Auf dem neuen Album der Pet Shop Boys
sind die achtziger Jahre ein emotionaler Dauerzustand
Die Pet Shop Boys, der eine und der andere, der Dünne und der – tja – Dünne, der ohne Brille und der mit: Überall waren sie schon, man muß nur ihre MTV-Urlaubsvideos anschauen. In Puerto Rico waren sie, da standen sie mit süffisantem Hüsteln in der Disco zwischen den lebensfroh dirty-dancenden Latinos wie zwei in England bestellte und dann vergessene Sauermilchflaschen. Im Irak waren sie auch, zum ersten Golfkrieg, als bedröppelte Soldaten zwischen Sonnenschirmen, über die die Schatten der Bomber hinwegzogen. In Mailand, zur Besichtigung der Jugendmode, sah man sie wie riesige Playmobil-Männchen langsam aus dem U-Bahn-Schacht hochfahren. Und in einer nicht näher bestimmten futuristischen Stadt, wo die zwei Pet Shop Boys mit orangefarbenen Overalls und hohen, spitzen Tüten-Hüten extrem teilnahmslos eine Fußgängerbrücke abschritten.
Es gibt in der Kulturgeschichte des Tourismus ja das komödiantische Stereotyp vom Urlauberehepaar aus Großbritannien, das mit weißen Gesichtern und rot leuchtendem Schultersonnenbrand pikiert über fremde Schauplätze wandelt. Nicht wie die fotografierenden Deutschen, mehr wie die feinen Herrschaften aus der alten ‘After Eight’-Werbung. Eine archetypische, frei erfundene Szene: In der sizilianischen Pizzeria findet gerade ein Mafia-Massaker statt, die Engländer kommen rein, und die Frau fragt, während ihr die Kugeln um die Ohren zischen: ‘Mortimer, glaubst du, sie servieren uns hier wieder diese schrecklichen italienischen Kekse zum Tee?’ Beim Pop-Duo Pet Shop Boys ist genau das seit zwanzig Jahren oberstes Stilprinzip, in den Liedern und in den oben zitierten Musikvideos: Das Betrachten der Welt aus einer selbst auferlegten, höflich unbeteiligten, bis ins Groteske stilisierten Britishness heraus, mit der sie sogar in London auffallen, weil die echten Briten natürlich nicht so sind.
Wenn die Pet Shop Boys jetzt eine neue Platte namens ‘Fundamental’ herausbringen, auf der sie ungewohnt deutlich über Innenpolitik und den Alltag im Krieg gegen den Terror singen – dann fühlt sich das an, als ob das besagte Touristenpaar ins blutige New Yorker 9/11-Chaos hineinplatzt oder in die Rettungsaktion nach den Londoner U-Bahn-Anschlägen, und der Mann sagt: ‘Elizabeth, ich hoffe bloß, daß sie bei uns jetzt nicht auch noch die Personalausweispflicht einführen!’
Das haben sie ja tatsächlich getan in Großbritannien, wo es bis heute kein niedergeschriebenes Grundgesetz gibt und wo Churchill nach Ende des Zweiten Weltkriegs die vorübergehende Pflicht, einen Ausweis zu haben und vorzuzeigen, wieder abgeschafft hatte: Ende März gab das Oberhaus im Parlament der Blair-Regierung nach, ab 2010 braucht jeder eine ID-Card, und vom Kontinent aus fühlt man sich wie ein ekelhaft gehorsames Lämmchen, wenn man hört, welche Bürgerrechtsbedenken die Opposition in England dagegenhält.
Blairs Argumente sind freilich Menschenhandel, Terrorismus und daß der Mensch dem anderen Menschen halt ein potentieller Wolf sei – darüber singt Pet Shop Boy Neil Tennant schon im ersten Lied der Platte, ‘Psychological’, in dem ein Leichenbestatter auftritt, der sich durch den Bowler-Hut als Engländerkarikatur ausweist. Die Musik brodelt spukig, fistelnde Chöre hallen, der Sänger raunt vom komischen Geruch in der Luft, vom Klopfen an der Tür, den sonderbaren Flüssigkeitsresten auf dem Küchenboden. Er meint: die Angst, die alles kaputtmacht. Und damit sich kein Hörer gleich noch mehr fürchtet, weil er das Lied als Menetekel mißversteht, schiebt Tennant die Frage dazwischen: ‘Oder bilden wir uns das alles nur ein?’
Da stehen sie also wieder in der Landschaft, so männchenhaft starr und elektronisch verkühlt wie gewohnt, der belesene Neil Tennant, 51, und der als triebhafter Partytyp bekannte Keyboarder Chris Lowe, 46. Sie beweisen nebenher eine ganze Menge, was wir längst wissen – daß man weit jenseits der vierzig noch Pop machen darf, daß Tanzmusik möglicherweise auch Inhalte transportiert, daß eine ursprünglich teenie-orientierte Synthesizergruppe noch achtzehn Jahre nach dem letzten Nummer-eins-Hit wichtig sein kann. Und sie klingen im einzelnen leider trotzdem nicht, als stünden sie über den schwierigen Sachen, die sie so explizit behandeln und die sie, wenn man die letzten Interviews beim Wort nimmt, auch so verstanden haben wollen.
