Wenn nicht ihr, wer dann?

»Lass uns doch mal wieder eine Platte für alle machen«, müssen sie sich gedacht haben: Nachdem Chris Lowe und Neil Tennant zuletzt Eisensteins Revolutionsmontage »Panzerkreuzer Potemkin« vertonten und sich auf ihrem letzten Album »Fundamental« apokalyptisch gaben, kombinieren sie auf »Yes«, ihrem zehnten Album, opulenten Eurodance mit vollendetem Songwriting. Ein klassisches Pet-Shop-Boys-Werk also, wo Pop noch nach Versuchung klingt.




Pop, was ist das noch mal genau? In Deutschland herrscht traditionell Verwirrung, wenn es um diese Frage aller Fragen geht. Grob verallgemeinert könnte man sagen: Es gibt zwei Popbegriffe. Der eine begreift Pop als ein Zeichensystem, das über die Jahrzehnte gewachsen ist und alle möglichen Formen, Genres und Äußerungsformen ausgebildet hat. Vertreter dieser Vorstellung von Pop können meist besser erklären als verkaufen. Jene, die besser verkaufen können als erklären, stehen für den anderen Popbegriff: Pop ist das, was in den Charts ist. Letztere sind ins Hintertreffen geraten, seit die Plattenverkäufe zurückgehen. Erstere fühlen sich aber auch schon ganz komisch. Es gibt Klärungsbedarf. Die Organisatoren der großen Konferenz »Dancing with Myself«, die im Januar in den Berliner Theatern Hebbel am Ufer stattfand, beschrieben die Situation in ihrem Programmheft so: »Auf der einen Seite des Spektrums gibt es die Billigware, die sich nach wie vor über Verkäufe finanzieren lässt und ihre Vollendung im Klingelton findet. Auf der anderen floriert ein musikalischer Highend-Bereich für einen Rezipientenkreis mit hohem Bildungsgrad und entsprechender Finanzkraft, der zunehmend an die pekuniären und kulturellen Ökonomien in Theater und Bildender Kunst angeschlossen ist. Was einst dazwischen lag, ist das universale Versprechen der Popmusik.«




Man könnte auch sagen: Was dazwischen liegt, ist das Gesamtwerk der Pet Shop Boys – was den Vorteil hat, dass man zugleich die Vergangenheitsform loswird. Denn Neil Tennant und Chris Lowe haben ein neues Album mit dem großartig Pet-Shop-Boys-mäßigen Titel »Yes« gemacht. Es ist das zehnte vollgültige Pet-Shop-Boys-Album, wenn man die vier »Disco«-Alben nicht mitzählt, auf denen sie ihre Remixe gesammelt haben, und dann gibt es ja noch ihr Musical »Closer to Heaven«, ihre »Panzerkreuzer Potemkin«-Vertonung und einige andere Arbeiten. Aber vielleicht sollte man auf Begriffe wie ›Werk‹ und ›Arbeiten‹ auch ganz verzichten, weil man sich so schon mit der Wortwahl fast automatisch auf die eine Seite schlägt – dabei waren die Pet Shop Boys doch schon immer beides: Kunst und Kirmes. Und: »Yes« ist das Popalbum der Pet Shop Boys.




Klar, jedes Album der Pet Shop Boys ist ein Popalbum. Von ihren ersten Platten an waren sie immer alles: Künstler und Populisten, Pop-Emphatiker wie -Intellektuelle. Aber die nuller Jahre sahen sie auf ihren Alben zunächst eher politisch und introvertiert (»Release«, 2002) und dann dunkel (»Fundamental«, 2006). Jetzt zieht es sie wieder auf die ganz große Bühne – ähnlich wie sie auf das introvertierte »Behaviour« (1990) Anfang der Neunziger die große Spitzhut-Computerdisco von »Very« (1993) folgen ließen. Dafür haben sie sich an Brian Higgins gewandt, den Kopf des Produzententeams Xenomania, das etwa hinter Girls Aloud steckt, einer in England ultra-erfolgreichen britischen Girl Group (für alle, die sie nicht kennen: Girls Aloud verhalten sich zu London ungefähr so wie die Pussycat Dolls zu Los Angeles). »Yes« heißt die Platte, und sie klingt, als hätten Neil Tennant und Chris Lowe sich hingesetzt und gesagt: »Lass uns doch noch einmal eine Platte für alle machen.«




