West End Boy

Er wohnte um die Ecke von Maggie Thatcher,


erlebte Punk und Glam-Rock und hat Boy George einmal


sehr beleidigt: Neil Tennant, Sänger der Pet Shop Boys,


lebt seit dreißig Jahren in London. Hier erzählt er,


wie sich die Hauptstadt der Popkultur verändert hat.




An das erste Mal in London erinnere ich mich sehr genau. Mein Vater musste dort für eine Geschäftsreise hin – im Sommer 1967,

ich war gerade 13 Jahre alt geworden. Wir sind sehr früh am Morgen von Newcastle mit dem Auto losgefahren. Das war noch lange,

bevor es die Autobahn gab. Wir brauchten etwa sieben Stunden, bis wir London erreichten. Nach einem frühen Lunch haben wir uns

um ein Uhr am Cambridge Circus getrennt.



Als Kind habe ich mich immer für das Theater interessiert. Das erste, was ich also tat, war, die Shaftesbury Avenue hinunterzugehen,

die sich gleich um die Ecke vom Cambridge Circus befindet. Ich konnte nicht fassen, wie viele Theater es gab. In Newcastle gab es

ein einziges – und die Shaftesbury Avenue bestand buchstäblich aus Theatern! Es war atemberaubend, an den Theatern vorbei zu

marschieren und in jedem Schaukasten ein anderes Stück zu bewundern. Nach dem Dinner mit Arbeitskollegen meines Vaters – übrigens

im Copeland Hotel, wo Jahre später Jimi Hendrix sterben sollte – machte mein Vater mit mir noch eine kleine Stadtrundfahrt im Auto.

Wir fuhren vorbei am Buckingham Palace und den vielen erleuchteten Theatern. An diesem Abend beschloss ich, dass ich in London leben

wollte.



Fünf Jahre später, im Sommer 1972, zog ich nach London, um Geschichte zu studieren. Ich studierte an der Polytechnic of North London

und wohnte das erste Semester in einem Internat in Holloway im Norden von London. Gleich in der Nähe eines Gefängnisses. Wir teilten

uns das Zimmer zu dritt. Ich hasste es. Es war entsetzlich. Am Ende des Semesters beschloss ich, es reicht.



Ich zog mit zwei Freunden aus Newcastle gleich nach Weihnachten in eine Wohnung in Tottenham auch in Nord-London. Dreieinhalb Jahre

blieb ich dort. Tottenham ist ein ethnisch äußerst gemischtes Arbeiterviertel. In der Straße lebten hauptsächlich West Indians – Menschen

aus der Karibik –, was wir ungeheuer faszinierend fanden, denn das kannten wir überhaupt nicht. Wir kamen sehr gut miteinander aus. Das

war alles so fabelhaft, so ganz anders als Newcastle.



London wurde in den frühen Siebzigern unheimlich stark von Glam-Rock geprägt. Eine gewisse Aura existierte in der Stadt. Ich war ein

Riesen-Fan von David Bowie und stolzierte mit rotgefärbten Haaren sowie enormen Plateau-Schuhen im College herum, während die anderen

Studenten langweilige halblange Haare und noch langweiligere Klamotten trugen. Das Studentenleben habe ich deshalb nicht wirklich genossen.

Die Uni war wie ein Job für mich. Ich nahm den Bus zum College nach Kentish Town und traf mich danach mit meinen Freunden.




Sid Vicious mit der Fahrradkette




Wir gingen oft in ein Geschäft an der Kensington High Street, ‘Beebles“. Die Sachen haben wir uns allerdings nur angeschaut, es war

einfach alles viel zu teuer. Der Laden war früher ein Art-Déco-Kaufhaus gewesen. Die ästhetik erinnerte sehr stark an das Hollywood

der Dreißiger, die Einrichtung schien vom Film ‘Cabaret“ beeinflusst. Ich liebte es. Alles war so göttlich dekadent. Neben Designer-Kleidung

verkauften sie zum Beispiel ‘Beebles Baked Beans“ in Art-Déco-Büchsen. Ein Freund hat mir neulich noch eine Büchse gezeigt. Er hebt die

immer noch auf, nach 30 Jahren!



Damals war ich kein großer Club-Gänger. Manchmal zogen wir in einen Schwulen-Club namens ‘Chaguramas“. Der war total glamourös,

unglaublich teuer und sehr sophisticated. Mir gefiel die Musik dort außerordentlich gut. Zum ersten Mal habe ich dort einen Extended

Mix gehört: ‘Papa Was A Rolling Stone“ von den Temptations. Aber nach einer Weile konnten wir es uns leider nicht mehr leisten hinzugehen.

