Je öder die Popmusik, desto besser klingen wir

Das Album ‘Release’ ist da:


Neil Tennant spricht in der NZ über den neuen,


rockigen Sound der Pet Shop Boys, Rapper Eminems


sexuelle Neigungen und den nächsten Fußballweltmeister.




Die beiden Briten Neil Tennant (47), und Chris Lowe (42), machen seit ihrem ersten Hit ‘Westend Girls’ (1985) sehr

verlässliche und meist spannende Pop-Unterhaltung. Flüchtigen Trends haben sich die zwei, die im vergangenen Jahr

auch mit dem Musical ‘Closer To Heaven’ in London debütierten, stets entzogen – Unverwechselbarkeit war die an-genehme

Folge. Neil Tennant nimmt einen kräftigen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Es ist Vormittag, und es ist früh. Zu früh

für seinen Mitmusiker Chris Lowe. Der ist noch gar nicht da, um im Kölner ‘Hyatt’-Hotel mit NZ-Autor Steffen Rüth über

das neue Pet-Shop-Boys-Album ‘Release’ zu plaudern.



Neil Tennant: ‘Du musst entschuldigen, Chris schläft noch. Der kommt morgens noch schlechter aus dem Bett als ich.’



Netzeitung: Vielleicht wäre früheres Schlafengehen eine Lösung?



Neil Tennant: ‘Daran liegt das nicht.’



Netzeitung: Regelmäßiger Sport soll auch recht hilfreich sein.



Neil Tennant: ‘Ach, hör mir auf. Totales Desinteresse. Ich laufe schon mal, aber sehr selten. Oder gehe schwimmen. Oder

spazieren.’



Netzeitung: Wer wird Fußballweltmeister?



Neil Tennant: (kneift die Augen zusammen) ‘England jedenfalls nicht. Irgendwer aus Südamerika, würde ich sagen. Hast Du

auch noch Fragen, die nichts mit Sport zu tun haben?’



Netzeitung: Ihr ward neulich auf einer kurzen Clubtournee. Woher kommt neuerdings die Begeisterung fürs Touren,

ihr habt das doch sonst nicht so gemocht?



Neil Tennant: ‘Wir haben vor einigen Jahren entdeckt, dass das Spaß machen kann. Ich hatte ja eigentlich keine Erfahrung

als Live-Musiker. 1971 mal mit meiner damaligen Schulband, und dann wieder 1985 in der Wembley Arena, was schrecklich

war. Ich fand immer, dass wir live ein bisschen langweilig sind und hatte ständig Angst, auch das Publikum würde sich

langweilen. Auch deshalb haben wir uns immer stark verkleidet und mit Masken und theatralischen Ele-menten gearbeitet.

Wir wollten von uns selbst ablenken.’



Netzeitung: Aber bei eurem Köln-Konzert vor wenigen Wochen hattet ihr überhaupt keine Verkleidung an. Ist das neue

Image der Pet Shop Boys, dass es kein Image mehr gibt?



Neil Tennant: ‘Es stimmt, wir wollten wieder natürlicher und menschlicher rüberkommen. Durch diese ganze Künstlichkeit kannst

du ja auch irgendwann zur Karikatur werden, das wollten wir vermeiden. Noch eine Lackschicht obendrauf kleben wäre zu

viel gewesen. Aber ich muss auch sagen, dass wir uns auf der Bühne mittlerweile wirklich wohl fühlen. Wir sind definitiv

keine Rockband geworden, aber seit wir vor zwei Jahren in Roskilde und Glastonbury diese Riesen-festivals gespielt haben,

sind wir auf den Geschmack gekommen. Es geht nichts über die Kameradschaft, die eine rich-tige Band auf der Bühne entwickelt.’



Netzeitung: ‘Release’ hört sich ja auch recht rockig. Johnny Marr, der früher bei The Smiths war, spielt Gitarre, es gibt

außer ‘The Samurai in Autumn’ keine Disconummern.



