Panzer zu Popmusik

Die Pet Shop Boys gehen mit dem Stummfilmklassiker


‘Panzerkreuzer Potemkin’ auf Tour




Als neugieriger 51jähriger mit einem interessanten Leben hat Neil Tennant zu jedem Thema, das man ihm vorsetzt, etwas Unterhaltsames zu sagen:

Musik, Kunst, Politik, Reisen… Und als ehemaliger Journalist (er schrieb von 1982 bis ’85 für das Teen-Magazin ‘Smash Hits’) tut er das in

stets zitierfähigen Sätzen. Wahrscheinlich könnte man ihn auch mit dem Aufnahmegerät allein lassen und hätte, wenn man eine Stunde später zurückkäme,

mehr als genug Material für einen substanziellen Artikel.


Gewöhnlich aber wird er zusammen mit Chris Lowe, dem anderen Pet Shop Boy, interviewt. Der redet nicht viel, sondern stoppt nur hin und wieder Neils

Redefluß und läßt mit einem banalen Spruch oder einem Witz die Luft aus dessen hochtrabenden Theorien. Das paßt auch ganz gut auch zu der Art, wie

sie gemeinsam Musik machen: Neils romantische, intelligente Texte, ins Unernste gezogen von Chris’ Discohäschen-Beats. Obwohl es natürlich nicht

ganz so einfach ist. Obendrein haben die Pet Shop Boys den schnurgeraden Pop-Pfad regelmäßig für unorthodoxe Abstecher verlassen – in Richtung Kunst

(sie arbeiteten mit dem Videokünstler und Fotografen Sam Taylor-Wood), Musical (sie schrieben ‘Closer To You’ mit Jonathan Harvey) und diverser

Einzelprojekte, etwa das Album Noel-Coward-Tribute-Album ‘200l Century Blues’ mit Künstlern wie Elton John und Paul McCartney (das Tennant produzierte

und kompilierte) – oder aber ihre Musik zur Sonnenfinsternis von 1999. Und sie haben in den mittlerweile auch schon 23 Jahren ihres Bestehens mit so

unterschiedlichen Leuten wie etwa Zaha Hadid, Derek Jarman, Dusty Springfield, Liza Minelli, Bruce Weber, Martin Parr und Ex-Smiths-Gitarrist Johnny

Marr zusammengearbeitet.


Im Moment befinden wir uns zwar in einem Aufhahmestudio, aber dies ist kein reiner Pop-Tag, wie wir gleich sehen werden. Auch wenn Chris mit ein paar

Technikern und DJ/Producer Dave Dorrell im Studio arbeitet. Neil und ich sitzen eine Tür weiter. Chris nimmt an dem Interview nicht teil. Vermutlich,

weil er schlicht keine Lust hat. Ärgert das Neil?


‘Oh, nein. Chris und ich sind sehr unterschiedlich, aber wir streiten uns nie’, sagt Tennant. ‘Manchmal sticheln wir vielleicht ein bißchen. Aber

wir kennen uns schon so lange, und – auch wenn das jetzt kitschig und nach Showbiz klingt – wir bringen einander immer noch zum Lachen. Und wir haben

Sachen zusammen erlebt, die niemand sonst erlebt hat. Mir fällt zumindest niemand ein, der einen Nummer-eins-Hit in Amerika hatte und eine Filmmusik

zu ‘Panzerkreuzer Potemkin’ geschrieben hat.’


Die angesprochene Nummer eins war ‘West End Girls’, 1986 der erste Hit der Pet Shop Boys. Die angesprochene Filmmusik ist das neueste Projekt. Premiere

war im September letzten Jahres auf dem Trafalgar Square in London bei einem Umsonst-und-draußen-Event und ein Jahr später kommen die Pet Shop

Boys damit jetzt auch nach Deutschland. Sergej M. Eisensteins bahnbrechender Stummfilm wurde auf eine riesige Leinwand projiziert, während Chris

und Neil ihre neue Musik dazu live performten. Die Dresdener Sinfoniker spielten einen Teil davon; für das Bühnengeschehen war Simon McBurney vom

Theatre de Complicite zuständig. Alles zusammen ergab mehr als nur Film und Musik. ‘Naja, man muß das Potential ausschöpfen’, sagt Neil. ‘Oder es

zumindest versuchen. Wir liegen oft auch mal daneben, aber wir versuchen es immer wieder.’