Nach meinem Abschluss an der Universität bekam ich sofort einen Job als Redakteur bei Marvel Comics. Kurz darauf zog ich von Tottenham

in ein Zimmer nach Knightsbridge. Von einem Fenster der Wohnung konnte man ‘Harrods“, das Kaufhaus, sehen. Als ich 1978 einen neuen Job

bei Macdonald Publishing bekam, bin ich in ein Studio-Apartment an der King’s Road gezogen.



Das war damals schon die Punk ära. In London begann Punk so um 1976. Ich erinnere mich noch, als ich zu der Preview von David Bowies

Film ‘The Man Who Fell On Earth“ ging. Mir fiel eine Gang auf, die ich zuerst für Bondage-Prostituierte hielt, weil sie nur Gummi-Klamotten

trugen. Es stellte sich heraus, dass es Malcolm McLaren und die ganze Sex-Pistol-Clique waren. Ein Freund nahm mich im selben Jahr

zu einem Konzert der Band in Kensington mit. Es kam zu einem Kampf im Publikum. Sid Vicious, der damals noch kein Bandmitglied war,

schlug einen Hippie mit einer Fahrradkette zusammen.



Punk entwickelte sich zu einem riesigen Mode-Moment Londons – und die King’s Road war ihr Epizentrum. Wenn ich aus meinem Fenster

schaute, konnte ich die Punks sehen, wie sie am ‘Chelsea Potter“, einem Pub, vorbeimarschierten. Sie waren aber nicht die einzigen.

Plötzlich gab es so verdammt viele Jugendkulturen, dass man ein Buch darüber hätte schreiben können. Ich sah Walkabillies, Teddyboys,

Mods, Punks. Am Ende der Siebziger kamen noch die ersten New Romantics hinzu.



In jenen Tagen habe ich einen großen Teil meines Lebens an diesem Fenster verbracht. Meist lief es so, dass die Teddyboys die

Punks jagten und sie zusammenschlugen. Am letzten Samstag eines jeden Monats gab es außerdem eine Parade von amerikanischen Autos

aus den Fünfzigern, die über die King’s Road fuhren. Da kamen dann Freunde vorbei, und wir saßen mit einem Kaffee am Fenster,

um uns das anzuschauen.



Heute ist die King’s Road eine recht beliebte Einkaufsstraße. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie mal richtig Furcht einflössend

war. Es gab so eine unterschwellige Gewalt, eine nicht gerade aufregende Aura von Verbrechen. Als ich 1977 die Straße einmal mit

Freunden herunterlief, kamen Punks auf uns zu und spuckten uns ins Gesicht. Das war nicht besonders angenehm. Wir hatten den Eindruck,

die würden uns gleich zusammenschlagen, nur weil wir keine Punks waren. London wurde in den späten Siebzigern wirklich gewalttätig.

Die Polizei lief ständig Streife. Am Ende der Punk-Zeit kam dann auch noch das Skinhead-Revival und die neo-faschistische Bewegung der

National Front flammte auf. London entwickelte sich damals von einer sehr glamourösen zu einer sehr hässlichen Stadt. ‘London Calling“

von The Clash schildert die Aggressivität, die damals herrschte, ziemlich gut. Das lief bis etwa 1980 so. Eigentlich beendete Margaret

Thatcher die Bewegung, denn sie drehte der National Front den Geldhahn zu. Zu dieser Zeit lebte ich buchstäblich um die Ecke von Mrs.

Thatcher. Ihre Wohnung befand sich in der Flood Street, die von der King’s Road abzweigt. Als sie 1979 die Wahlen gewann, campierten

die Fernsehstationen der gesamten Welt vor unserer Haustür. Man fühlte sich wirklich im Mittelpunkt des Geschehens – und als Labour-Anhänger

am Beginn eines schrecklichen Unglücks.



Auf der King’s Road traf ich 1981 in einem Hi-Fi-Laden auf Chris Lowe. Das Geschäft heißt ‘Chelsea Music Stores“ und existiert noch heute.

