Süße Streicher, böse Texte

Das neue Pet-Shop-Boys-Album:


Hinter jedem Refrain lauert eine Bedrohung.




Popstars, die in der ‘Ära Bush’ und nach 9/11 plötzlich ihre politische Seite entdecken und gegen Irakkrieg und

Imperialismus ansingen: Das kennt man inzwischen.




Bestes Album seit Jahren




Auf ihrem neuen Album zeigen sich jetzt auch die Pet Shop Boys von ihrer politischen Seite. Doch von prätentiösen

Moralpredigten ist auf ‘Fundamental’ keine Spur. In Großbritannien wurde das Album großteils euphorisch aufgenommen

und als bestes Werk des Duos seit Jahren gewertet.


Die aktuelle Single ‘I’m With Stupid’, ein ‘Beziehungssong’ über Tony Blairs Verhältnis zu George Bush, gibt die

Richtung vor: Neil Tennant und Chris Lowe, inzwischen beide um die 50, verpacken ihre Politkommentare in

bombastische Discotracks voller Ironie.




‘Atmosphäre der Angst’




‘Psychological’ ist ein doppelbödiger Einstieg ins Album: ein simpler, unspektakulärer Elektropop-Song eigentlich.

Tennant singt über Angst und Horror.


Doch hinter den Beats tun sich dissonante Synthesizer-Flächen auf und schaffen tatsächlich jene bedrohliche

Grundstimmung, die Lowe und Tennant wünschten: Man habe die ‘Atmosphäre der Angst’ thematisieren wollen, die seit

9/11 die USA und Europa bestimmt, erklärte das Duo in Interviews.




Trevor Horn als Produzent




Es ist nur passend, dass sich Texter Tennant und Komponist Lowe die zwölf Songs vom cleveren Plastikpop-Macher

Trevor Horn produzieren ließen.


Seit den 70ern gilt Horn als Enfant terrible unter den Hitparadenproduzenten: Erst brachte er die Prog-Rock-Band

Yes auf Kuschelrock-Kurs; dann erfand er die skandalträchtigen Hitparadenstürmer Frankie Goes To Hollywood; und

zuletzt machte er das pseudo-lesbische russische Mädchenduo t.A.T.u. zu Stars.


Wenn im Intro zum zweiten Song, ‘The Sodom And Gomorrah Show’, ein Sprecher exklamiert: ‘Sonne, Sex, Sünde!

Göttliches Eingreifen, Tod und Zerstörung! Ladies und Gentlemen, willkommen bei der Sodom-und-Gomorrah-Show!’,

dann ist das Trevor Horn in Reinkultur.




Vom Kalten Krieg bis 9/11




Nicht nur an dieser Stelle erinnert ‘Fundamental’ an das Frankie-Goes-To-Hollywood-Album ‘Welcome To The

Pleasuredome’. Damals, mitten im Kalten Krieg, bettete Horn die Songs in Soundcollagen aus Mündungsfeuer,

Katastrophendurchsagen und Sirenen ein, bot all den orchestralen Pomp auf, den die damalige Studiotechnik hergab,

und brach die bedrückende Atmosphäre nuklearer Bedrohung mit zuckersüßem Discopop.


‘Fundamental’ funktioniert ebenfalls nach diesem Prinzip – nur unter dem Gesichtspunkt von 9/11.




Nicht kopflastig




Das bedeutet aber nicht, dass ‘Fundamental’ kopflastig und unkonsumierbar geworden wäre – ganz im Gegenteil.


Die Pet Shop Boys verkauften schließlich in ihrer Karriere 20 Millionen Alben. Da verliert man die Ansprüche

seiner Kundschaft nicht so schnell aus den Augen, setzt lieber eine süße Streichermelodie zu viel als zu wenig

und würzt seine Texte mit viel Ironie, auch wenn es um eine noch so ernste Botschaft geht.




Casanovas Rache




Besonders gut gelungen ist all das in ‘Casanova in Hell’, einem Popsong, der gleichzeitig eine

literaturwissenschaftliche Abhandlung ist – und das ganz ohne prätentiös zu wirken.


Tennant singt davon, wie Casanova, alternder Schwerenöter, in Anwesenheit einer jungen Schönheit plötzlich zur

Lachnummer wird – ‘Casanova in der Hölle’ eben. Doch später nimmt er Rache und erzählt seine Geschichte. ‘Casanova

hat das letzte Wort’, heißt es: ‘In der Geschichte lebt seine Erektion weiter.’




Vor 25 Jahren gegründet




Die Pet Shop Boys knüpfen aber auch an ihre eigene Bandgeschichte an. 25 Jahre ist es her, dass sich das Duo

kennen lernte. Lowe studierte damals Architektur.


Tennant arbeitete als Redakteur bei ‘Smash Hits’, einem kürzlich eingestellten Teenie-Heft, das mit

flapsig-zynischer Schreibe Pop in allen Facetten zelebrierte, mit ‘Bravo’-hafter Biederkeit so gut wie gar nichts

zu tun hatte und in den 80ern als Kaderschmiede für einflussreiche Musikjournalisten fungierte.




Soundtrack der 80er




Mit diesem Hintergrund schufen sie den Soundtrack zur Thatcher-Ära: kommerziellen, glitzernden Charts-Pop mit

doppeltem Boden, etwa bei ‘Opportunities (Let’s Make Lots Of Money)’.


Damals hätte ‘I’m With Stupid’ genauso funktioniert, meinte Tennant jüngst in einem Interview, mit Thatcher an

der Stelle Blairs und Ronald Reagan statt Bush.




Die Kameras sind überall




Musikalisch noch einmal die 80er Jahre aufleben lassen: Auf ‘Fundamental’ wird dieser Poptrend der letzten Jahre,

aus dem eigentlich schon die Luft draußen ist, noch einmal interessant umgesetzt.


Im Thatcherismus, rund ums Orwell-Jahr 1984, malten britische Künstler den Teufel des ‘Großen Bruders’ an die

Wand; was damals Dystopie war, ist heute – zumal in London, der Überwachungskamera-Hauptstadt Europas – durchaus

Realität, deutet ‘Fundamental’ an.




‘Big Brother’ singt




In ‘Integral’, dem letzten Song des Albums, besingt Tennant diese Situation aus der Big-Brother-Persepktive.


Um ein herbeigeredetes Wir-Gefühl geht es da, ‘erschaffen alleine, um dich zu schützen’: ‘Wenn du nichts falsch

gemacht hast, hast du nichts zu befürchten. Wenn du etwas versteckst, hast du hier nichts zu suchen’, heißt es

im Refrain, und: ‘Wir sind beunruhigt. Du bist eine Bedrohung. Du bist kein integraler Bestandteil des Projekts.’

Taken from: ORF.at
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