Vor der Uraufführung war Neil extrem nervös. ‘Ich wachte mitten in der Nacht mit Panik auf.’ So vieles ist unberechenbar: ob überhaupt ausreichend

Leute kommen, ob das Wetter mitmacht. Kurz vor dem Pet-Shop-Boys-Projekt wurde ‘La Boheme’ auf dem Trafalgar Square 15 Minuten vor Beginn abgesagt,

weil unerwartet das Wetter umgeschlagen hatte. Neil war dabei: ‘Es war ein gräßlicher Anblick.’


‘Ich bin besessen von gutem Livesound’, fügt er hinzu, ‘weil man ja die ganze Sache macht, die Musik und dann überläßt man die Mischung jemand

anderem. Und viele Toningenieure haben kein Gefühl für elektronische Musik, die kommen vom Rock. Also orientieren sie sich am Schlagzeug, und wenn

ich anfange zu singen, machen sie mich lauter. Ich signalisiere dann immer: ,Macht mich leiser, macht mich leiser!’ – sehr untypisch für einen

Leadsänger. Ich hatte jedenfalls panische Angst, ich könnte am Montag aufwachen – und die Leute würden sagen: Ja, es war schon toll, aber der Sound

war furchtbar…”


Ein ganz schöner Streß also. Aber Neil mag es ja so: ‘Dies ist eins der faszinierendsten Projekte, an denen ich je beteiligt war. Ich hab es wirklich

genossen.’ Dabei war es nicht mal die Idee der Pet Shop Boys selbst – der Chef des Londoner Institute For Contemporary Arts (ICA), Chris Dodd, fragte

im April 2003 bei ihnen an. Sie sagten zu, sahen sich ‘Panzerkreuzer Potemkin’ zweimal auf DVD an und begannen dann mit dem Anfang, ‘mit diesem

,Buuuump’-Geräusch unter dem Vorspann. Wir dachten: Super, 30 Sekunden geschafft! Ich war immer am Rechnen: Nur noch 73 Minuten und 30 Sekunden zu

machen…’


Nachdem ein Sponsor abgesprungen war, mußte der Termin für die Uraufführung verschoben werden was Neil und Chris allerdings durchaus genehm war:

Sie bekamen die Möglichkeit, sich noch weiter in das Projekt zu vertiefen. Typischerweise entschieden sie, sie brauchten ein Orchester, obwohl man

ihnen vorher gesagt hatte: Nein, kein Orchester! Dann hörte Neil ‘Mein, Herz brennt’, eine CD mit zeitgenössischer klassischer Musik aus Deutschland –

geschrieben von Torsten Rasch und basierend auf Songs von Rammstein. Neil fand die CD toll und schrieb an die Mail-Adresse hinten auf dem Booklet:

Ob Torsten Rasch nicht Lust habe, sich am ‘Potemkin-Projekt’ zu beteiligen. Es gab einiges Hin und Her – Raschs erste Vorschläge waren selbst den

hartgesottenen Pet Shop Boys zu avantgardistisch, aber am Ende enthielt die Musik zum Film bei der Aufführung in London eigens komponierte Passagen

‘Neuer Musik’, gespielt von 26 aus Deutschland eingeflogenen Streichern. Tennant: ‘Kein Orchester? Da sagen wir doch nur: Ha!’


Was ihn aber ganz besonders in den Bann zog -erstaunlich, aber auch unvermeidlich- sind die politischen Aspekte des Events. ‘Panzerkreuzer

Potemkin’ ist ja ein politischer Film. Erzählt wird die Geschichte einer russischen Schiffsbesatzung, die sich gegen ihre Herren erhebt und in

Odessa eine Revolution anstiften will. Der Protagonist, Vakulinchuk, wird an Bord des Schiffes getötet. Als seine Leiche im Dock von Odessa

hingelegt wird, versammeln sich dort die Bürger und schließen sich den Matrosen und deren Revolte an, bis die Kosaken kommen und die Menschen auf

den Stufen des Hafens abschlachten. Die Sequenz über das Massaker auf der Treppe in Odessa gehört zu den berühmtesten der Filmgeschichte. In einer

Einstellung stürzt ein Baby in seinem Kinderwagen die Stufen hinunter, während drumherum die Menschen abgeschlachtet werden. ‘Panzerkreuzer Potemkin

ist ein bolschewistischer Propagandafilm’, sagt Neil. Aber als ich das zu Chris sagte, meinte der nur: ‘Nein, es ist ein sehr romantischer Film über

Menschen, die sich gegen ihre Unterdrücker erheben.’ Der Film ist wirklich beides.’


