Vom Leben und Pinkeln in London






Großbritannien. Das ist der Ort an dem Pop-Musik meistens einen schrillen Beigeschmack hat und an dem – geschätzt –

jede zweite musikalische Erfolgsstory ihren Anlauf nahm. London, das ist die Heimat der Pet Shop Boys, von wo aus

sie seit den Achtzigern Hits wie „Go West“ auf die Welt losgelassen haben und vor kurzem auch ihr neues Album

„Fundamental“. London ist auch der Ort, wo wir Neil Tennant und Chris Lowe am runden Interview-Tisch getroffen

haben. Und London ist auch der Ort an dem die beiden Pet Shop Boys nicht mehr öffentlich pinkeln dürfen…



Ein Hotel in der Innenstadt, achter Stock, Penthouse ganz oben. Zehn Journalisten treten ehrfürchtig ins Innere

des Riesen-Appartements. „Have a seat, take some water“, lautet die Einladung von Neil Tennant. 40 Minuten Zeit

mit freundlichen Menschen, fürchten braucht sich also keiner.



Die neue Single „I’m with stupid“, das erzählen sie gleich am Anfang, könnte ein normales Liebeslied sein; Betonung

auf könnte. Inspiriert hat das Pop-Duo aber die „Beziehung“ zwischen Tony Blair und George Bush. Durch die Blume

erklären sie seine Aussage so: Der eine stellt sich dumm, obwohl er g’scheit ist. Der andere tut g’scheit, obwohl

er eh schon wissen…



„Fundamental“ ist Pop mit wirklichen Inhalten. „Mit diesem Album wollten wir die momentane Atmosphäre, dieses

Angstklima, das überall zu sein scheint, musikalisch einfangen“, erklärt Neil Tennant, die markante Stimme der

Pet Shop Boys. Ein Weltklima der Angst, Überwachungskameras speziell in London wohin das Auge blickt, ein auf der

Insel medial gepushtes Aufheben um die Vogelgrippe und Regierungen, die diese (geschürten) Ängste ausnützen, um

sich als Sicherheitsmänner zu etablieren.



Neil Tennant gelangt während seiner latent zynischen Tirade zwangsläufig zum Begriff Privatsphäre. „Ja, wir haben

das Recht, hin und wieder etwas falsch zu machen“, bekräftigt er eine Frage. Chris Lowe, der „Musiker“ unter den

Pet Shop Boys, erweitert Neils Statement: „Und im Besonderen, seit man in ganz London die öffentlichen Klos

zugesperrt hat und es keinen Ort mehr gibt, wo du unterwegs pinkeln kannst!“ Der halbe Tisch kann sich vor Lachen

kaum noch halten.



Die zwei schrillsten Figuren der britischen Popwelt könnten sich stundenlang über schräge Themen auslassen: „Wann

haben die Leute aufgehört zu pinkeln? London war einst voll öffentlicher Toiletten, was tun die Menschen jetzt?

Gehen die alle zu MacDonalds?“



Auch in „Fundamental“ steckt so mancher Song mit ungewöhnlichem Inhalt. Abseits politik-kritischer Aussagen – und

das, obwohl sie laut Eigendefinition „keine politische Band“ sind – nehmen die Pet Shop Boys auch die (britischen)

Medien aufs Korn. In „Sodom and Gomorra Show“ stellen sie Talkshows und ihre Gäste an den Pranger. Nur soviel:

Eine Karlich würden die Briten zum Frühstücksfernsehen verspeisen…



Mit einem weiteren Highlight des Albums, dem Song „Casanova in Hell“, hat Neil Tennant – obwohl (oder gerade weil?)

bekennend schwul, songschreiberisch mit einem feineren Gespür für Mann-Frau-Beziehungskisten ausgestattet, als so

mancher Hetero – eine kleine Phantasie vertont: „Ich hab mich von ein paar Büchern über Casanova inspirieren lassen

und mir vorgestellt, dass er mittlerweile ganz schön alt sein muss. Ihr wisst schon, nicht mehr so der ausdauernde

Lover…“ Er fasst den Song zusammen: „Es war sehr witzig über Erektionsstörungen zu singen!“



Mit „Fundamental“ kehren die Pet Shop Boys zu ihren musikalischen Wurzeln zurück. Einfache Disco-Songs,

massentauglich, aber mit Inhalten, die man vielleicht eher einem Bob-Dylan-Song zuschreiben würde. Wenn man die

beiden trifft und sie erzählen hört, fällt der Unterkiefer zwangsläufig der Schwerkraft zum Opfer – wenn er nicht

vor lauter Lachen immer wieder nach oben klappen müsste…



Auf CD klingt das Ganze dann aber doch irgendwie… banal. Man muss sich den Ernst der Sache eben irgendwie

„dazudenken“. Andererseits sagt Chris Lowe: „Bringt uns öffentliche Klos zurück – das ist die Kernaussage unseres

Albums!“



Wie politisch sind die Pet Shop Boys?


