Wir alle werden durch Pop schlauer

Bei ihrem neuen Album »Yes« handelt es sich um ein typisches Pet Shop Boys-Album, wo Pop noch nach Versuchung klingt. Martin Hossbach traf Chris Lowe und Neil Tennant insgesamt drei Mal, um mit ihnen über ihr neues Album »Yes« im Speziellen und über den Zustand von Pop im Allgemeinen zu sprechen. Die Treffen fanden im Dezember letzten Jahres und diesen Januar im Café des Literaturhauses in der Berliner Fasanenstraße statt. Ihre langjährige Freundschaft, der Stand der Subkultur, die Zusammenarbeit mit dem Produzenten-Team Xenomania und Neil Tennants Erfahrungen bei Marvel Comics sind nur wenige der zentralen Fragen des Interviews, an dessen Ende das neue Spielsystem der Pet Shop Boys steht.



Sie haben Ihr neues Album »Yes« genannt, als würden Sie in Zeiten der Finanz- und Musikwirtschaftskrise voll auf die Kraft der bedingungslos optimistischen Affirmation vertrauen. Gleichzeitig reiht sich der prägnante Titel perfekt ein in die Tradition Ihrer nur aus einem Wort bestehenden Albentitel – wie »Please«, »Very«, »Disco« oder »Release«. Typisch Pet Shop Boys!


    Chris Lowe: Hörst du, Neil? Da ist es schon wieder, dieses Wort: ›typische‹! ›Typische‹, ›typische‹, ›typische‹! Wir kennen die Bedeutung dieses Wortes genau. Wir benutzen es ebenfalls, wenn uns unsere deutsche Plattenfirma in Köln in ein thailändisches Restaurant schleppen will und wir geradezu darauf insistieren müssen, dass wir, wenn wir schon mal hier sind, viel lieber ›typische‹ deutsche Küche haben wollen: typisch deutsche Würstchen, typische Braten und typische Kuchen.


    Neil Tennant: Ich habe gerade eine geniale Idee! Wir nennen »Yes« in Deutschland einfach »Typische«.





Korrekt müsste es auf Deutsch heißen: ›Typisch‹. Typisch Pet Shop Boys.



    NT: Was für ein toller Titel für eine Bestof-Sammlung!


    CL: ›Typische‹ klingt aber besser – selbst wenn es grammatikalisch falsch ist! »Pet Shop Boys: Typische«. Ich bin mir sicher, dass Neil sich sofort eine Notiz in seinem Handy machen wird – dort, wo er sich auch die ganzen guten Song- und Albumtitel notiert hat.



Aber wie kommt man nun darauf, ein Album »Yes« zu betiteln?


    NT: Es ist ein optimistischer Titel. »Yes« hat einen eindeutigen und bestimmten Klang. Es klingt auch sehr nach Obama.


    CL: Dass es genau jetzt zum ›Credit Crunch‹, im Jahr der Krise erscheint, amüsiert mich wirklich wahnsinnig!



Darf man fragen, ob Sie nach mittlerweile 25 Jahren Pet Shop Boys nach wie vor gut befreundet sind?


    CL: Wir verstehen uns tatsächlich noch immer sehr gut und sind im Grunde beste Freunde. Oft sind wir einer Meinung, oft aber auch nicht. Wir reisen gerne zusammen, wir kaufen gerne zusammen in Berlin Weihnachtsgeschenke ein und, vielleicht ist das wichtig, wir sprechen selten über unsere Freundschaft. Wir waren Freunde, bevor unsere Karriere mit den Pet Shop Boys begann.


