Brot und Rosen:
‘Release’ ist ein Manifest der Pet Shop Boys
zur Neuen Einfachheit
Wer den Wunsch hat, einen Baum zu pflanzen, kann das tun: im Pet Shop Boys Forest. Denn das Pressen von CDs setzt Treibhausgase frei wie Rinderherden. Und nun ist es an den Pet Shop Boys, den Schaden wieder gut zu machen. Nach 30 Millionen hergestellten und verkauften Platten, nach fast 20 Jahren Pop als reueloser Ironie- und Illusionsmaschine. 30 Monate nach ‘Nightlife’, ihrem letzten Disco-Manifest, wenden Neil Tennant und Chris Lowe sich der Natur zu. Auf dem jüngsten Album gibt es nicht nur Rosen, Tulpen, Mohn und Orchideen zu betrachten. Man erfährt, wo man sich melden muss, um aufzuforsten und dass die CD ‘Release’ carbonneutral gefertigt wurde. Einfache Dinge, wahre Werte. Konservativismus.
Für die Anhänger der Pet Shop Boys mag das verwirrend sein, für die Verächter auch. In jedem neuen Song fällt der Gitarre erstmals eine wesentliche Rolle zu. Neil Tennant sagt: ‘Rock war der Feind. 2002 ist Rock kein Feind mehr. Der Feind heißt heute Crap-Manufacted-Pop.’ Darunter sind die zynisch hergestellten Popbands zu verstehen, die No Angels, Bro’Sis, all die unverschämt berechenbaren Vortänzer der Plattenfirmen. ‘Deppenbands’, schimpfen Lowe und Tennant im ‘Spiegel’. ‘Der Hitparadenpop von heute gibt sich berechenbar und illusionslos, er hat nichts mehr mit Kreativität zu tun – und das ist katastrophal.’
Dass der Rock ‘n’ Roll die Pet Shop Boys ganz ähnlich sah, hat Lowe und Tennant stets verstimmt. Auch wenn sie selbst den Rock ‘n’ Roll nie leiden mochten: Zu schlecht angezogen, zu verschwitzt, zu viele Haare und vor allem zu sehr von der Illusion berauscht, Gitarre spielen sei authentisch. Noch dazu nahm Rock ‘n’ Roll sich selbst so ernst wie jedes Stück der Pet Shop Boys. Tatsächlich wurden Tennant/Lowe das reichste Popduo der Welt – durch hübsche Melodien, vollsynthetische Musik sowie theaterhafte Inszenierungen für alle. Für den stilbewussten Schwulen aus New York und für die Hausfrau aus Berlin-Marzahn. Das gleichermaßen Intellektuelle und Banale, Mehrheitsfähige und Elitäre bleibt die große kulturelle Leistung von Neil Tennant, mittlerweile 47 Jahre alt, und Chris Lowe, jetzt 42. Ihr Stilbewusstsein prägte Elite und Masse zugleich; ihr jetziger Rückzug ist ein Protest gegen Vulgarität und Industrialisierung. ‘Vor allem wussten wir immer, dass gute Popmusik vor allem eines braucht: eine Idee.’ Heutige synthetische Bands verwechselten das mit Professionalisierung. Wenn die Industrie Künstlichkeit schafft, dann muss die Kunst wieder roh werden – im Rahmen ihrer Möglichkeiten.
Schon auf der ‘Nightlife’-Tour hatte Neil Tennant schmunzelnd zur Gitarre ein paar alte Songs gesungen wie am Lagerfeuer. Neulich reisten sie durch Universitätsstädte in Großbritannien mit Bassist und Schlagzeuger. Die Bühnen sind keine Entwürfe mehr von Derek Jarman oder Zaha Hadid. Es sind Hallenbühnen mit Scheinwerfern an der Decke. Wolfgang Tillmanns, deutscher Fotograf mit Turner-Preis, hat zwar im Videoclip zu ‘Home And Dry’ Regie geführt, aber zu sehen sind nur Mäuse in der U-Bahn und ein Kanten Brot. Und auf ‘Release’ spielt Johnny Marr Gitarre wie früher bei der Band The Smiths.
Ist ‘Release’ also das erste Rockalbum der Pet Shop Boys? Lässt sich dem Rolling-Stones-Verehrer nun begreiflich machen, dass die Pet Shop Boys schon immer mehr von Pop verstanden haben als die meisten anderen? Gilt die Gitarre auch Neil Tennant und Chris Lowe nur als Symbol der Ehrlichkeit? Das alles keineswegs.
Gepflegt wird auf ‘Release’ die Form der Popballade. Eine Form, die weder Ironie geschweige denn Sarkasmus kennt. Es geht um eine widerliche ‘Rock Royality’, um Sehnsucht nach dem Liebsten in New York, um E-Mails, die es Schüchternen erleichtern, ihre Liebe zu gestehen, um Liebe als Katastrophe und Liebe hinter der Bühne. Und: ‘Das Radio läuft / Jemand lächelt / Das bedeutet: ,Ich liebe dich’ / Aber manchmal merken wir nicht / Wenn die Träume wahr werden.’ Die Abwesenheit von Luxus, Snobismen und Design fällt auf wie die Gitarren.
Doch natürlich dient auch das der Inszenierung. Die Gitarre wird dem Pop, der schönen Scheinwelt, einverleibt. Die Disco findet nur vorübergehend in Neil Tennants Landhaus statt, wo auch ‘Release’ entstanden und in seiner staunenswerten Einfachheit durchaus gelungen ist. Getreu der maßgeblichen Hymne ‘Being Boring’ aus dem Jahre 1990: Pop ist dazu da, den Alltag und das Leben von der Langeweile zu befreien. Ob durch den Genuss einer CD oder das Pflanzen eines Baumes.
Taken from:
Interviewer: Michael Pilz