Durch die Arbeit am Film begannen Neil und Chris sich für den Trafalgar Square als politischen Raum zu interessieren. ‘Wenn man an den Fuß der

Nelson-Säule denkt’, so Neil, ‘dann sieht man (den ehemaligen Labour-Vorsitzenden) Michael Foot eine Rede bei einer Demonstration gegen Nuklearwaffen

halten. Man sieht die ‘Poll Tax Riots’, die ja letztlich Mrs. Thatcher stürzten. Oder die Rede von Nelson Mandela…’


Mir fällt die Demonstration gegen den Irakkrieg von 2003 ein, die größte, die es am Trafalgar Square je gegeben hatte. Neil nickt. Er war damals für

den Krieg, nachdem er ‘The Threatening Storm’ gelesen hatte, das Buch des ehemaligen Clinton-Beraters Kenneth Pollack, der alle Möglichkeiten des

Umgangs mit Saddam Hussein untersucht hatte und zu dem Schluß kam, daß nur ein Regimewechsel die Lösung sei. ‘The Threatening Storm’ war offenbar

Pflichtlektüre im Bush-Team, und es war auch das Buch, da ist sich Neil sicher, das Tony Blair zum selben Schluß brachte. Jedenfalls las Neil es auch

und war seinerseits überzeugt.


‘Ich hielt die Antikriegsdemo trotzdem für eine gute Sache’, sagt er, ‘weil sie der Regierung deutlich machte, daß ihr Vorhaben sehr umstritten war.

Die Politiker konnten auch nicht einfach sagen: Ach, die sollen sich doch verpissen, schließlich waren es Tony Blairs Wähler, die da vorbeimarschierten.

Es bedeutete, daß sie sich wirklich auf diese Aufgabe konzentrieren und den Krieg auch ernsthaft begründen mußten. Das geschah allerdings nur zum Teil.

Vor allem deshalb, denke ich, waren selbst die Befürworter des Kriegs am Ende enttäuscht. Ich war dafür, Saddam loszuwerden wie die Mehrheit der Menschen,

vermute ich, aber dann wurde man doch desillusioniert von diesem Frieden.’


Solcherlei Gedanken im Kopf schrieb Neil ‘Odessa Steps’, die Melodie für die Treppen-Sequenz, und sang plötzlich die Worte ‘How come we went to war?’

vor sich hin. Sie schienen gut zu passen. ‘Die Revolution von 1905 ging schief. Sie mußten weitere zwölf Jahre warten, und dann bleibt die Frage, ob

die bolschewistische Revolution eine gute Sache war. Ich finde, die Antwort muß ‘Nein’ lauten’, sagt er. ‘Solche Fragen und dieser Film passen momentan

gut, weil dies die politischste Zeit meines Lebens ist. Ich glaube, der Irakkrieg war der Spanische Bürgerkrieg unserer Generation. Die Meinungen darüber

gehen weit auseinander. Und die Leute fühlen sich entrechtet. Nicht, daß man ihre Stimmen gar nicht hören würde, aber sie fühlen sich doch machtlos.’


Tennant steckt bis über beide Ohren in diesem Projekt, es hat ihn völlig in seinen Bann gezogen. Aber er kann nicht anders, er schweift zu weniger

wichtigen Themen ab. Gerade haben wir noch über politische Machtlosigkeit diskutiert, jetzt reden wir unversehens über ‘Smash Hits’. Ich hatte bei der

Zeitschrift meinen ersten Job als Autor, drei Jahre nach dem Abgang von Neil, und wir liebten das Blatt damals beide. Ich sage beiläufig, die spezielle

Art, wie ‘Smash Hits’ in den 80ern die Welt betrachtet habe – Popmusik und Witz – hätte inzwischen die gesamte britische Presse übernommen. Aber Neil,

seinerzeit Redakteur, runzelt die Stirn.