    NT: Wir sprechen wirklich selten über unsere Freundschaft. Chris tut es auf jeden Fall nicht gerne. Er analysiert Beziehungen oder Freundschaften nicht. Als vor kurzem mein Vater starb, war Chris mir eine enorme Hilfe. Er griff mir unter die Arme, erledigte im Alleingang geschäftliche Dinge, welche die Pet Shop Boys betrafen, arbeitete alleine an einem Remix weiter, der unbedingt fertig werden musste. Aber wir machen auch gerne Quatsch zusammen, das haben wir richtig perfektioniert, wie ein ›Double Act‹, ein klassisches Comedy-Duo, dessen Reiz aus der Ungleichheit seiner Partner besteht. Wir wurden schon oft mit britischen Comedians wie Morecambe and Wise verglichen, oder sogar mit dem Künstlerpaar Gilbert & George. Ich finde diese Vergleiche gar nicht so unpassend, und doch ist es faszinierend, dass wir als Duo eine komplett eigene Identität entwickelt haben.



Kennen die Pet Shop Boys eigentlich so etwas wie den Impuls, sich mit einem Album ›neu zu erfinden‹?


    NT: Sicherlich kann man sich als Künstler über die Jahre hinweg weiterentwickeln, neue Dinge ausprobieren und dazulernen – auch die Pet Shop Boys haben sich in den letzten 25 Jahren verändert und ihr Umfeld reflektiert. Aber ich bin überzeugt davon, dass man sein Leben lang doch ein und dieselbe Person bleibt. Es läge uns beispielsweise total fern, ein Country-Album in Nashville aufzunehmen und uns anschließend zu erdreisten, angesichts solch oberflächlicher Formspielereien zu behaupten, wir hätten uns ›neu erfunden‹. Ich bin überzeugt davon, dass die Kontinuität, die in der Persönlichkeit des Menschen angelegt ist, jede oberflächliche Veränderung am Ende überstrahlt. Daher sage ich auch: Ein echter Künstler definiert sich über die Stimme, die er hat. Damit meine ich Stimme im übertragenen Sinne, nicht im Sinne von ›Gesang‹. Ich denke zum Beispiel an Bob Dylan: Er hat seine gesamte Karriere hindurch immer konsequent durchdachte Texte abgeliefert, das kann man ihm nicht nehmen. Die Pet Shop Boys haben sich nur unter Pop-Gesichtspunkten ein Mal neu erfunden, als sie Anfang der Neunziger mit gepunkteten Hüten und dem Album »Very« zurückkamen. Eine musikalische Neuerfindung war das nicht, lediglich eine visuelle. Wir besitzen nach wie vor den Ehrgeiz, gute Popmusik zu schreiben – das treibt uns an.


    CL: Es gibt diesen singulären Moment, wenn Musik den Nerv ihrer Zeit trifft. Dann kann aus einem Song ein großer Hit werden. Das ist in meinen Augen das Wesen von Pop: Pop ist eine Kunstform, die sehr nah am Zeitgeist entlangsurft und in ihren besten Momenten alles in ein paar Worten und einer Melodie auszudrücken imstande ist. Wir versuchen Songs zu schreiben, die einerseits gewissen Regeln folgen, andererseits achten wir darauf, dass Regeln stets auch gebrochen werden.


    NT: Chris hat das alles ja nicht studiert. Er liest keine Bedienungsanleitungen und macht im Studio oft Sachen verkehrt, drückt die falschen Knöpfe, komprimiert Sounds, obwohl er sie gar nicht komprimieren will, benutzt ein und denselben Halleffekt für ein ganzes Stück, und so weiter.


    CL: Aus Unfällen, aus dem Ungeplanten, entstehen oft die interessantesten Ergebnisse! Nur so, im bewussten Befolgen und Brechen von Regeln, können mit etwas Glück Songs entstehen, die ewig gültig sind. In der klassischen Musik verhält es sich übrigens ähnlich. Dort steigern sich die Komponisten oft im Laufe der Jahre, weil sich ihr Gespür für das Erlaubte und das Verbotene verfeinert und sie das Verbotene gezielter einsetzen.


    NT: Und trotzdem folgen auf Zeiten, in denen wir relevant sind, immer wieder Zeiten, in denen wir weniger zu sagen haben. Manchmal trifft unser Sound den Zeitgeist, manchmal nicht. Aber man sollte sich als Künstler darüber nicht zu viele Gedanken machen.



