Deine Disco braucht dich

Großes Theater! Und dann auch noch zum Tanzen!


Die Pet Shop Boys beehrten das Tempodrom




Auch männliche Oberbekleidung kann tiefgehende Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Als die Pet Shop Boys am Montagabend im Berliner Tempodrom auftreten, trägt Sänger Neil Tennant (52) Zylinder, Frack und darunter einen ebenfalls schwarzen Polopullover – dieser allerdings ist mit einem funkelnden schwarzen Paillettenlatz bestickt. Das erscheint als eine klug konstruierte Kombination von klassischem Chic und flamboyanten Details: Man würde sich doch bloß lächerlich damit machen, wie die zauberhaft juvenilen Tänzer in ihren knallbunten Netztrikots und Trainingsanzügen herumzukaspern und zu behaupten, man sei noch genau so alert wie in den 80er-Jahren. Andererseits will man auf der Bühne ja auch wie damals seinen Spaß haben, was bei diesem Konzert im Geiste jener Ära sichtlich der Fall ist und sich deshalb bald auf die rund 3 000 Zuschauer in der nicht ganz ausverkauften Halle überträgt; schon beim Eröffnungsstück ‘Left To My Own Devices’ schwenken die ersten verhalten ihre Bürzel.




Tennant also ist in die Rolle des englischen Exzentrikers geschlüpft, der gewissermaßen am Fluss sitzt und ohne jeglichen Vanitas-Gedanken die Moden vorbeiziehen sieht. Das Eighties-Revival mag derzeit mithelfen bei dieser gelassenen Haltung; Tennant und sein Partner Chris Lowe (47) – der sich wie immer reglos in Sportswear hinter den Keyboards verbirgt – verlassen sich aber nicht wie viele Kollegen auf den faulen Zauber der Nostalgie, sondern geben der Disco von damals neue Energie, in einer auch optisch wirklich hinreißenden, hintersinnigen Performance.




‘An evening of electronic entertainment’ wird von dem teddybärig freundlichen Tennant versprochen zum Auftakt der Deutschlandtournee, mit Vielem aus den Achtzigern und Neunzigern sowie Einigem aus dem, ‘was wir diese Dekade nennen – und das nicht zu politisch’. Gleich der zweite Titel allerdings gerät zum Statement; ‘I’m With Stupid’ ist Tony Blairs Ranwanzerei an George Bush gewidmet und behandelt deren Irakpolitik. Und Tennant zufolge wird dieser Song vom letztjährigen Album ‘Fundamental’ nicht mehr lange zu hören sein müssen; er freut sich schon auf Blairs baldigen Abgang. ‘Numb’ stammt ebenfalls von ‘Fundamental’ – mit grisseligen Bildern aus dem von den Pet Shop Boys 2004 mit Musik versehenen Stummfilm ‘Panzerkreuzer Potemkin’ hinterlegt. Sehr besinnlich – wie auch das von Tennant in besonders zarte, aber immer noch stabile Höhen gebrachte ‘Dreaming Of The Queen’ (1993), das ein Teekränzchen von Lady Di und der Königin imaginiert sowie eine Konversation über die Opfer von Aids; er nimmt den Zylinder ab, um diesen Titel zu singen.




Ansonsten aber ist es ein strikter Uptempo-Abend mit den wesentlichen Hits von damals, der auch optisch tief in der Ästhetik der 80er-Jahre wurzelt: Bei ‘Shopping’ etwa, dessen Refrain ‘We’re s – h – o – p – p – i – n – g – we’re shopping’ lautet, blinken die damals so beliebten nackten Neonröhren die einzelnen Buchstaben vor wie beim Karaoke; bei ‘Opportunities (Let’s Make Lots of Money)’ läuft ein riesiger Barcode über die Leinwand. Dazu erscheinen die Sänger und Tänzer in scharf geschnittenen Yuppie-Anzügen und gymnastizieren sich in jenem Stil, den Jean-Paul Goude zum Auftakt dieses popruhmreichen Jahrzehnts für Grace Jones’ Videos entwickelte: eine Abwandlung des Breakdance, bei dem die Darsteller aufgrund jäher Tempowechsel mal zucken, mal erstarren und dazu, passend zum Text, Posen berechnender Geschäftigkeit einnehmen. In Zweiergrüppchen und mit schwarzen Nerd-Brillen versehen, erinnern sie damit außerdem an das Künstler-Duo Gilbert & George, an deren wie Kirchenfenster leuchtende Fotoarbeiten sich wiederum diverse Visuals anlehnen. Die schwarze Sängerin Sylvia Mason-James kommt dazu mit einem Kopfputz auf die Bühne, den man sich auch an Tina Turner in ‘Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel’ gut hätte vorstellen können: Über einem harten, silberglänzenden Sonnenschutzschild wippt eine zerzauste Federkrone. Mason-James mit ihrem mächtigen Soul-Organ übrigens sorgt nicht unwesentlich dafür, dass viele fast schon zu Tode gespielte Titel ungemein neu und frisch klingen – ‘West End Girls’ etwa gewinnt durch ihre Gospel-Einlagen deutlich an Drive.




Ob es zu ‘Always On My Mind’, die Elton-John-Huldigungshüte mit den Blumen und Gitarren sind; zu ‘The Sodom And Gomorrah Show’ die Fantasie-Uniformen, in denen alle Akteure wie Pfingstochsen geschmückt paradieren (Neil Tennants Oberbefehlshabermütze schmückt ein Diadem); ob es zu ‘Go West’ Las-Vegas-Goldglitzer ist, kontrastiert mit Tennants Gary-Cooper-Outfit (und einem schwarzen Tänzer, der sich absichtlich dumm stellt beim Square Dance der weißen Amerikaner) oder zum Hintergrundvideo bei ‘Suburbia’ die neugierige Nachbarin, die durch die Spitzengardinen spechtet – diese Show breitet einen ungeheuerlichen Reichtum von Zitaten, Anspielungen und populären Bildern aus. Großes Theater! Und dann auch noch zum Tanzen!




‘We love you – let’s face it’ sagt Neil Tennant zum Schluss zum Berliner Publikum. Da hat es dann erst recht noch mal seine Arme in der Luft geschwenkt wie rhythmisch vom Wind gepeitschte Weiden. Und danach hat es sich ausgerechnet, dass Chris Lowe unter seiner verspiegelten Pilotensonnenbrille mindestens dreieinhalb Mal sein Gesicht zu so etwas wie einem Lächeln verzogen hat. Aber erst, nachdem er solo ‘Paninaro’ geben durfte, einer der wenigen Titel, bei denen er je gesungen hat. Und nachdem er den acid-gelben Kapuzenpullover vertauscht hat mit einem ähnlichen Exemplar in Elektrikblau – Moderedaktionen zufolge ist das die Farbe der Saison. Das war sie das letzte Mal – wen wird das wohl überraschen – in den Achtzigern.

Taken from: Berliner Zeitung
Interviewer: Carmen Böker