Neil Tennant: Ähem… Ich denke nicht, dass die Pet Shop Boys eine politische Band wie… (zu Chris Lowe) Wer ist eine

politische Band? (zu uns) Ähem… wie Chumbawamba! (lacht)



Was ist mit eurer Single „I’m with stupid“, die sich ja um Bush und Blair dreht?


Neil Tennant: Aber was wäre, wenn du nicht wüsstest, dass es da um George Bush und Tony Blair geht? Würde es einen

Unterschied beim Zuhören machen? Es könnte sich ja um eine ganz normale Beziehung drehen, eine Beziehung zwischen

zwei Menschen.



Also ist es nicht politisch, aber die Geschichte kommt aus der Politik. Der Song spricht davon, dass sich dumm

zu stellen eine Form von Cleverness sein kann. Und ebenso kann der vorauseilende Ruf vom schlauen Kerlchen ein

Weg sein, die eigene Dummheit zu verschleiern.



Chris Lowe: Und ich glaube, beides ist war!


Neil Tennant: Ich glaube nicht, dass irgendein Song auf unserem neuen Album politisch ist, so wie Chumbawamba

halt… (lacht) Mit diesem Album wollten wir die momentane Atmosphäre, dieses Angstklima, das überall zu sein

scheint, musikalisch einfangen.


Wir wollten auch aufzeigen, wie es von den Medien benutzt wird, um Zeitungen zu verkaufen. Seht euch mal an, wie

viele Dinge momentan skandalisiert werden! Die Sache mit der Vogelgrippe zum Beispiel; keiner traut sich

aufzustehen und sagen: „Hey, ich glaub das alles nicht! Das kann ja gar nicht wahr sein!“


Es war dasselbe mit dem „Millennium Bug“ (Anmk.: der von vielen gefürchtete Computer-Crash zum Jahreswechsel 1999)

als alle Computer auf der Welt… (zu Lowe) Was hätten die Dinger eigentlich tun sollen? (Lowe runzelt die Stirn…)

Egal, ihr wisst ja was ich meine. Die Leute haben damals angefangen sich mit Lebensmittel einzudecken, weil sie

befürchteten, der weltweite Stillstand würde eintreten!


Mit „Fundamental“ wollten wir ein paar Schnappschüsse von dieser Zeit machen. Beim Song „Luna Park“ haben wir uns

zum Beispiel von diesem Film von Michael Moore inspirieren lassen, von „Bowling for Columbine“. Was er da in der

ersten Szene zeigt, das ist verdammt gut. Wie er beschreibt, dass es quer durch America nur um eines geht, ANGST!

Ihr wisst schon, das mit den Killerbienen in Florida…


Und es stimmt ja auch. Solche Dinge machen die Nachrichten einfach interessanter, nicht wahr? Und unsere

Regierungen schnappen diese ganzen Bedrohungen auf und ergreifen gleich ein paar Maßnahmen, mit denen wir uns dann

ein klein bisschen weniger bedroht fühlen! Wusstet ihr, dass Großbritannien das Land mit den meisten

Überwachungskameras ist? Auf eurem Weg hierher seid ihr dutzende Male gefilmt worden!


Ein Song auf unserem Album besagt: „Wenn du nichts falsch gemacht hast, musst du dich vor nichts fürchten.“ So

lautet zumindest die Logik. Und es ist ja auch wahr, aber haben wir uns nicht trotzdem ein bisschen Privatsphäre

verdient?



Das Recht, hin und wieder etwas falsch zu machen?


Neil Tennant: Ja, ich denke, wir haben das Recht, hin und wieder etwas falsch zu machen!