Sie meinen, anders als Bono, der sich viele Sorgen um sein politisch korrektes Image zu machen scheint?


    CL: Wo er sich doch …


    NT: … und ich bin mir hundertprozentig sicher: Brian Higgins von Xenomania würde es ihm sofort sagen …


    CL: … lieber stattdessen Gedanken darüber machen sollte, wie er mal wieder einen echten Hit schreibt!


    NT: Bono bräuchte nicht mehr als einen guten Song, einen guten Text, einen guten Beat und die richtigen Sounds – und man würde ihn wieder ernst nehmen. Dann müsste er sich um seine eigene Bedeutung keine Gedanken mehr machen. Aber ich ahne, dass er das selbst ganz genau weiß. Ich bin mir sicher, dass U2 sich bald bei Xenomania, mit denen wir an »Yes« arbeiteten, melden werden.



Und die Pet Shop Boys sind frei von jedem Ehrgeiz?


    CL: Natürlich sind wir ehrgeizig. Aber wir haben uns nie verkrampft – die Hits passierten einfach. Und immer wenn sie passierten, haben wir uns natürlich sehr darüber gefreut. Aufregende Zeiten sind das, wenn du in den Charts ganz oben stehst!


    NT: Ich fand es eigentlich immer ganz furchtbar, wenn die Pet Shop Boys mal keinen Hit hatten. Wir haben aber nie eine Wissenschaft daraus gemacht.



Muss sich Pop, um Pop zu sein, gut verkaufen?


    CL: Jeder Song, der über sein Genre hinauswächst, ist Pop. Ein Rocksong, der von Menschen geliebt wird, die sonst nicht Rock hören, wird auf diese Weise zu einem Popsong – in diesem Sinne sind auch alle Singles der Killers Pop. Das Genre ist egal, ein Song muss eine transzendierende Qualität haben und zudem über eine Melodie verfügen, die man sich so leicht merken kann, dass man sie in einer Karaoke-Bar nachsingen kann.


    NT: Vielleicht muss man noch mal daran erinnern: Popmusik heißt Popmusik, weil ›pop‹ die Abkürzung von ›populär‹ ist. Andy Warhol war Pop, weil er seine Kunst auf einen Massenmarkt hin ausrichtete. Für mich ist der Massenmarkt ganz klar das interessanteste Spielfeld, da sich hier gesellschaftliche Veränderungen am sichtbarsten manifestieren. Sicherlich wurden früher viele Impulse von der Subkultur ausgesandt – doch die ist heute verschwunden. Es gibt heute keinen Underground mehr, sondern nur noch den Massenmarkt – und natürlich den gescheiterten Massenmarkt.



Gehörten die Pet Shop Boys jemals zur Subkultur?


    NT: Wir wollten niemals zur Subkultur gehören. Wobei, das ist ja Unsinn: Natürlich wollten wir das! Als wir anfi ngen, war unser einziges Ziel, mit »West End Girls« eine Maxi auf dem Label des legendären Disco-Produzenten Bobby O zu veröffentlichen. Aber in dem Moment, als der Song herauskam und zu einem Hit wurde, änderten wir unser Vorhaben schlagartig – und wollten fortan den Massenmarkt knacken.



Was erschien Ihnen damals daran so reizvoll?


    NT: Ganz einfach: Wir wussten mit einem Mal, dass wir das Zeug dazu hatten. Ein einschneidender Moment. Allerdings hat sich der Massenmarkt seitdem sehr verändert. Es scheint nur noch darum zu gehen, Sex zu verkaufen!





Die Pet Shop Boys haben Sex nie in den Vordergrund gestellt?