Es wird also Zeit für eine Gedenktafel! Denn von da an begannen wir als Pet Shop Boys, Musik zu schreiben. Mit Chris und einem schwulen

Freund begann ich auch wieder, in Clubs zu gehen. Ende der Siebziger hasste ich die Schwulen-Szene aus vollem Herzen. Das war die Zeit

der Klone. Jeder trug Levi’s-Jeans, T-Shirt und einen hässlichen Schnurrbart. Das änderte sich zum Glück mit dem Durchbruch der New

Romatics. Man begann wieder, Make-up aufzulegen.



Ab 1982 habe ich bei ‘Smash Hits“ gearbeitet. ‘Smash Hits“ war eine neue Musikzeitschrift in Farbe. Wir verkauften das ganze

New-Romantic-Ding und gaben den Kids, was sie wollten. Kim Wilde, Human League, Culture Club. Das Büro von ‘Smash Hits“ war in

einer sehr berühmten Straße Londons, der Carnaby Street. In den Sechzigern war dort das Epizentrum der Hippie-Bewegung, Ende der

Siebziger hatte sich der Glanz zugunsten von Touristen-Läden verflüchtigt. Boy George spazierte hier manchmal lang, weil er im ‘Foundry“

seine Klamotten kaufte.




Chris Lowe im Hi-Fi-Laden




Chris und ich begannen zu derselben Zeit, in den ‘Camden Palace“ zu gehen. Zum ersten Mal in meinem Leben ging ich richtig häufig aus.

Ich saß meist oben mit an der Star-Bar, plauderte mit Leuten wie George Michael und sah den Menschen auf der Tanzfläche zu. Es gab einmal

einen sehr denkwürdigen Abend. Für ‘Smash Hits“ musste ich die neue Single von Culture Club rezensieren und habe sie total runtergeputzt.

An dem Abend, als die Zeitschrift erschien, ging ich in den Camden Palace – und da standen alle Mitglieder von Culture Club vor mir.

Boy George war wie eine Furie. Er wollte mich aus dem Club zerren. Er wurde fast handgreiflich. Bis heute hat er mir nicht verziehen,

dass ich ihn vor genau 20 Jahren einmal verrissen habe!



Bei ‘Smash Hits“ habe ich 1985 aufgehört. Chris und ich hatten einen Plattenvertrag bei der Parlophone unterzeichnet und hatten im

selben Jahr mit ‘West End Girls“ einen Nummer Eins Hit. Wir gingen nicht mehr so oft aus, aber trotzdem bekamen wir natürlich die

nächste kulturelle Welle sehr gut mit. 1988, als die Parties in Fabriketagen auf einmal sehr populär wurden. ‘The Wag“, war ein Club,

ein äußerst heterosexueller Club in Soho, in den wir häufig gegangen sind. Man spielte amerikanische Dance-Musik, die nach dem Aufbruch

von House für eine kurze Zeit sehr populär in London war. Es war nicht mehr so glamourös, aber jeder war dort. George Michael tanzte

mit seiner Freundin Pats, während Boy George hinter unserem Rücken lästerte.



Der letzte Club, in dem man sich noch richtig zurecht machte, war das ‘Kinky Gerlinky“in den späten Achtzigern. Hier traf man eine

Mischung aus New-Romantics und Drag Queens. Unser Video für ‘Was It Worth It?“ spiegelt diesen Club haargenau wider. Aber 1992 war

alles vorbei. Das war der Zeitpunkt, als Glamour in London starb. Eine Szene, die von House-Music und Ecstasy geprägt war, dominierte

danach das Clubleben – und tut es bis heute.



An London schätzte und schätze ich das Gefühl, dass man in die nächtliche Stadt fliehen kann. Unser Hit ‘West End Girls“ handelt

explizit davon. Als ich das Lied schrieb, hatte ich im Hinterkopf, wie wir uns in Tottenham für die Clubs zurecht machten, die

Plateau-Schuhe anzogen, den Bus zur U-Bahn-Station und von dort die Victoria Line zum Oxford Circus nahmen. Ich höre immer noch

das Klappern unserer Schuhe, wenn wir die Treppe zur U-Bahn hinunterliefen. Es war aufregend, weil wir vom Grau des Alltags in den

Glamour der Nacht flüchteten. Ich war davon fasziniert, dass nachts alles anders ist. Die Stadt nimmt ein anderes Aussehen an, man

nimmt andere Aspekte wahr. London wandelt sich mit zunehmender Dunkelheit in eine Art Las Vegas. Sogar wenn es regnet, sieht alles

fantastisch aus, weil das Leuchtreklamenlicht auf dem nassen Bürgersteig reflektiert wird. Die Stadt hat dann eine entrückte Qualität.