Chris Lowe: Und im Besonderen, seit man in ganz London die öffentlichen Klos zugesperrt hat und es keinen Ort mehr

gibt, wo du unterwegs pinkeln kannst! (Alle lachen)


Neil Tennant: (stimmt ein) Ja, verdammt! Wann haben die Leute aufgehört zu pinkeln? London war einst voll

öffentlicher Toiletten, was tun die Menschen jetzt? Gehen die alle zu MacDonalds? Ich weiß es nicht. Erst vor

ein paar Tagen war ich in den Straßen unterwegs und ich dachte: „Oh, jetzt müsste ich mal pinkeln!“ Aber ich

wusste nicht, wohin ich gehen soll!



Vielleicht in ein Pub gehen?


Neil Tennant: Dachte ich auch, aber es war schon nach elf. Was hätte ich also tun sollen? Mich von der Polizei

für Erregung öffentlichen Ärgernisses einsperren lassen? (lacht)


Chris Lowe: (prustet vor Lachen) Bringt uns öffentliche Klos zurück – das ist die Kernaussage unseres Albums!



Okay, sprechen wir darüber, wie ihr an Musik herangeht…


Chris Lowe: Mit diesem Album sind wir auf jeden Fall zu unseren Wurzeln zurückgekehrt, was im Grund mehr

Synthie-Sachen bedeutet. Das Album zu machen, war ziemlich aufregend, auch weil wir mit Trevor Horn einen spitze

Producer an Bord hatten…



Die Pet Shop Boys haben einen ziemlich eigenen Klang, warum einen Produzenten engagieren?


Chris Lowe: Mit eine Producer kommst du einfach weiter! Trevor Horn hat nicht viel verändert, aber er hat aus

einigen Songs ihr ganzes Potenzial herausgeholt.


Neil Tennant: Er hat das ganz gut bei „I’m with stupid“ gemacht. Das Demo hat sich schon ziemlich nach einer

fertigen Sache angehört, als wir es ihm gegeben haben, wurde es aber noch einmal besser! Er arbeitet mit minimalen,

fast schon psychologischen Änderungen.



War es für euch notwendig, in die Achtziger zurückzublicken, um den richtigen Sound zu finden?


Neil Tennant: Mmh… die Pet Shop Boys haben immer eine gute Baseline, nette Streicher-Sounds und meine Stimme. Das

sind die Pet Shop Boys. Klar, das Singen könnte ein anderer als ich übernehmen, allerdings muss ich zugeben, dass

das vielleicht doch ein paar Unterschiede machen würde… aber ich denke DAS ist das klangliche Fundament der Pet

Shop Boys.


Aber wir engagierten Trevor Horn nicht um eine Achtziger-Retro-Platte zu machen (Anmk.: er hat mit ihnen zuletzt

in den frühen 80ies gearbeitet). Aber wir dachten, um ein paar epische Songs zu machen, könnten wir diesmal

vielleicht etwas Hilfe gebrauchen.


Aber es gab nicht nur Trevor Horn. Es gab auch Rock-Einflüsse. Auf Tour hatten wir zwei Gitarristen dabei und

entdecken dabei die Bereicherung, die Gitarren für unsere Musik darstellen. Harte Powerchords zusammen mit

Dancemusic, das hat was!



Ihr habt vorhin gesagt, das Album sei eine Art Dokumentation des momentanen Weltklimas. Gilt das auch für den

Song „Casanova in Hell“?



Neil Tennant: (lacht) Naja. Den Song haben wir bereits 2003 geschrieben. Ich hab mich von ein paar Büchern über

Casanova inspirieren lassen und mir vorgestellt, dass er mittlerweile ganz schön alt sein muss. Ihr wisst schon,

nicht mehr so der ausdauernde Lover… und das ist eigentlich die Geschichte von dem Song.


Ich las auch ein Buch von Arthur Schnitzler, wo zwei Männer versuchen, dieselbe Frau zu verführen. Ich glaube mich

zu erinnern, dass der Jüngere gewinnt. Jedenfalls hat mich das auf den Plan mit „Casanova in Hell“ gebracht, auch

weil wir ja immer Einflüsse von außerhalb in unserer Musik haben. Es war sehr witzig über Erektionsstörungen zu

singen! (Heiteres Gelächter…)


Yeah! Denkt doch mal an diese ganzen Sex-and-Drugs-and-Rock’n-Roll-Songs! Da geht’s nie um erektile Dysfunktion!