    NT: Jedenfalls nicht auf eine platte, sofort zu durchschauende Weise – und das ist eines unserer großen Probleme! Wir hätten vielleicht viel mehr Platten verkauft, hätten wir es getan. Andererseits schätzt man uns natürlich auch genau für diesen Verzicht. Man mag unseren Kunstsinn, und dass wir nicht mit platten Effekten arbeiten – wir haben im Popmarkt eine Nische gefunden, in der wir letztlich machen können, was wir wollen, und ab und an ist das dann sogar massenkompatibel. Die Pet Shop Boys sind in diesem Sinne vielleicht so etwas wie ›Pop-Underground‹, es gibt ja sogar einen Kult um uns. Besonders anregend ist es, wenn jüngere Fans neu dazustoßen, die sich ein Album von uns kaufen und denen sich dann plötzlich ein ganzes Universum erschließt.



Ich habe es an mir selbst erlebt: Die aus dem Irak stammende Architektin Zaha Hadid ist mir erst dadurch zu einem Begriff geworden, dass sie das Bühnenbild Ihrer »Nightlife«-Tour entworfen hatte.


    NT: Ja, Pop war ja auch schon immer eine riesige Wissensmaschine. Als Bryan Ferry im Jahre 1973 sein erstes Soloalbum veröffentlichte, das nur aus Coverversionen bestand, kannte ich die Originalversionen von »Sympathy for the Devil« von den Rolling Stones und »Don’t Worry Baby« von den Beach Boys noch gar nicht! Viele Menschen haben zum ersten Mal von Nietzsche gehört, weil David Bowie eine Zeitlang dauernd von ihm geredet hat. Und wie viele junge Leute haben Luchino Viscontis Film »Die Verdammten« nur gesehen, weil es diese gleichnamige Rockband namens The Damned gab? Wir alle werden durch Popmusik schlauer! Mir bereitet es daher auch großen Spaß, Begriffe oder Personen aus der Hochkultur in meinen Texten unterzubringen. Bei »Love etc.«, der ersten Singleauskopplung von »Yes«, erwähne ich an einer Stelle zum Beispiel den deutschen Maler Gerhard Richter, dessen Name auch auf Englisch sehr gut klingt: »Görhartt Rrrikter!« Zuerst sollte die Zeile heißen: »You need more than the Andy Warhol hanging on your wall«. Das fand ich dann aber doch etwas dämlich – und änderte Andys Namen in Gerhard Richter. Und wer den nicht kennt, der googelt vielleicht seinen Namen und wird dann möglicherweise auch herausfinden, dass unser Cover von »Yes« von Gerhard Richters Fenster im Kölner Dom inspiriert ist. Genauer gesagt: Es ist angelehnt an das Cover des Katalogs zu einer Ausstellung von Gerhard Richter, die vor wenigen Monaten unter dem Titel »4.900 Colours« in der Londoner Serpentine Gallery zu sehen war.



Oberflächen schienen den Pet Shop Boys immer genauso wichtig zu sein wie die Musik.


    NT: Pop ›is‹ surface! Popmusik muss eine großartige, perfekte Oberfläche haben. Bei schlechten Künstlern ist die Oberfl äche dann allerdings interessanter als der Inhalt. Auch wenn wir unseren Oberflächen immer sehr viel Aufmerksamkeit widmen – den Covern, den Videos und Soundästhetiken: Der Song steht doch stets im Mittelpunkt.


    CL: Wir sehen uns in erster Linie als Songwriter, als Autoren, als Komponisten – in der Tradition von Rodgers and Hammerstein, den großen Broadway-Musical-Komponisten der Vierziger und Fünfziger. Zu Pop werden unsere Songs durch die Form der Darreichung. Wir mögen kalte Technologie und elektronisch erzeugte Wärme, synthetische Streicherflächen und harte Drums. Ein guter Song vereint die Kontraste von hart und weich, Euphorie und Melancholie, Glück und Trauer. Beim Schreiben folgen wir unseren Instinkten. Als Neil und ich uns in den frühen Achtzigern kennenlernten, waren Synthesizer, Sampler und Drum-Machines noch relativ neu und zugleich schwer angesagt. Natürlich bedienten wir uns dieser modernen Werkzeuge, um damit einen zeitgemäßen Sound zu erzeugen. Wir weigerten uns strikt, herkömmliche Instrumente in die Hand zu nehmen. Doch diese Ablehnung betraf nie das Handwerk des Komponierens – jeder Song von uns kann ohne weiteres auf einem Klavier oder einer Gitarre nachgespielt werden.



