Zwischen Gleisen – Und dem Himmel näher

Die Pet Shop Boys in Köln




Einer der berühmtesten Abgänge der Rockgeschichte ereignete sich im Januar 1978, als Sänger Johnny Rotten im

‘Winterland’ zu San Francisco ein völlig desolates Konzert der Sex Pistols mit den Worten beendete

‘schon mal das Gefühl gehabt, verarscht zu werden?’ Es war der allerletzte Auftritt der Punk-Ikonen und

gleichzeitig das brachiale Ende ihrer kurzen Höllentour durch die Musikindustrie. Das amerikanische Publikum,

verwundert und entsetzt zugleich, sollte erst später begreifen, was es da miterlebt hatte. Selbstzerstörung

als künstlerisches Konzept.



24 Jahre später müssen die Pet Shop Boys nach 28 Millionen verkaufter Schallplatten – darunter Disco-Hits wie

‘West End Girls’ und Einspielungen zusammen mit der späten Dusty Springfield – ebenfalls mit der Möglichkeit

gespielt haben, das eigene Image zu vernichten. Ansonsten wäre ihre musikalische Mission im letzten Mai beendet

gewesen, als ihr Musical ‘Closer To Heaven’ im Londoner Arts Theatre Premiere feierte. Der alte Traum von Neil

Tennant und Chris Lowe war in Erfüllung gegangen: Sie hatten den Rock’n’Roll-Zirkus endgültig ad absurdum geführt.

Erst durch die konsequente Weigerung live aufzutreten. Dann durch ein überbordendes Tourdesign mit Kostümen,

Tänzern, Filmen von Derek Jarman und Aufbauten von Zaha Hadid. Und nun die kleine Ensuite-Revue im Westend.

Die Herauslösung des perfekten Popsongs aus seinem Rock’n’Roll-Kontext war vollbracht. Was sollte jetzt noch

kommen?



‘Ich erinnerte mich an Paul McCartney, der nach Gründung der Wings bei den Universitäten anfragte, ob sie

auftreten könnten. Einfach wieder mit dem Kleinbus durchs Land ziehen, Matratze hinten drin – fertig. Das

hat mich inspiriert’, sagte ein augenzwinkernder Chris Lowe dem Guardian. Die Website der Band kündigt

‘ungewöhnlich gitarrenlastige Songs’ an.



Für ihr achtes Album ‘Release’ haben sich die Pet Shop Boys neu erfunden. Mit getragenen Harmonien und klassischen

Popsongs, die sie gemeinsam mit Smiths-Veteran Johnny Marr einspielten. Mit Texten über schwule Liebesaffären mit

sexy Jungs aus dem britischen Norden und einer verschrobenen Hommage an den geschassten Nordirland-Minister Peter

Mandelson. Das Video zur neuen Single ‘Home & Dry’ dürfte im zuständigen EMI-Produktmanagement Bestürzung hervorgerufen

haben: Der deutsche Fotograf und Turner-Prize-Träger Wolfgang Tillmans filmte auf grünstichigem Material drei Mäuslein

zwischen den Gleisen der Londoner U-Bahn, die minutenlang an den Resten weggeworfener Hamburger nagen. Dazwischen für

einige Sekunden hart einmontiert zwei kurze Konzertmitschnitte. Weiter nichts. Purer Minimalismus, wo sonst sechsstellige

Etats vergeben werden und allerneueste Effekt-Techniken zum Einsatz kommen. Ein Musikvideo in Dogma-Manier, das niemals

in die kommerziell wichtigen Rotationen von Viva und MTV kommen dürfte.




Im herben Rocker-Ambiente




Auch im einstmals so ungeliebten Livebetrieb machen sie ernst. Mit der halbakustischen Gitarre steht Neil Tennant

da, graumeliert, in Hemd und Hose und spielt zum Abschluss einer fünftägigen Kurztour durch graue britische

Universitätsstädte im herben Rocker-Ambiente der Kölner ‘Live Music Hall’. Normalerweise treten hier

Crossover-Bands wie Sum 41 oder Nickelback auf. Und wo sonst eine aufwendige Revue abgespult wird, begnügt

sich die Band mit sparsamer Lichtsetzung vor Aluminiumblenden. Blank und nackt wirkt das Ganze – ein Szenario

aus dem New Wave Arsenal.



Schon der ultra pünktliche Konzertbeginn um acht Uhr scheint ein unmissverständliches Zeichen zu sein. Denn

eigentlich soll hier ein intimes Testkonzert für Presse und Fans stattfinden, und so etwas wird normalerweise

als gesellschaftliches Ereignis gefeiert. Die lokale Szeneprominenz drängelt sich um die überfüllten Bars,

doch die Band hat auf nette Atmosphäre verzichtet.



Stattdessen wird ihre getragene Hymne ‘Being Boring’ aus dem Jahre 1990 zum Schlüsselsong des Abends. Nie

langweilig werden, nie ans Ende der Zeiten kommen gerät zum Motto. Selbst wenn man dafür das eigene Publikum

verprellen muss. Die spärlich gesetzten Hits werden kurz angerissen oder in veränderten Versionen gespielt.

‘Was It Worth It’ geht als Folksong über die Bühne, ‘New York City Boy’ gerät zur stampfenden Hi-Energy-Stück.

Die Pet Shop Boys können übergangslos mit drei, vier Genres spielen. Da wird ‘Love Comes Quickly’ zu einem

pumpenden Techno-Brett, was von den rustikaleren Fans in der ausverkauften Halle mit einem schnöden ‘voll geil,

ay’ kommentiert wird.



Überhaupt ist der Abend keine wohlgestylte Gala, sondern eine durchaus prollige Version eines Rockkonzerts.

Ob die Pet Shop Boys wohl wissen, wer ihr Publikum ist? Nach einer Stunde ist der befremdliche Spuk zu Ende.

Bei der Zugabe geht die A-capella-Version von ‘Go West’ nach dreißig Sekunden in eine Powerversion über. Nie

waren sie klanglich so nah an den Tribünen der Fußballstadien, wo ihre Version des Village People- Klassikers

zum Gassenhauer wurde. Arsenal-Fan Chris Lowe dürfte es gefreut haben. Nach einem letzten getragenen ‘tiny little

lovesong’ verabschiedet Tennant die fünfköpfige Band wie nach einem Jazzkonzert. ‘My name is Neal Tennant and we

are The Pet Shop Boys’, verkündet er und tritt ab. – Irgendwie war das nötig; sonst hätte man es nicht geglaubt.

Ein erstaunlicher, verstörender Abend.

Taken from: Süddeutsche Zeitung
Interviewer: Ralf Niemczyk