‘Nein, nein’, sagt er. ‘Ich glaube eher, die haben alle nur den Humor abgegriffen und über alle Medien verteilt, aber die Ernsthaftigkeit und die

Leidenschaft darunter blieb unbeachtet. Jetzt ist nur noch der schnoddrige Ton übrig, aber ohne diesen tiefen Glauben an die Popmusik. Und das ist

destruktiv. Heute tun alle nur so als ob. Zum Beispiel tun alle so, als wären Festivals wie in Reading großartig. Das ist es aber nicht, es ist ein

Scheißhaufen auf einem Parkplatz. Aber alle machen einen auf ‘Oh, wie toll’, weil sie mal gehört haben, daß Rockfestivals nun mal so aussehen müßten.’


Er kann schon auch aufgeblasen klingen, der gute Neil. Der Herr im Haus. Kommt natürlich daher, daß er ein Popstar ist – vielleicht aber auch daher,

daß er sich an ein Leben als Single gewöhnt hat und entsprechend ‘ziemlich egoistisch’ geworden ist. Er war in seinem Leben genau viermal verliebt.

‘Zwei Frauen, zwei Männer, in dieser Reihenfolge’ – aber als vor ein paar Jahren seine letzte Beziehung zuende ging, stellte er fest, daß er sich solo

auch wohlfühlte. ‘Das Problem ist: Es ist ziemlich nett so. Angenehm. Ich bin immer sehr beschäftigt, hab viele Freunde. Ich bin recht gesellig, aber

ich mag auch die Einsamkeit, ich mach gerne die Tür zu und bin allein, und ich finde, da darf ich dann auch ruhig egoistisch sein, in meinem eigenen

Raum. Wahrscheinlich bemühe ich mich einfach nicht genug, jemanden zu finden.’


Wenn er in seinem Haus in Chelsea wohnt, geht er ständig aus. In seinem anderen Haus, in der Grafschaft Durham auf dem Land, bleibt er daheim und

arbeitet mit Chris. Dort schrieben sie auch den größten Teil der Musik zu ‘Panzerkreuzer Potemkin’. Neils Arbeitstag sieht so aus: Um halb zehn aufstehen,

frühstücken, ‘Radio 3’ dazu hören und eine Zeitschrift lesen ‘New Statesman’, ‘The Spectator’, ‘Word’, ‘Frieze’, die Literaturbeilage der ‘Times’.

Keine Tageszeitungen: ‘Da steht immer zu viel drin, was mit Nachrichten nichts zu tun hat. Es sollte mal jemand eine Zeitung wie vor 100 Jahren

rausgeben, mit allen Anzeigen vorne drauf und im Innern nichts als Nachrichten. Keine Bilder.’ Dann ein paar E-Mails schreiben, und um halb zwölf

ins Studio. Arbeiten, Mittagessen, wieder arbeiten, dann ein Glas Wein ‘um Punkt sieben Uhr’. Abendessen. Dann weiterarbeiten. Am den Abenden bekommen

sie das meiste hin, möglicherweise wegen des Alkohols.


Es klingt nach einem schönen Leben, denke ich – entspannt und doch fruchtbar. ‘Naja, ich hatte noch nie einen langweiligen Job’, erklärt Neil, ‘weil

ich immer fand, daß man, wenn man nur entschlossen ist, alles tun kann, was man will. Ich bin nicht bereit, mich von Herkunft oder Angst einschränken

zu lassen.’


Was natürlich auch eine der Botschaften von ‘Panzerkreuzer Potemkin’ ist. Wir gehen ins Studio, um uns die Odessa-Steps-Szenen mit der Musik der Pet

Shop Boys anzuschauen. Ich hatte die Wucht dieser schrecklichen Bilder ganz vergessen – die düsteren Gesichter, die wilde Panik, das stoische, gezielte

Morden. Ich sehe die Bilder, höre dazu Neils traurige Stimme über schwelgender Musik und bin überwältigt. Und das schon vor einem winzigen Bildschirm

in einem Raum voller Studiokram. Das Ganze jetzt bei der anstehenden Tournee endlich auch groß auf der Leinwand zu sehen, dürfte gewaltig werden.

Taken from: Rolling Stone August 2005
Interviewer: Miranda Sawyer