Neil Tennant: ‘Eigentlich wollten wir ja eine HipHop-Platte machen. Also sind wir nach Los Angeles gegangen und trafen uns mit

dem Programmierer von Dr. Dre. Das führte aber zu nichts. Also nahmen wir es selbst in die Hand. Wir wollten uns von dem

Druck befreien, an dem wir schon seit Jahren knabbern, dass Dancemusik immer weniger mit Songs aber immer mehr mit

Soundeffekten zu tun hat. Das sind wir leid. Bei uns steht der Song und die Melodie im Zentrum.’



Netzeitung: Man könnte sagen, dass ‘Release’ eure bis dato britpoppigste Platte geworden ist. Und das, wo der Britpop doch

seit Jahren darniederliegt. Wollt ihr das Genre wiederbeleben?



Neil Tennant: ‘Auch wenn der Gedanke durchaus Charme hat – aber so ticken wir einfach nicht. Wir haben 1996 ein süd-amerikanisch

angehauchtes Album gemacht, Jahre bevor das zum Trend wurde. Und nun machen wir halt Pop mit Gitarren, weil wir da Lust zu

hatten. Wenn du immer nur dem Trend hinterherhechelst, schaufelst du dir dein eigenes Grab. Wir wollen zwar nicht absichtlich

untrendig sein, aber wir machen einfach das, was wir gerne machen wollen.’



Netzeitung: Täuscht der Eindruck, dass die Texte etwas weniger zynisch als üblich sind?



Neil Tennant: Ach, geht so. Diesmal sind die Songtitel zynisch, ‘Love Is A Catastrophe’ zum Beispiel ist auch so gemeint. ‘London’

hat auch einen recht bitteren Humor, da geht es halt um zwei russische Soldaten, die nach London kommen und sich dort mit

Kreditkartenbetrug prima durchs Leben schlagen.



Netzeitung: ‘The Night I Fell In Love’ singen Sie über Eminem. Was halten Sie von ihm?



Neil Tennant: ‘Vieles auf der Platte ist von Ereignissen inspiriert, die in letzter Zeit passiert sind. ‘Birthday Boy’ hat den

Mord an einem schwarzen Jungen in London zum Thema. Der wurde gekillt, weil er schwarz ist. Genau wie Matthew Shepard. Das

ist ein junger Amerikaner, den sie getötet haben, weil er schwul ist. Diese Jungs sind christähnliche Figu-ren, finde ich.

Genau wie Jesus für unsere Sünden gestorben ist, sterben sie für Sünden wie Rassismus und Homopho-bie.’



Netzeitung: Und was ist jetzt mit Eminem?



Neil Tennant: ‘Ein wunderbarer, brillanter Künstler. Ich denke, der ist nicht homophob, sondern drückt nur die amerikanische

Haltung zu diesem Thema aus. Wussten Sie, dass er nicht wusste, dass Elton John schwul ist, als er mit ihm auftrat? Sinn

des Songs ist auch, ein wenig zu spekulieren, ob Eminem vielleicht selber schwul sein könnte.’



Netzeitung: Was wäre dann?



Neil Tennant: ‘Lustig wäre das.’



Netzeitung: Wie lange wollt ihr noch weitermachen als Pet Shop Boys?



Neil Tennant: ‘Noch 30 Jahre. Dann sitzen wir auf der Bühne auf Hockern und erzählen uns einfach irgendwelche Ge-schichten.

Viele Musiker werden doch sowieso umso besser, je mehr sie in die Jahre kommen. Gerade in der Klassik. Nimm Richard Strauss,

der hat phantastische Alterswerke komponiert. Auch an Beethoven schätze ich speziell die späte Phase. Auf einem ähnlichen

Pfad sehe ich uns auch. Wir haben immer weniger zu beweisen, weil es für Leute wie uns keine Konkurrenz mehr gibt. Wer ist

denn noch da? Madonna. Aber sonst? Je öder die Popmusik um uns herum wird, desto mehr stechen wir daraus hervor.’

Taken from: Schweizer Sontagszeitung
Interviewer: Steffen Rüth