Deutsche sind angenehm rauflustig

Tony Blair tritt zurück, und die Pet Shop Boys sind auf Tour.


VANITY FAIR ONLINE bat den Sänger zum Gespräch.




Vanity Fair


Tony Blair wird als Premierminister zurücktreten. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Nachricht gehört haben?




Neil Tennant


Es gab keinen ersten Gedanken. Diese Mitteilung war schon seit so langer Zeit erwartet worden, alle Zeitungen haben seit Wochen darauf hingeschrieben – das war heute nur noch so, als würde das letzte Restchen Luft aus einem Ballon abgelassen. Eine Zeitung schrieb schon am Mittwoch: ‘Mr. Blair wird eine sehr emotionale Ansprache halten.’ Woher wusste der Journalist das bloß einen Tag, bevor die Ansprache überhaupt gehalten wurde?




VF


Aber Sie werden doch erleichtert gewesen sein, oder?




N. T.


Ach, ich bin mir da gar nicht so sicher. Es ist schon komisch, ihn nach zehn Jahren nicht mehr als Premierminister zu haben – bei allem Unsinn, den er in der langen Zeit machen durfte, weil wir ihn auch gelassen haben. Seit heute hat er in meiner Wahrnehmung schon so einen kleinen Heiligenschein auf dem Kopf, eher aus vorgezogener Sentimentalität als aus wirklicher Zuneigung. Und ich persönlich werde ihm immer hoch anrechnen, dass er viel für die Homosexuellen getan hat. Das ‘Age of Consent’, das Alter, ab dem Männer in Großbritannien eine sexuelle Beziehung zu einem anderen Mann führen dürfen, wurde während seiner Regentschaft auf 16 herabgesetzt, und auch die Schwulenehe wurde unter ihm eingeführt. Er hat das Land verändert – aber eben leider nicht ausschließlich zum Besseren.




VF


Die Pet Shop Boys waren immer schon eine erstaunlich politische Band.




N. T.


Ja, wir waren vielleicht die Ersten, die Protestsongs geschrieben haben, zu denen man tanzen konnte. Aber vielleicht ist es die Altersmilde – einen Song wie ‘Opportunities’, der ganz klar den Thatcherismus in den 80ern kritisierte, würden wir heute nicht mehr hinbekommen. Wir hatten auf dem letzten Album den Song ‘I’m With Stupid’. Eigentlich sollte er das Verhältnis zwischen George W. Bush und Tony Blair beschreiben, dieses Unterwürfige in Blairs Verhalten. Aber er ist auch gut auf alle möglichen Beziehungen übertragbar, in der die Partner in einem, sagen wir mal, nicht ganz gleichgewichtigen Verhältnis zueinander stehen.




VF


Am Samstag findet in Helsinki der Eurovision Song Contest statt, die größte homosexuelle Kulturveranstaltung der Welt. Werden Sie zuschauen?




N. T.


Nein, wir müssen leider ein Konzert in Düsseldorf geben. Sagte ich gerade leider? Das stimmt natürlich nicht. Im Ernst: Das Niveau der Veranstaltung ist doch recht überschaubar, und nach allem, was ich weiß, ist es in den letzten Jahren nicht besser geworden. Früher hat man wenigstens ab und zu jemand Berühmtes zu sehen bekommen, aber inzwischen ist es doch eher ein ideenarmes Kostümfest mit überwiegend grauenhafter Musik. Und komischerweise kriegen wir nie auch nur einen Punkt aus Frankreich.




VF


Die Briten scheinen den Song Contest sowieso nicht allzu ernst zu nehmen.




N. T.


Das wundert mich eigentlich, denn es gibt bei uns weiß Gott genug seifigen Pop, der sich prima für den Contest eignen würde. Aber wie unwichtig uns dieser Wettbewerb ist, zeigt die Tatsache, dass vor Wochen tatsächlich jemand Morrissey als unseren Teilnehmer vorgeschlagen hat. Morrissey! Beim Grand Prix! Zwischen einer wilden Schamanin aus Usbekistan und einem Hardrocker mit fettigem Haar aus Finnland – das ist einfach zu absurd.




VF


Sting und seine Frau Trudie Styler wurden gestern von einem Gericht schuldig gesprochen, weil sie ihre hochschwangere Köchin gefeuert haben. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem Koch?




