstellung ist etwas verrückt, dass da 42 Musiker auf Balkonen stehen, nie ihren Nachbarn, nur in 37 Metern den Dirigenten mit seinem Leuchtstab sehen. Für die Gesamtproduktion ist es das Spannendste, dass wir ein teilweise bewohntes Haus bespielen. Wir sind also von Wohnung zu Wohnung gelaufen, in denen zumeist ältere Menschen wohnen, und haben dafür geworben, dass wir für ein paar Tage in deren Lebensrhythmus eingreifen dürfen, dass sie drei Tage die Sonne nicht sehen, weil wir ihnen eine Leinwand vors Fenster hängen. Logistisch lässt sich die Straße eigentlich ganz gut beherrschen. Wir wollten sie als das belassen, was sie ist: Eine Fußgängerpassage, die man erlaufen kann. Sie wird an diesem Abend also nicht zu einer bestuhlten Open-Air-Arena.

Ist es ein vielleicht überschätztes Risiko, dass mit den Pet Shop Boys eine international hochkarätige Band integriert ist? Erschwert dieser Fakt das Ganze vielleicht doch nicht?

Gräber: Wir haben das sehr zeitig abgeklärt. Der Tourmanager hat die Begehung ja mitgemacht. Er weiß also, was auf sie zukommt. Das Wichtigste ist wohl, dass die Band selbst sehr begeistert ist von diesem Ort.

Helbig: Vor allem, weil er die Grundidee trifft, nämlich das Projekt an historisch interessante Plätze zu bringen; nach Odessa, an den Hafen von New York, auf den Platz des Himmlischen Friedens. Das ist alles in Planung, weil das Projekt einen sehr langen Atem haben wird. Der Intention wird die Inszenierung in Dresden wohl am ehesten gerecht. Dresden hat von außen eine ganz andere Strahlkraft als in der Stadt selbst, gerade in England und den USA. Der Ort ist nicht nur Kulisse, sondern integraler Bestandteil, natürlich auch durch die Menschen, die 1989 dabei waren und teilweise noch auf der Prager Straße wohnen. Da ist Geschichte noch nicht erloschen, da steigt noch Schwefel auf. Auch durch den Vorfilm, der sich mit dieser Geschichte auseinandersetzt und auch Bilder aus Überwachungskameras zeigt. Das alles ist ziemlich einzigartig.

Dass sich Chris Lowe und Neil Tennant in den letzten 20 Jahren nicht nur mit Popmusik, sondern übergreifend intensiv mit Theater, Film und Fotografie beschäftigt haben, ist mittlerweile bekannt. Hat Sie das beim näheren Hinsehen trotzdem überrascht?

Helbig: Ja, schon, vor allem, dass das Interesse daran so aktiv ist in ihrem Leben. Der Hintergrund wird schnell klar, wenn man mit ihnen redet. Da ist ein großes Wissen vorhanden, über Architektur, Geschichte, Kunst.

Gräber: Die Pet Shop Boys sind Helden einer Jugendzeit. Da kann man sagen, was man will, das ist bis heute schlicht und einfach gut gemacht. Mich begeistert das, weil sie sich ständig neu erfinden und Impulse für ihre Kunst setzen.

Taken from: Dresdner Neueste Nachrichten
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