Zu alt für die Disco:
Sie sind die Könige des Synthesizer-Pop – doch mit ‘Release’
bringen die Pet Shop Boys ein ungewöhnliches Songwriter-Album
heraus, das sogar Gitarren enthält.
Der britische ‘Guardian’ formulierte kürzlich sehr treffend: Die Pet Shop Boys gehen mit ihrem neuen, insgesamt achten Studioalbum ‘Release’ ‘back to the basics’ – auch wenn es nicht ihre eigenen Wurzeln sind. Denn die Klanglandschaften der britischen Pop-Band erinnerten stets an opulente Gemälde, barocke Theater oder ausufernde, selbstvergessene Clubnächte. Die visuellen Inszenierungen sind camp und frech gewesen, wobei der Zitat-Reigen vom Inquisitions-Drama (‘It’s A Sin’) bis zu Ausflügen in die Performance Art (‘I Don’t Know What You Want’) reichte. Und jetzt das: Das erfolgreichste Duo der britischen Musikgeschichte präsentiert ein Songwriter-Album und ein Dogma-Video. Keine bombastischen Sequenzer-Hymnen, die den Disco-Klang der Gegenwart beeinflussen wollen.
Inspiration findet Sänger Neil Tennant momentan bei den Folk-Poppern Kings Of Convenience oder Rock-übervater Bob Dylan. Denn Tennant und sein Partner Chris Lowe sind deutlich über vierzig. Immer seltener durchstreifen sie das Londoner Nachtleben. Obwohl sie erst kürzlich im Schwulenclub ‘Heaven’ einem Konzert der Elektro-Queen Miss Kittin’ zusahen. Ein hochgewachsener Mann mit modischem Irokesen-Schnitt und Fotokamera stand bei ihnen: Wolfgang Tillmans. Dessen Bilder leben von Momenten des Zufalls, die er als Fundstücke des Alltags zu inszenieren versteht.
Der deutsche Künstler und Turner-Preisträger liebt auch Mäuse. Beide Passionen verknüpft er in dem neuen Pet-Shop-Boys-Video ‘Home And Dry’ zu einem radikalen Dogma-Film, der die kleinen Nager in der Londoner U-Bahn auf der Jagd nach Futter zeigt. Sie laufen flink hin und her, mal aus dem Bild, mal aus der Tiefenschärfe heraus. Zweimal geraten auch die Pet Shop Boys ins Bild. Auf einer schlecht beleuchteten Bühne singen sie. Ihre Kleidung wirkt erschreckend normal. Weder Hüte, Kappen noch Perücken. Eine Kneipen-Bühne. Als müssten sie noch einmal ganz von vorne beginnen.
Von Mäusen und Menschen
Kann man so eine Single illustrieren? Die Plattenfirma EMI war ratlos: Nein, ein neues Video musste her! Die Pet Shop Boys weigerten sich jedoch. Und sie können das. Mehr als 25 Millionen verkaufte Platten sprechen für sich. Also wurde das Video an die Sender verschickt. MTV hielt es prompt für nicht zeigbar. Nur bei Viva kann man es sehen – allerdings erst nach Mitternacht.
Trotzdem stieg ‘Home And Dry’ ohne TV-Promotion sowohl in die britischen als auch deutschen Top 20 ein. Zum 34. Mal haben die Pet Shop Boys damit einen Hit produziert, und in der Tat ist der Auftakt-Song des aktuellen Albums ein Ohrwurm. ‘Oh tonight, I miss you/ Oh tonight, I wish you/ Could be here with me/ But I won’t see you/ Till you’ve made it back again/ Home and Dry.’ Jemand wartet darauf, dass der geliebte Freund, ein Alkoholiker vielleicht, endlich nüchtern und trocken nach Hause zurückkehrt. Eher darf er es nicht. Das klingt schön und sentimental: die Abwesenheit des Anderen zu betrauern, über dessen Schicksal man auch selbst verfügt.
In ‘I Get Along’ wird nicht länger gewartet, die Frist ist abgelaufen. Der Protagonist des zweiten Songs verlässt das Heim, hat es satt, mit billigen Ausreden abgespeist zu werden. Mit hoch erhobenem Kopf schmettert Tennant eine Melodie, die an Oasis erinnert: Ich komme auch ohne dich sehr gut zurecht. Der Titel gehört zu den besten Momenten des neuen Werkes. Er vereint Brit-Pop-Referenzen mit sanften Synthie-Sounds und findet Zeilen wie ‘I’ve been trying not to cry/ When I’m in the public eye’ – das ist kitschig und geht doch ans Herz.