Der Partyboot-Beat ‘I’m With Stupid’ zum Beispiel beschreibt in einem Rausch von Signalwörtern die Bruderschaft zwischen Blair und Bush als unglückliche Liebe, ein von Karnevalsvereinen schon leergesaugtes Bild, was Textdichter Tennant vielleicht nicht weiß, weil es in England ja keinen richtigen Karneval gibt. ‘Integral’, ein blinder Elektro-Disco-Hupf, ist dann die ziemlich hektische Vision vom Staat als großem Ausweiskontrolleur. Reimgetreu poppig übersetzt: ‘Wir steuern hin auf eine Situation, / in der das Leben verkommt zur reinen Information’, mehr als ein paar Haltungspunkte kriegen sie dafür beim besten Willen nicht. Daß die Popmusik doch nur allzu selten ein schnelles Medium ist, hat eben auch der alte Neil Young bewiesen, als er eine Platte mit vergleichbar einfältigen ‘Stürzt Bush!’-Liedern herausbrachte, die aber dennoch gut ist, weil sie immerhin dokumentiert, wie spontan und ungekämmt der Sänger seinen Ärger hinausbrausen ließ. Bei den Pet Shop Boys züngelt natürlich nichts. Solche Politik kann man kaum machen, wenn das künstlerische Konzept die Hitzeflecken verbietet, die man von Gospel und emotionaler Anteilnahme bekommt.
Das soll nicht heißen, daß am Konzept des entfremdeten Herumstehens irgend etwas faul oder reaktionär wäre. Im Original waren die Pet Shop Boys ein ausgefuchst großartiges Statement gegen den Bewegungsdrang des maskulinen Rock, und genausosehr haben sie in die Tanzmusik, die während der Techno-Euphorie dem besagten Rock in vielem sehr ähnlich war, das unbezahlbare Ideal der Müdigkeit eingebracht. Alle Dinge, die in müdem Zustand sehr schwerfallen, fehlen auf provokante Art in ihren Disco-Hits: Sex, ungebrochener Narzißmus, die Überheblichkeit der Lebenslustigen.
Als es in der Thatcher-Zeit daheim für viele eng wurde, sangen sie ein Lied über die Qual des Strichjungen, der vom Geld seines Freiers lebt. Als Aids in den Nachrichten war, sangen sie mit schmerzstolzer Wehmut über Party-Gästelisten, auf denen die Leute nach und nach für immer gestrichen werden. ‘Die tiefere Wahrhaftigkeit eines Pet-Shop-Boys-Songs zu bezweifeln ist ebenso sinnlos, wie zu behaupten, daß eine Suppendose von Andy Warhol nicht wirklich satt macht’, schrieb Thomas Hüetlin in ‘Tempo’ über die achtziger Jahre, eine Dekade, für die das Werk von Tennant und Lowe heute ein Paradigma ist wie die Romane von Bret Easton Ellis oder Paul Schraders ‘American Gigolo’. Auch wenn das typisch Achtzigermäßige genau so ein schwankendes Klischee ist wie das typisch Britische.
Sind die als Erinnerung verbrämten Achtziger wieder da, als Gefühl? Kriegen wir wieder schlechte Träume von Atombomben, hat sich die Welt wieder in Inseln von Gut und Böse geteilt, ist die Geschichte, seit ihr Ende vermeldet wurde, vielleicht heimlich wieder losgegangen? Wie immer man sich das auch zurechtlegt: Das Prinzip der Pet Shop Boys, in dem die achtziger Jahre ein emotionaler Dauerzustand sind, erscheint einem heute so sonderbar passend wie lange nicht. Und neben den mißlungenen Protestsongs hat das Album ‘Fundamental’ ja noch eine zweite, viel bessere Hälfte, die die erste zu kommentieren scheint. Da geht es um einen ermatteten Casanova, um die elefantenschwere Stille zwischen den Liebenden, um die passiv-aggressive Sehnsucht danach, taub zu sein für den Rest der Welt.
Und in ‘Luna Park’, einem der größten Songs der Pet Shop Boys überhaupt, um den Vergnügungspark, in dem es niemals hell wird. Eine träge glitzernde Kirmesmusik, die Schlußlied eines Musicals sein könnte oder Soundtrack zur Naturtheater-Szene in Kafkas ‘Amerika’. Die zwei stehen wieder mitten im Weg, wie früher in der Disco in Puerto Rico, beobachten in Zeitlupe das langsame Riesenrad am Nachthimmel und die pünktliche Abfahrt der Geisterbahn. Ein Sturm wird kommen und alles wegblasen wie Mondstaub, singt Neil Tennant müde, aber egal, denn: ‘When we’re feeling scared, we’re happy.’ Wenn wir Angst haben, sind wir froh. Könnte auch heißen: Nur wenn wir Angst haben, sind wir froh. Es könnte eine lange, lustige Nacht werden.
Taken from: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Interviewer: Joachim Hentschel