Hat es der Karriere der Pet Shop Boys geholfen, dass Neil Tennant vorher als Redakteur der legendären Musikzeitschrift Smash Hits gearbeitet hat?


    CL: Als Pop-Journalist wusste Neil sicher, nach welchen Regeln die Medien funktionieren – ein Einblick, den die meisten anderen Musiker nicht haben. Wir beide schrieben aber auch schon in den Siebzigern Songs, als wir uns noch gar nicht kannten.


    NT: Chris hat absolut Recht mit seiner Antwort. Ich habe bereits mit neun Jahren angefangen, Songs zu schreiben – lange bevor ich Musikredakteur wurde. Ich hatte zunächst als Redakteur bei Marvel Comics gearbeitet, die »Spider-Man« und »Hulk« veröffentlichen. Dort und danach bei Smash Hits lernte ich, wie man Texte editiert, pointiert, aufbereitet. Ich lernte, Teile zu verschieben oder zu löschen, ohne dass die Bedeutung eines Textes zerstört wurde. Im Gegenteil: Durch mein Redigieren wurden die Texte immer besser und lesbarer. Gerade bei Marvel Comics, wo ich Comics vom amerikanischen ins britische Englisch übersetzte, wurde mir die Bedeutung der Kombination Wort/Bild bewusst – was da alles interagiert! Dieses Wissen übertrug ich natürlich auf die Pet Shop Boys. Dass Chris studierter Architekt ist, half außerdem – man könnte sagen: Unsere Sinne waren durch unsere jeweiligen Vorgeschichten geschärft. Und genau diese Herangehensweise haben wir in Brian Higgins von Xenomania wieder ntdeckt: Auch er ist in gewisser Weise ein guter Redakteur und Lektor. Er weiß, welche Wörter er wohin umstellen muss und welche Teile eines Songs besser an eine andere Stelle passen. Brian ist der festen Überzeugung, dass man einen Hit am Reißbrett entwerfen kann. Einer der ersten Sätze, die er zu uns mit ernster Miene sagte, lautete: »Ich glaube fest daran, dass die Pet Shop Boys noch einmal einen Riesenhit landen können.«


    CL: So etwas hört man natürlich gerne!


    NT: Brian ist absolut besessen von dem Konzept des Hits. Es tut gut, so jemanden um sich zu haben.



Ist »Love etc.« ein sicherer Hit?


    NT: Bestimmt! »Love etc.« ist postmaterialistisch, man könnte auch sagen ›post-lifestyle‹. Der Song sagt unterm Strich: »All you need is love«, und stellt fest, dass man sich nicht ein Haus in Beverly Hills, einen Sportwagen oder ein Gemälde von Gerhard Richter kaufen muss, um glücklich zu sein. In den letzten Jahren versuchten immer mehr normale Menschen, sich wie Victoria und David Beckham zu benehmen und zu kleiden. Man kaufte sich immer häufiger Kleidungsstücke, die nur eine Saison lang getragen wurden. Aber das macht niemanden glücklich! In Großbritannien leben wir mittlerweile in einer ›gestischen‹ Gesellschaft, es geht nur noch um Gesten, nicht mehr um Haltungen. Wir reden über Umweltschutz und gehen anschließend zu Marks & Spencer, um ein in Plastik verschweißtes Sandwich zu kaufen. Hoffentlich wird Obama mehr als nur Gesten zeigen. Was wir heute brauchen, ist Substanz!