Das ist eigentlich bemerkenswert…



Wie glücklich seid ihr mit dem Album?


Neil Tennant: Naja, es wäre jetzt ein bisschen frech zu sagen, dass wir nicht glücklich sind. Wenn wir nicht

wirklich damit fertig wären, würden wir auch noch im Studio sein und nicht hier. Über was wir aber wirklich froh

sind, ist, dass dieses Album Reaktionen gebracht hat. Als wir unsere letzte Platte „Release“ gemacht haben,

sagten die meisten Leute so Sachen wie „Mmh… schöne Gitarren… schönes Album…“.


„Fundamental“ ist ein größeres Album, also wurden die Dinge anders aufgenommen und das ist gut so. Ich denke auch,

dass mehr kommerzielle Popmusik auf dem Album ist. Beim letzten Mal war das nicht so. Diesmal hatten wir ein

kleines Manifest, es sollte nur aktuelle Popmusic darauf zu finden sein.


Wir haben uns wirklich daran gehalten. Ich glaube, wir waren einfach besessen von der Idee, endlich wieder banale

Dinge zu schrieben, wie „Minimal“ oder auch „I’m with stupid“. Diese Dinge sind aber recht schwierig zu komponieren,

weil du verdammt viel Inspiration brauchst!



Ihr habt in London ein Westend-Musical mit dem Titel „Closer to heaven“ gemacht, das sehr erfolgreich war.

Wird’s ein zweites Mal geben?



Neil Tennant:< b> Ja, wir würden schon ein zweites Musical machen. Für mich ist es allerdings so, dass mittlerweile

ohnehin schon jeder eines hat. Beim Musical musst du auch in ganz anderen Kategorien denken…



Was habt ihr denn daraus gelernt?


Neil Tennant: Zwei essentielle Dinge. Erstens: Du musst für alle klarstellen, worum’s eigentlich geht. Und

zweitens: Das Marketing ist verdammt wichtig! Wenn du durch London spazierst, siehst du überall Poster von

„Mamma Mia“, „Billy Elliott“ und, und, und; du musst das machen und zwar nur aus einem einzigen Grund: Es muss

immer laufen! Du musst dauernd erfolgreich sein, um überhaupt Erfolg zu haben.


In der Popmusic müssen wir uns über so etwas keine Gedanken machen. Das Musical ist da ein bisschen naiver. Die

müssen das ganze Marketing machen, damit überhaupt jemand weiß, dass es läuft, das ist schon verdammt

anstrengend!



Ihr geht neuerdings auf neue Technologien zu und habt ein Video herausgebracht, das es nur als Handy-Download

im Internet gibt…



Neil Tennant: Schön, dass du das erwähnst. Und es ist auch schön, dass unser Manager so verrückt nach diesen Dingen

ist. (lacht) Ich finde nämlich, dass es ziemlich verrückt ist, sich ein Video auf seinem Telefon anzusehen! Auf

einem Bildschirm der (Neil zeigt ungefähr zwei Zentimeter mit den Fingern) in etwa so klein ist!


Ich denke, dass Handys Spielzeuge sind, mit denen du dir die Zeit beim Warten auf den Bus oder auf die U-Bahn

vertreibst. Das wirklich Interessante daran ist aber, dass Leute an alle möglichen Wege denken, aus ihrem Handy

mehr zu machen als es in Wahrheit ist. Verrückt!



Geht ihr eigentlich noch in Clubs?


Neil Tennant: (äfft es lachend nach) Noch? Du meinst „in unserem Alter“? Klar, gehen wir in Clubs, ab und zu am

Wochenende…



Ihr macht das jetzt schon seit Jahren, wie schafft ihr zwei es, Freunde zu bleiben?


Neil Tennant: Ich denke, wenn du als Band zu zweit bist, ist es immer etwas anders. Wir sind gute Freunde, wir

haben auch einen ähnlichen Freundeskreis und was wir machen, das ist einfach Fun pur. Es ist recht unterhaltsam

(lacht). Wenn wir zusammen ein Album machen, dann fühlt es sich auch nicht wie Arbeit an. Wenn du am Morgen vor

einem Studiotag aufstehst und diesen Enthusiasmus fühlst, das lässt dich und auch eine Freundschaft frisch

bleiben!

Taken from: Krone.at
Interviewer: Christoph Andert