Grundbestandteile: Eurodance und ziemlich vollendetes Songwriting, das klassische Pet-Shop-Boys-Programm also, ergänzt durch den Input von Leuten, die im Laufe der Jahre dazugekommen sind, wie Johnny Marr, der des öfteren Gitarre spielt – und einige klangliche Avancen an den zeitgenössischen britischen Popsound. Und all das in seiner Uptempo-Variante. Selbst wenn es nicht schnell ist, hören sich fast alle Songs so an. Und zusammengehalten wird all das von drei Dingen: von der tiefen Liebe zur Melodie, von Neil Tennants Gabe, mit wenigen Strichen äußerst komplexe Gefühlsbilder skizzieren zu können, und von seiner Stimme, die eigenartigerweise so gar nicht zu altern scheint.




Natürlich gibt es Klopfer wie »Love etc.« als erste Single und Shuffle-Electro-Eintrittskarte in »Yes«, und mit »All Over the World« reichen sie gleich noch so einen Hit hinterher. Aber es gibt eben auch ein Stück wie »Vulnerable«, einen Song über Vertrauen und die Angst, es zu schenken und dann zu verlieren. Oder »Pandemonium«, einen Song über Kate Moss, die über ihre Affäre mit Pete Doherty nachdenkt, der noch härter drauf ist als sie selbst. Oder: »The Way It Used to Be«, ein kleines Meisterwerk, das die überraschende Begegnung mit ei nem Menschen nachzeichnet, den man einst liebte und dann aus den Augen verlor.




»Beautiful People«, der Song, in dem Tennant und Lowe den Neo-Sixties-Sound, der von Adele bis Tom Jones gerade einige Leute in die Charts gespült hat, in die Klangbibliothek der Pet Shop Boys aufnehmen, funktioniert nicht so richtig. Streicher, Bläser, Opulenz – die ganze Orchesterwundertüte funktioniert prächtig, Zitat des Großpops der Sechziger wie seines Revivals. Würde nur die hinter dem Song stehende Fantasie ein wenig mehr einleuchten. »I wanna live like beautiful people / Give like beautiful people / With my beautiful people around«, singt Tennant da – eine Sehnsucht, die ihm aber nicht wirklich steht. Seufz’ nicht rum, mach’ doch, denkt man sich. Wenn nicht du, wer dann? Man ist bereit, den Pet Shop Boys einiges an süssem Restunglück zu glauben, aber nicht diese Behauptung.




Es gibt diesen bescheuerten Satz, den so gut wie jeder Kritiker schon einmal in eine Besprechung geschrieben hat, wenn ihm gar nichts mehr einfiel, besonders in Kritiken zu Platten der Pet Shop Boys hat sie bis heute Konjunktur: Diese Platte rettet die Popmusik. Und es ist immer Quatsch. Auch in diesem Fall. »Yes« rettet nichts und niemanden. Es ist eine bezaubernde Platte von Tennant/Lowe, dem neben Lennon/McCartney, Marx/Engels, Deleuze/Guattari und Ernie/Bert bedeutendsten Pop-Duo der vergangenen zweihundert Jahre. Wenn es eine Geschichte jenseits seiner Songs erzählt, dann höchstens die von zwei Künstlern, die das Glück hatten, ihre ersten Schritte in einer Zeit zu machen, als Pop, der aus London kam, noch ganz automatisch die Möglichkeit bekam, seine nationalen Grenzen zu überschreiten. Als letzte kulturelle Schwundstufe alter imperialer Herrlichkeit vielleicht. Oder als schlichte Funktion der ökonomischen Macht der britischen Popindustrie.




Diese Zeiten sind in einem ganz umfassenden Sinne vorbei. Aber Neil Tennant und Chris Lowe gelingt es immer noch, in ihrem Sinne Musik zu machen, sie wieder und wieder zu aktualisieren. Ob es noch einmal in den Charts funktionieren wird? Gut möglich, dass »All Over the World« noch einmal ganz nach oben in die Top Ten klettert – Geklatsche, Gestampfe und dazu die Zeilen »This is a song about boys and girls / You hear it playing all over the world«: Wer könnte der Versuchung widerstehen, diese Behauptung Wirklichkeit werden zu lassen? Es könnte funktionieren. Man braucht mittlerweile ja nur noch eine überschaubare Gruppe entschlossener Fans, um in den höheren Chartsregionen etwas auszurichten. Glück und Elend für Neil Tennant und Chris Lowe.

Taken from: S P E X
Interviewer: Tobias Rapp