Zwei Samurais in reifem Alter

Die Pet Shop Boys zählen seit Jahren zu den


erfolgreichsten und witzigsten Popbands. Auf


ihrem neuen Album ‘Release’ wagen sie einen


Schritt in Richtung Rock. Die neue Soundqualität


soll die existenzielle Tiefe der jüngsten Songs


unterstreichen.




Die Rockmusik will in der Seele lodern – und rebellieren auf der Welt; Emotionen sollen dabei mit Wucht in einfache

musikalische Formen strömen. Die verlangte Authentizität passt zu jugendlichen Musikern, zu ihren idealistischen

Kämpfen, zu ihrem stürmischen Gemüt. Älteren Kämpfern hingegen wünscht man eine frühe Pension, denn die wilden

Jahre zeichnen mit der Zeit tiefe Linien ins Gesicht, und am Ende lässt einen das Rockerleben als Karikatur zurück.




Kunst und Künstlichkeit




Anders im Pop. Hier kollaboriert Kunst mit Künstlichkeit, das Publikum feiert Idole statt Menschen – stilisierte

Figuren, Images, Traumbilder, die selbst keine biologische Alterung zu befürchten haben. Ihre sterblichen Darsteller

aber schlüpfen immer wieder in neue Rollen und lernen dabei, über die Hysterie der Hypes kühl hinwegzusehen. Das aber

verleiht ihnen Souveränität im bunten Spiel der Eitelkeit. So besehen erstaunt es vielleicht weniger, dass die

internationale Popszene künstlerisch derzeit von höheren Semestern geprägt wird: Madonna ist mit den Jahren immer

besser geworden, Gleiches lässt sich von George Michael sagen, auch Kylie Minogue demonstriert derzeit wachsende

Stilsicherheit. Und die guten alten Pet Shop Boys, sie haben dieser Tage mit ‘Release’ eines ihrer besten Alben

vorgelegt. – Irgendwie doch bemerkenswert für eine Band, die sozusagen als Kinderzimmerprojekt firmiert.



Vor Urzeiten sind die Pet Shop Boys mit dem Song ‘West End Girls’ am Firmament des britischen Pop aufgegangen. Wer

möchte all die Alben zählen, die sie seither veröffentlicht haben, und wer alle ihre Hits? Inspiriert durch Travestiekulte

der Gayszene, haben sich die beiden britischen Dandys immer wieder zu poppigen Cartoonmännchen stilisiert, die sie in

wechselnde Settings städtischen Alltagslebens und emotionaler Befindlichkeit setzten. Vielleicht sind sie davon ausgegangen,

dass es dem Publikum leichter fällt, sich mit musikalischen Comicfiguren zu identifizieren als mit realen Persönlichkeiten.

Sicher ist, dass sie dabei selber flexibler umgehen konnten mit ihrer schwankenden Identität als Popstars.



Der 49-jährige Sänger Neil Tennant und der 42-jährige Keyborder Chris Lowe galten bislang als hartgesottene Rockverächter;

durch öffentliche Statements gegen Bands wie U2 schienen sie das Gerücht zu bestätigen. Nun aber werden die Grooves auf

‘Release’ nicht selten auf einem echten Schlagzeug generiert, plötzlich sind rockige Gitarren zu hören, richtige Gitarrensolos

gar. Tatsächlich spielt der Gastmusiker Johnny Marr auf mehreren Tracks Gitarre, bei den meisten Saitenklängen handelt es sich

jedoch um Samples. Die britischen Musiker erklären, dass sie sich durch Rockelemente vom Mainstream des Dance abzugrenzen

versucht hätten; die Pop-Journaille glaubt nun, die jüngsten Songs als Schritte hin zur Inbrunst der Independent-Szene

interpretieren zu müssen. Näher liegt es, in den Rock-Zitaten erneut Spielerei zu vermuten.



So unterschiedlich die Figuren und Kostüme der Pet Shop Boys auch waren – die beiden Briten haben in der Musik rasch einen

eigenen Stil entwickelt, der auch die neuen Songs prägt. Und mag der ‘Release’-Sound erdiger und fester geworden sein, die

CD weist durchaus bewährte Qualitäten auf – und einige alte Mängel. Auf Synthesizern produziert, basieren die Stücke zumeist

auf simplen Strukturen. Oft definieren stakkierte Beats die Rhythmik, die Harmonien suchen die Klarheit von Primärfarben,

und die hymnischen Melodien sind eingängig. Leider werden die Sounds stets mit viel künstlichem Hall aufgeladen; der Gesang

gewinnt dadurch an Intensität, die ohnehin schwerfällige ‘Orchestrierung’ aber droht zu zerfliessen. – Und die Lyrics? In

ihrer lakonischen Verknappung, die hervorragend zu Tennants diskreter Stimme zu passen scheint, sind sie das eigentliche

Markenzeichen des Duos.




Rock als existenzielle Note




Auf ‘Release’ gibt es typische Tennant/Lowe- Songs, etwa ‘E-mail’, ein hübsches kleines Lied mit den leichten, luftigen

Major-Akkorden eines Bossa-Nova-Tunes; in die gleiche Kategorie fällt auch ‘I Get Along’, das in seiner üppigen

Instrumentierung mit schweren Piano-Akkorden, schwebenden Gitarrensounds und glasigem Hornsatz ein wenig an die Beatles

erinnert. Ihren komödiantischen Witz stellen die Pet Shop Boys in ‘The Night I Fell In Love’ unter Beweis: Aus der

Perspektive eines 18-Jährigen singt Tennant, wie er im Backstage-Bereich einen Popstar kennenlernt; Star und Fan verlieben

sich und verbringen zusammen die Nacht. Die Pointe: Im Star ist unschwer der amerikanische Rapper Eminem zu erkennen, der

den zweifelhaften Ruf eines homophoben Hetzers geniesst. – Der Schlüssel zum Verständnis der neuen Ästhetik findet sich in

‘The Samurai In Autumn’: ‘It’s not easy as it was / Or as difficult as it could be / For the samurai in autumn.’ So lauten

die haikuartigen Worte dieses Stücks, das sich über weite Strecken wie ein Dance-Track ausnimmt. Die Jugend war leichter, die

Zukunft mag schwerer sein: Tennant und Lowe sehen sich als Samurais in reiferem Alter. Dominierten im letzten Album, ‘Night Life’,

noch hedonistische Momente, so bestimmen nun Besonnenheit, Weisheit und traurige Klagen die Tonalität. ‘Here’ feiert das eigene

Zuhause; bereits im Opener ‘Home And Dry’ wünscht der Sänger sich den Liebhaber in die Beschaulichkeit des Eigenheims zurück.

Aus der Kadenz eines Gitarren-Intros ertönt folgende bittere Erkenntnis: ‘Love Is A Catastrophy’. Und in ‘Birthday Boy’

schliesslich werden gar religiöse Töne angeschlagen: Der Song sei dem schwarzen Teenager Steven Lawrence, Opfer eines Rassisten,

und Matthew Shepard, Opfer eines Schwulenhassers, gewidmet.



Heulende Gitarren, harte Trommelschläge – es rockt nun also im Popgemisch der Pet Shop Boys. So versuchen die kühlen Briten,

ihrem verspielten Sound eine emotionale Tiefenschärfe zu verleihen. Und tatsächlich: Reife, Ruhe und Drama wirken glaubhaft.

Taken from: Neue Zürcher Zeitung
Interviewer: Ueli Bernays