N. T.


Ich würde es nahezu perfekt nennen, was daran liegen mag, dass ich keinen habe. Und das hat wiederum damit zu tun, dass Sting wahrscheinlich zehn Mal so reich ist wie ich. Aber ich kenne ihn ganz gut – wir sind auf dieselbe Schule gegangen, er war ein paar Jahrgänge über mir. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig ist.




VF


Ihre Europatournee führt sie derzeit durch Deutschland. Gibt es etwas, das Sie am deutschen Publikum besonders schätzen?




N. T.


Sie sind fantastisch beim Mitklatschen. Das klappt hier besser als irgendwo sonst auf der Welt, zumindest wenn es darum geht, den Takt zu halten. Das hat natürlich mit der Erziehung zu tun: Sie wachsen ja allesamt ausschließlich mit Marschmusik auf, nicht wahr?




VF


Spüren Sie einen Unterschied zwischen den Zuschauern im Osten und im Westen Deutschlands?




N. T.


Nein, überhaupt nicht. Aber ich finde das sehr amüsant: Kein Volk ist so um seine Außenwirkung besorgt wie die Deutschen. Ich weiß natürlich, woran das liegt,. Wir Briten sind da nicht so, wie Sie vielleicht aus Ihrem letzten Urlaub wissen. Aber so steif, wie sie selbst glauben, sind die Deutschen gar nicht. Im Gegenteil, wir finden sie immer angenehm wild und rauflustig.




VF


Wir würden gern das ‘Neil-Spiel’ mit Ihnen machen. Wir nennen Ihnen fünf Herren, die den Namen mit Ihnen teilen, und Sie geben uns bitte Ihre spontane Eingebung: Neil Armstrong.




N. T.


Oh, der Berühmteste gleich zuerst. Er hat wirklich mein Leben verändert: Als ich zur Schule ging, gab es kaum Neils, aber komischerweise wurde dieser Vorname ab 1969 sehr populär.




VF


Neil Diamond.




N. T.


Er hat einen sensationell guten Song für die Monkees geschrieben: ‘I’m A Believer’. Und er hat einen sensationell absurden anderen Song geschrieben, in dem lauter Frösche quaken.




VF


Neil Hannon.




N. T.


Ah, der Sänger von The Divine Comedy – ein unglaublich talentiertes und leider viel zu wenig bekanntes Genie. Wir haben mal zusammen bei einem Song von Robbie Williams mitgesungen.




VF


Neil Kinnock.




N. T.


Der Mann, der niemals Premierminister wurde, der große Gegenspieler von Maggie Thatcher. Ein sympathischer Mann, den nicht einmal die Europäische Kommission vollends ruinieren konnte. Bis vor zwei Jahren war er EU-Kommissar, keine Ahnung, was er jetzt macht.




VF


Vince Neil.




N. T.


Wer ist denn das? Der Sänger von Mötley Crüe? Oh, tut mir Leid, aber Heavy Metal ist nicht mein Fachgebiet.





VF


Wenn Sie während oder nach einer Tour mal in Ihr Haus in London zurückkommen: Was ist das Erste, was Sie dort tun?




N. T.


Die Post lesen. Ich habe einen Briefschlitz in der Haustür, und hinter der türmen sich dann immer Berge von Post. Wenn ich die nicht sofort durchsehe, bleibt sie weig liegen, also stapele ich alles auf dem Küchentisch und arbeite mich hindurch. Es ist irrsinnig viel Müll dabei, aber es hat auch etwas Meditatives. Und danach wird alles schön recyclet.




VF


Sie haben an Robbie Williams’ relativ erfolglosem letzten Album ‘Rudebox’ mitgewirkt. Fühlen Sie sich mitverantwortlich dafür, dass er zuletzt 38 Tassen Espresso täglich getrunken hat?




N. T.


Das hatte, glaube ich, nichts mit uns zu tun. Wir haben das schon einmal erlebt, bei Dusty Springfield, mit der wir in den 80ern zusammengearbeitet haben. Das ist bei vielen Leuten so, die keinen Alkohol mehr trinken: Sie brauchen einen Ersatz. Und Dusty hat wirklich mehrere Hektoliter Kaffee am Tag zu sich genommen. Ich finde das nicht so tragisch.




VF


Paris Hilton soll ins Gefängnis. Können Sie sich vorstellen, wie das für sie sein wird?




N. T.


Ich habe keinerlei Interesse an Paris Hilton.

Taken from: Vanity Fair
Interviewer: MS