    CL: Ein Song wie »Love etc.« spricht sich gegen die Haltung aus, die von einer Sendung wie »MTV Cribs« verbreitet wird: Wohlhabende Musiker, Schauspieler und Sportler zeigen ihre – meist sehr hässlichen – Häuser und Autosammlungen. Hier wird eine materialistische Ideologie propagiert, in der Reichtum alles bedeutet und du deinen Reichtum auch zeigen musst. Mich kotzen diese Sendung und die damit verbundene Ideologie so dermaßen an, dass ich wünschte, alle Mitwirkenden würden zur Strafe extra hart besteuert. Was wollen diese Menschen? Wol len sie Musik oder Geld machen? Geld als Antrieb reicht nicht aus. Uns ging es nie um Geld. Deshalb haben wir zum Beispiel schon oft absurd hohe Summen in die Ausstattung von Tourneen gesteckt, bei der »Performance«-Tour aus dem Jahr 1990 etwa – und wir haben auch schon viel Geld verloren, zum Beispiel, als wir von unserem Konzertveranstalter Harvey Goldsmith betrogen wurden.



Sie wollen sagen, dass Sie arm sind?!


    CL: Natürlich nicht. Aber wenn wir uns mit dem Geld, was wir verdient haben, etwas geleistet haben, dann eine kostbare künstlerische Freiheit – sowie kostbare Zeit, die wir zur freien Verfügung haben. Vor ein paar Jahren haben wir ein Musical geschrieben, dieses Jahr steht eine Ballettmusik an, und es gab unsere Vertonung des Stummfi lm-Klassikers »Panzerkreuzer Potemkin« von Sergei Eisenstein. Immer im Modus des Popalbums zu arbeiten, das kann es nicht sein.


    NT: Ich schließe mich Chris an. Vor kurzem sagte mir jemand bei der Beerdigung meines Vaters, ich sei ›getrieben‹. Und das stimmt: Mich treibt unsere Musik an. Nicht Geld. Und genau deshalb stehen wir dann auch bei Minusgraden in einer Werft in Newcastle und spielen dort unseren Soundtrack zu »Panzerkreuzer Potemkin«.



Einen Großteil der Jahre 2006 und 2007 haben die Pet Shop Boys auf einer Welttournee verbracht. Schreiben Sie in solchen Phasen neue Songs? Während Wartezeiten, in Zwischensituationen, im Umkleideraum, in der Lufthansa-Lobby?


    NT: Um Himmels willen – wir sind doch nicht R.E.M.! Wir brauchen Ruhe zum Songschreiben. Und es stimmt: Wir sind in den letzten Jahren so viel getourt wie noch nie. Im Februar 2007 gab es aber eine Ruhepause. Wir nutzten die Zeit, um vor der Wiederaufnahme unserer Tournee in Südamerika eine Writing Session einzulegen. In diesen Wochen haben wir immerhin sechs Songs geschrieben. Wir wären sogar noch viel weiter gekommen, hätten wir in der Zeit nicht noch fünf weitere Stücke in verschiedenen Stilen für Kylie Minogue komponiert. Wir waren nicht die Einzigen: Viele andere Songwriter waren von Kylie gebeten worden, neue Songs für ihr nächstes Album einzureichen.


    CL: Und was geschah? Kylie wollte keinen einzigen unserer Songs – Pech für sie, gut für uns, denn wir veröffentlichen den Kylie-Song »Pandemonium« …


    NT: … dessen Text sich mit der Beziehung von Kate Moss zu Pete Doherty beschäftigt …


    CL: … jetzt einfach auf »Yes.



Schreibt man anders, wenn man im Kopf hat, dass Kylie den Song singen wird?


    CL: Um ehrlich zu sein: Wir schrieben den Song, nachdem wir bei einem Abendessen einige Flaschen Wein getrunken und danach spitzenmäßige Laune hatten. Ich hatte völlig vergessen, dass es um Kylie ging. Man kann sich sicherlich konzentriert hinsetzen und überlegen, was ihre Leute wohl gerne hören würden, aber das haben wir nicht getan. Vielleicht hat es ihr deshalb nicht gefallen.



Fällt es schwerer, Songs für andere Künstler statt für sich selbst zu schreiben?


