Pop sollte das Zeitgeschehen reflektieren

Die britischen Pet Shop Boys haben ihren digitalen

Luxus-Pop mit Gitarren gepolstert und präsentieren sich live

als so etwas wie eine richtige Band, demnächst auch in Zürich.

Ein Gespräch mit Sänger Neil Tennant.




Ihr neues Album klingt sehr elegisch. Als wollten sich die Pet Shop Boys mit ‘Release’ von ihrem Publikum verabschieden.


Ich kann Ihnen versichern, es wird noch viele weitere Pet-Shop-Boys-Alben geben. Aber es stimmt, ‘Release’ spannt einen

klaren emotionalen Bogen: Das Album beginnt sehr romantisch, dann geht die grosse Liebe bachab, und schliesslich endet ‘Release’

mit der Erkenntnis, dass man immer sein eigenes Schicksal bestimmt, dass man nie einfach Spielball der eigenen Gefühle ist.



Sie haben sich mit ‘Release’ von der Dance-Musik losgesagt. Warum eigentlich?


Weil es heute schon so viel Dance gibt, wollten wir nicht noch mehr davon generieren. Sie dürfen eins nicht vergessen: Als Chris

Lowe und ich vor zwanzig Jahren die Pet Shop Boys aus der Taufe hoben, da war Dance noch eine absolute Underground-Szene. Heute

steht diese Art Musik im Mittelpunkt des Mainstream. Also haben wir versucht, mit ‘Release’ unsere Stärken als Songwriter auszuspielen

und mehr Wert auf Melodien und Text zu legen als auf Rhythmen.



2001 haben die Pet Shop Boys das eigene Musical ‘Closer to Heaven’ in London uraufgeführt. Wie hat dieses Projekt Ihre Arbeit als

Songwriter beeinflusst?



Ich habe gelernt, disziplinierter zu schreiben. Bei einem Musical sind die Songtexte genauso wichtig für den Plot wie das Drehbuch,

darum muss jede Zeile Gewicht haben, da kann man nicht schlampen. Ich habe auch gelernt, Geschichten zu erzählen, in denen andere

Charaktere die Ich-Form übernehmen. ‘The Night I Fell in Love’ handelt beispielsweise von einer Liebesnacht eines Rappers, der ein

schwulenfeindliches Image hat, mit einem seiner männlichen Fans. Der Song spielt klar auf Eminem an, ist aber mehr spöttisch als

anklagend gemeint.



Polemik ist Ihre Sache nicht. In ‘Birthday Boy’ thematisieren Sie zwei rassistisch und schwulenfeindlich motivierte Morde, die

tatsächlich in England und in den USA verübt wurden, ohne dabei mit dem Zaunpfahl zu winken.



Die Morde an Stephen Lawrence und Matthew Shepard, um die es in ‘Birthday Boy’ geht, haben mich stark berührt: Im Song vergleiche

ich die beiden mit Jesus, weil sie durch ihren Tod die Öffentlichkeit wachgerüttelt und so die Welt verändert haben. Überhaupt

inspiriert mich viel von dem, was in der Zeitung steht: Ich habe Tony Blairs Krach mit seinem Minister und PR-Berater Peter Mandelson

ja auch als Grundlage für die Ballade ‘I Get Along’ benutzt. Für mich gehört es zu den Kernfunktionen des Pop, das alltägliche Leben

einzufangen und zu fixieren. Meiner Meinung nach sollte Pop das Zeitgeschehen reflektieren und vielleicht sogar die öffentliche Meinung

mitprägen.



Ist der fehlende journalistische Anspruch auch ein Grund, warum Sie in letzter Zeit regelrechte Hasstiraden gegen den Pop von

heute lanciert haben?



Ich bin schon wieder davon abgekommen, über so genannte Talentshows wie ‘Popstars’ herzuziehen. Mir ist inzwischen klar geworden,

dass der Millionenerfolg der englischen Singer-Songwriterin Dido eine viel grössere Wirkung auf die Musikszene gehabt hat als all

diese Sendungen. Dass Dido international einschlagen würde, konnte niemand vorausgesehen, und solange die Musikindustrie sich noch

selbst überraschen kann, ist es nicht ganz so schlimm um sie bestellt, wie ich gemeint hatte. Mich ärgert aber immer noch der fehlende

Ehrgeiz des modernen Pop, mehr zu sein als ein Produkt.



Die heutige Zeit erinnert stark an die späten Siebzigerjahre, denen wir ja den Punk zu verdanken haben. Birgt die aktuelle

Pop-Misere nicht auch eine Chance in sich?



Durststrecken gehören wirklich zum normalen Zyklus des Musikgeschäfts. Denken Sie doch an die späten Sechzigerjahre, als die

Musikszene in Bubblegum und progressiven Rock gespalten war. Dann kam Marc Bolan, der ein aufbrausender Verbindungsmann zwischen

Pop und Rock war. Heute haben wir eine ähnliche Situation wie damals: Es gibt sehr viel Bubblegum und sehr viel Dance, der meiner

Meinung nach so etwas wie der progressive Rock von heute ist.



Sie gehen diesen Frühling auf Europatournee. Wie wollen sie Ihren gitarrenlastigeren Sound auf die Bühne bringen?


Die Pet Shop Boys waren wohl die erste Popband, die bei ihren Konzerten sämtliches Equipment von der Bühne gefegt hat, aber heute

gefällt uns dieser Look mit den Verstärkern und dem sonstigen Gerät. Wir haben neben einem Programmierer auch zwei zusätzliche

Gitarristen und einen Perkussionisten mit dabei – die Show ist aber, wie für uns üblich, wieder durchchoreografiert. Wir haben

uns von einem Regisseur beraten lassen, wie wir das Equipment auch wie ein Bühnenbild im Theater benutzen können.



Sie spielen diesmal in kleineren Hallen: In Zürich gastieren Sie nicht etwa im Hallenstadion, sondern im Volkshaus.


Wir wollen ganz bewusst nicht in grossen Sälen auftreten, denn dort geht die Show einfach unter. Es ist komisch, nach mehr als

sechzehn Jahren sich erstmals als Musiker zu präsentieren, die zwischen den Songs auch mal die Instrumente wechseln. Zum Glück

müssen wir dafür nicht auch noch die ganzen Verstärker selbst schleppen.

Taken from: Tages Anzeiger Zürich
Interviewer: Nick Joyce