Menschen verhalten sich anders. Sie betrinken sich, nehmen Drogen, haben Sex.




Wie in Barcelona




London hat in den letzten Jahrzehnten eine unglaubliche Wandlung durchgemacht. Es ist viel europäischer geworden. Vor 30 Jahren war

es unmöglich, draußen in einem Café zu sitzen und einen Capuccino zu trinken. Das begann erst Mitte der Achtziger. Heute fühlt man

sich auf der Old Compton Street wie in Barcelona. Nicht zuletzt weil jeder, der hier arbeitet, mehr Spanisch als Englisch spricht.

Die Wirkung von Europa ist enorm. Menschen aus Italien, Spanien oder Deutschland zieht es hierher. Die am schnellsten wachsende

Gemeinschaft sind im Augenblick die Russen. Das greifen wir auch in unserer neuen Single ‘London“ auf. Wenn ich mir Essen nach Hause

bestelle, wird es immer von Russen geliefert. Außerdem kommt eine große Anzahl von Schwulen, die das Leben hier unkomplizierter finden

als irgendwoanders in Europa.



Leider ist in letzter Zeit auch die Celebrity Aristocracy in London wichtiger geworden. Stars haben im Augenblick zu viel Macht. Der

Rummel um sie erstickt alles. Als ich kürzlich die Eröffnung der Versace-Retrospektive im Victoria & Albert Museum besuchte, lief die

Veranstaltung darauf hinaus, dass wir warten mussten, bis Donatella und Madonna eintrafen! Es kam einem so vor, als würden gleich die

Queen Mother und Princess Margret eintrudeln. Das sind Gelegenheiten, die schick sein sollten, aber in Wahrheit unglaublich vulgär sind.



Eine andere Sache, die in London immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist Kunst. Seit Damien Hirst und Tate Modern beginnt man, eine Meinung

über moderne Kunst zu äußern. Das wirkt in London nach. In der Atmosphäre der Stadt, aber besonders in der Architektur. Wir haben so

viele Baustellen, dass der Verkehr tagsüber lahm gelegt ist. Wir leben in einer pulsierenden Zeit, einem ‘Age of Construction“. Tate

Modern, Millennium Bridge, das neue Rathaus – um nur die prominentesten Beispiele zu nennen.



Mir gefällt es, dass man mit moderner Architektur versucht, die Stadt zu revitalisieren – aber es gibt noch viele andere Sachen, die

dringend verbessert werden müssen. Der öffentliche Nahverkehr zum Beispiel ist eine Katastrophe. Als ich 1972 herzog, war er großartig.

Heute fahre ich nicht mehr U-Bahn, weil ich Angst habe, dass sie auseinander bricht. Ich rufe mir entweder ein Taxi oder gehe zu Fuß.

Allerdings sind die Taxis so teuer und der Verkehr so lästig geworden, dass ich meist lieber laufe. Wenigstens weiß ich dann, wie

lange es dauert. Ich brauche eine Stunde, um von meinem Haus in Chelsea zu Chris’ Apartment auf der anderen Seite der Stadt nach

Clerkenwell zu gehen. Zwischen Chris und mir gibt es so etwas wie eine unsichtbare Linie. Während er oft im East End ausgeht, bin ich

doch sehr der West End Boy geblieben. Ich mag Chelsea. Die Gegend ist Gott sei Dank nicht mehr so super-trendy wie früher. Oft sitze

ich im Garten hinter meinem Haus und entspanne mich.



Mein Lieblingsplatz in London ist nicht weit weg: in Westminster. Man kann einen hübschen Spaziergang unternehmen, um sich Westminster

Abbey von der Rückseite zu nähern. Wenn man vom Smith Square losgeht, wo alle politischen Parteien ihre Hauptquartiere haben, geht man

die Lord North S reet hinunter und biegt links ab. Dort geht man in einen alten Schulhof hinein und fühlt sich plötzlich wie in Cambridge

oder Oxford. Der Hof ist wunderschön, an der Seite gibt es einen Kreuzgang und in der Mitte einen Brunnen. Etwas abseits liegt ein

kleiner Park, der College Garden. Bis vor drei Wochen kannte ich ihn überhaupt nicht, jetzt ist er so etwas wie mein geheimer Garten

geworden. Hier fühlt man sich noch wie im mittelalterlichen London, wie in der City of Westminster.

Taken from: Berliner Tagesspiegel
Interviewer: Ulf Lippitz