    CL: Weder noch. Wir müssten wohl sagen: Wir hatten nie ein Problem damit, überhaupt Songs zu schreiben. Uns gingen Songs schon immer leicht von der Hand – egal ob für uns oder jemand anders.


    NT: Wir schreiben neue Songs und nehmen sie provisorisch auf. Was wir als Arbeitsskizze betrachten, empfinden Dritte überraschend oft bereits als relativ ausgefeilt.


    CL: Wir schreiben sowieso nur Songs, um sie auch zu veröffentlichen – wir arbeiten ja nicht für die Schublade.


    NT: Das führt mitunter zu Irritationen: Unser alter Produzentenfreund Trevor Horn, der geniale Erfinder von Frankie Goes To Hollywood, sprach mich während der Sessions zu »Fundamental« an und sagte, er fände es relativ ungewöhnlich, dass wir mit fertig produziertem Gesang in sein Studio gekommen seien. Ich sagte ihm: Einen Song zum ersten Mal zu singen, ist immer etwas Besonderes. Es ist eine Entdeckungsreise ins Unbekannte, damit einher geht ein spezielles Gefühl, dass sich ›so‹ nie wieder einstellen wird. Das macht die jeweils erste Aufnahme eines neuen Songs oft so einmalig gut. Und zu Hause habe ich die Möglichkeit, einen solchen ersten Take bereits in makelloser Tonqualität aufzunehmen. Manchmal verwenden wir den dann eben auch.


    CL: Es geht schlussendlich darum, ein Demo so schnell wie möglich aufzunehmen. Es wäre wahnsinnig bescheuert, Stunden damit zu verbringen, die Bassdrum richtig kicken zu lassen, wenn es doch letztlich um das große Ganze, den Song, die Komposition an sich geht. Wir gestalten den Songwriting-Prozess so einfach wie möglich, das anschließende Ausproduzieren des Songs kann dann gerne so aufwändig wie möglich ausfallen. Je einfacher das Demo, desto mehr Gestaltungsspielraum für den Produzenten. Als wir uns Anfang letzten Jahres wieder in Neils Landhaus in Nordengland trafen, um die Arbeit an »Yes« weiterzuverfolgen, war es dann eigentlich wie immer: Wir begegneten uns – abgesehen von »Pandemonium« – mit leeren Händen. Wir hatten nichts außer ein paar Ideen.



Mit den neuen Songs gingen Sie dann zu Brian Higgins nach Kent. Behauptet er wirklich, Hits am Fließband produzieren zu können?


    NT: Ja! Higgins ist besessen von Popmusik und ihrer Planbarkeit. Er provozierte uns, indem er behauptete, die Pet Shop Boys hätten mit »Domino Dancing« 1988 sehenden Auges einen Holzweg eingeschlagen. Das ließen wir natürlich nicht auf uns sitzen und gaben ihm Kontra. Im Laufe der Auseinandersetzung wurde uns aber klar, dass wir die Diskussion auf einem hohen Niveau, sehr kultiviert führten. Irgendwann bemerkte Higgins nebenbei – und das war eher charmant als provokativ –, dass er die Songs, die wir während unserer Working Sessions in Durham skizziert hatten, für die besten der Pet Shop Boys seit über zwei Jahrzehnten hielte.



Wer »Yes« nun hört, kommt nicht umhin zu denken: In Kent haben die Pet Shop Boys ihren Trademark-Sound aufgefrischt. Was machen Higgins und sein Team von Songwritern und Tonmeistern anders als andere?


    CL: Es handelt sich dort in Kent, in diesem großen Landhaus, im dem Xenomania arbeiten, einfach um eine sehr kreative und inspirierende Umgebung. Mindestens ein Dutzend Leute arbeiten für Brian. Letztlich trifft er aber alle Entscheidungen. Er sitzt in seinem Studio und stellt Analysen an, was einem Song noch fehlt. Danach verteilt er entsprechende Aufträge an seine Mitarbeiter, die sich dann aber sehr wohl mit ihren Ideen einbringen dürfen.