Versöhnliche Töne finden auf der äußerst ruhigen Platte dennoch keinen Platz. Richtig verbittert klingt ‘Love Is A Catastrophe’, was die Pet Shop Boys nicht müde werden, an Fallstudien zu demonstrieren. Liebe führt zu Abhängigkeit, Verlust der eigenen Persönlichkeit und Resignation: ‘No concentration/ Just re-running conversation/ Trying to understand/ How I fell into that quicksand.’ Dazu hebt Johnny Marr an der Gitarre zu einem Crescendo an, dass die Saiten-Arien von Suede zu kopieren scheint.
Wieso überhaupt, die Gitarre. War sie nicht früher als Teufelswerkzeug von den zwei Edel-Poppern verschrien worden? ‘This Is How I Learnt To Hate Rock’n’Roll’ lautete ihr musikalischer Kommentar zur rüde-vulgären Lad-Kultur des Brit-Pop. Wie man Oasis und die Pet Shop Boys aber gleichzeitig verehrt, beschreibt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem Buch ‘Soloalbum’. So hielten die beiden Bands auf dem Roskilde-Festival 2000 dem Drängen der Veranstalter gemeinsam stand, die sie bewegen wollten, wieder aufzutreten, nachdem Zuschauer auf dem schlammigen Terrain ausgerutscht und von der Menge erdrückt worden waren.
Da hatten die Pop-ästheten Tennant und Lowe bereits eine moderate Stilkorrektur vollzogen. Ihre schwülstigen, übereinander geschichteten Keyboard-Sounds gibt es auf ‘Release’ nicht (Parlophone/EMI). Die Akustik- oder E-Gitarre bestimmt das Klangbild mehr denn je. Von einer Rock-Platte zu sprechen, wäre aber verfehlt. Es bleibt Pop. Als sich die Musiker derart verhalten und schnörkellos im Februar dem Londoner Publikum präsentierten, machte sich Enttäuschung breit. Piers Martin von ‘The Face’ sagt: ‘Das war sehr enttäuschend. Jeder erwartete, dass sie ihre Hits spielen würden. Und dann das!’ Ein kleiner Art-Rock-Abend lag außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, obwohl der neue, abgespeckte Sound so unerwartet in der Vita der Band gar nicht auftritt. Schon das vorausgegangene Album ‘Nightlife’ hatte mit einer bittersüßen Akustik-Ballade überrascht: ‘You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk’.
Nur ein Schulterzucken
Vor Fehltritten sind die ‘Elder Statesmen of Pop’ bei ihrem gedämpften Songwriting nicht gefeit. Auf der Platte gibt es ein Lied, das vielmehr durch die gute Absicht als die Umsetzung besticht. ‘The Night I Fell In Love’ erzählt die ambitionierte Geschichte eines schwulen Teenagers, der mit Brutalo-Rapper Eminem eine Affäre hat. Gehört doch Homosexualität im Hip-Hop nach wie vor zu den Tabu-Themen der Popindustrie. Was das Duo jedoch daraus macht, erinnert zu sehr an einfältige Kinderlieder. Zu einem einlullenden Breakbeat und einer schlicht-lieblichen Gitarren-Harmonie rezitiert Tennant in naivem Ton: ‘When I asked/ Why have I heard so much/ About him being charged/ With homophobia and stuff/ He just shrugged.’ Alle Vorwürfe sollen flugs mit einem Schulterzucken erledigt sein? Von welt-weisen Dandys darf man sich mehr Bissigkeit erhoffen.
Dessen ungeachtet sorgen die Pet Shop Boys wieder für Aufsehen. In der ‘Spex’ ist ‘Release’ die Platte des Monats. Der altrock-orientierte ‘ME/Sounds’ vergibt vier von fünf Punkten mit dem Hinweis, es handle sich um Schaumschläger der besonderen Art. Es hat sich herumgesprochen, dass das enigmatische Pop-Duo hauptsächlich von dem Ruf zehrt, verflossene Hit-Macher zu sein. Daran vermag auch der spröde Minimalismus von Album und Video nicht mehr zu rütteln. Zumal die neue Enthaltsamkeit vor allem ein Problem aufwirft: Da der Genre übergreifende Mega-Hit, der die Theatergesten der Schwulenszene mit dem Zeitgeist nervlich hätte verbinden können, fehlt, scheinen die Superstars diesmal ihr Niveau einfach unterboten zu haben.
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Interviewer: Ulf Lippitz