    NT: »Love etc.« ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Zusammenarbeit mit Xenomania vonstatten ging: Brian spielte uns eine Reihe von Instrumentals vor, die er vorbereitet hatte, Chris und ich wählten das eine aus, das uns besonders gefiel. Gemeinsam mit Brian und seiner Songwriter-Partnerin Miranda Cooper schrieben wir dann die Melodie und den Text zu dem Instrumental.


    CL: Während Brian, Miranda und wir neue Stücke erarbeiteten, vertikutierte das Xenomania-Produktionsteam unsere Demos. Gelegentlich schickte mich Brian mit einem Diktiergerät in einen der Räume im ersten Stock, wo ich einfach auf dem Keyboard vor mich hin spielen sollte. Später wählte er aus diesen freien Improvisationen einzelne Passagen aus – und sie passten perfekt! Ich war ganz perplex: So hatten wir zuvor noch nie gearbeitet.


    NT: Die Erfahrung in Kent war ganz und gar Pet-Shop-Boys-untypisch! Während Chris im ersten Stock verschwand, saß ich mit Brian und Miranda in einem anderen Raum, sang vor mich hin und improvisierte in ihrer Gegenwart Textzeilen. Rückblickend ist es erstaunlich, dass wir dieses Procedere so mitgemacht haben. Wir haben unsere Egos einfach an der Türschwelle abgegeben – und es erst später gemerkt. Vielleicht ist dies das Geheimnis von Xenomania?


    CL: Einmal bat Brian mich, so viele verschiedene Melodien wie möglich über ein und denselben Beat zu spielen. Da begriff ich, wie Xenomania arbeiten: Sie arbeiten modular, sie entwickeln sehr viele verschiedene Ansätze für ein und denselben Song. Anschließend entscheidet Brian dann, welche Melodie tatsächlich benutzt wird. Mitunter entstehen auf diese Weise überraschende Songstrukturen. Was eigentlich als Melodie für die Strophe gedacht war, kann als Refrain ganz neu klingen, wie noch nie gehört. Wir hingegen haben uns in der Vergangenheit immer genau festgelegt, welche Melodie zu welchem jeweiligen Teil eines Liedes gehört. Wir waren in diesem Punkt immer sehr rigide – man könnte auch sagen: unflexibel. Bei Brian kann sich alles jederzeit überall hinentwickeln.


    NT: Ich spielte mir immer wieder von Chris auf diese Weise komponierte Melodien auf mein iPhone, ging in den Hügeln spazieren und kam manchmal nach ein paar Stunden mit einer Melodie zurück.



Bedeutet dies im Umkehrschluss auch, dass Sie verschiedene Texte für ein und denselben Song schrieben?


    NT: Ja – auch das ist eine gute Herangehensweise! Allerdings schreiben die Leute bei Xenomania dann doch auf eine ganz andere Art und Weise Texte als ich: Sie schreiben Texte als Hooks. Sie denken – anders als ich – in kurzen, zusammenhanglosen Slogans, in Satzteilen. Sie denken, wie Chris schon bemerkte, modular. So sehr mich dieser Aspekt auch fasziniert, so wenig werde ich ihn wohl übernehmen: Bei mir muss eine Geschichte schon einen Anfang und ein Ende haben.


    CL: Wir haben bisher von jedem Produzenten etwas gelernt, aber in diesem Fall war es fast beängstigend.



Brian Higgins scheint wie ein guter Fußballtrainer zu arbeiten, der neu zu einer Mannschaft dazustößt: Es genügen einige wenige taktische Tipps und Tricks, und das Spiel der Mannschaft ändert sich spürbar.


    NT: Ein guter Vergleich.


    CL: Fußball eignet sich ja für fast alles als Metapher. Wie ein Trainer veränderte Brian unser Spiel. Wir spielen jetzt nicht mehr das klassische 4-4-2-System, wir spielen jetzt …


    NT: … 5-3-7-6!

Taken from: SPEX
Interviewer: Martin Hossbach