Sollte Pop nicht wieder wichtiger werden?

Als Musik noch ein echtes Politikum war: Die Pet Shop Boys Neil Tennant und Chris Lowe sprechen über ihr neues Album, Ökonomie als Religion und ihre geheime russische Seele.




Das Shoreditch House ist ein Privatclub im gentrifizierten Londoner Osten. Auf dem Dach, am Schwimmbecken, sitzen Neil Tennant und Chris Lowe, die Pet Shop Boys, und trinken Tee. Das erfolgreichste Popduo der Welt veröffentlicht sein zwölftes Album. Es heißt, wie es klingt: ‘Electric’. Von der Dachterrasse aus sieht man die Stadt verfallen und sich neu erfinden und die Occupy-Graffiti an den Wänden.


Die Welt: Vor zehn Monaten erschien ‘Elysium’, jetzt ist schon die nächste Platte fertig. Ist Zeit heute teurer als früher?


Neil Tennant: Wir hatten jede Menge hübscher Aufnahmen übrig. ‘Electric’ ist die andere Seite von ‘Elysium’. Ein Tanzalbum, produziert von Stuart Price.


Die Welt: Stuart Price wurde berühmt, als er Madonna und Kylie Minogue wieder zur Discomusik bekehrt hat. Ist Disco eigentlich noch politisch?


Chris Lowe: Was ist Disco überhaupt noch? Jedenfalls kein Politikum. Disco war an der Schnittstelle zwischen den Schwulen- und Bürgerrechtsbewegungen entstanden. Was sollte Disco heute noch sozial verändern wollen? Selbst die intelligenteste Tanzmusik ist völlig unpolitisch. Geschlechter spielen keine Rolle mehr. Man liegt am Pool herum, und die Musik muss dazu passen.


Tennant: Ich habe allerdings den Eindruck, dass gerade in Berlin versucht wird, die Gedanken an Gesellschaft und Geschlechter wieder aufzufrischen. An Orten wie dem ‘Berghain’.


Lowe: Da scheint es wieder um Freiheit, Toleranz und Respekt zu gehen. Vielleicht ist es einfach nur retro, vielleicht aber auch mehr. Ich weiß es nicht.


Die Welt: Wer soll es sonst wissen, wenn nicht Sie? Sie machen Tanzmusik mit Botschaften wie ‘Love Is A Bourgeois Construct’.


Tennant: Das ist ein Zitat aus dem Roman ‘Nice Work’ von David Lodge aus den späten Achtzigern. Wurde viel und gern gelesen damals. Es geht um die Liebe zwischen einer feministischen Linguistin und einem Großindustriellen. Sie erklärt ihm, Liebe sei eine Erfindung der Literatur des 19. Jahrhunderts. Unser Lied handelt von einem Typen, der verlassen worden ist. Er nimmt Abschied vom bürgerlichen Leben. Das tröstet ihn.


Die Welt: Er nimmt sich sogar wieder die Schriften von Karl Marx aus seiner Studienzeit vor.


Tennant: 1972 ging ich von Newcastle nach London zum Studium. Gleich am ersten Tag gab es ein Sit-in für gerechte Wahlen in Rhodesien. Es dauerte zwei Wochen, und ich dachte, das geht jetzt immer so weiter an der Uni. Die Leute saßen herum und redeten. Ich mochte das.


Die Welt: Waren Sie ein Hippie?


Tennant: Ich war ein normaler Student mit langem Haar. So bin ich sozialisiert worden.


Lowe: Die Studenten sahen sogar noch so aus, als ich fünf Jahre später an die Uni kam. Schlimm.


Tennant: Ich ließ mir allerdings schon 1973 die Haare scheren.


Lowe: Wurdest du damals schon kahl?


Tennant: Unsinn. Ich wollte nur nicht mehr aussehen wie ein Intellektueller. Ich wollte Studenten erschrecken.


Die Welt: Haben Sie Marx gelesen?


Tennant: Natürlich. Seine neun Thesen zu Feuerbach.


Die Welt: Es waren elf.


Tennant: Sehen Sie: Wahrscheinlich habe ich nur neun gelesen. An das ‘Kommunistische Manifest’ erinnere ich mich noch gut. Sollte jeder gelesen haben. Aber hat je einer das ‘Kapital’ von Anfang bis Ende durchgearbeitet? Wäre die Welt dann heute eine bessere? Ich würde gern sagen, dass Marx recht hatte. Zuletzt habe ich im ‘New Yorker’ gelesen, dass er richtig lag. Da kenne ich mich aber auch zu wenig aus in der Ökonomie. Ich halte Ökonomie für Religion. Man muss an sie glauben – was mir nicht mehr gelingt, seit die Briten in den Achtzigern an den Thatcherismus geglaubt hatten. Und heute soll das Volk daran glauben, sich nicht bescheiden zu müssen, damit das System nicht zusammenbricht.


Die Welt: Wie war das für Sie, als Margaret Thatcher starb?


Tennant: Sie haben unsere alten Songs im Fernsehen gespielt, bei den BBC News. ‘Let’s Make Lots Of Money’ lief rauf und runter. Da waren wir mächtig stolz. Offenbar hatten wie die Hymne einer Ära geschrieben. Margaret Thatchers Tod war auch ein willkommener Anlass für uns Briten, die letzten dreißig Jahre zu überdenken.


Die Welt: Vor neun Jahren haben Sie auf dem Londoner Trafalgar Square den Stummfilm ‘Panzerkreuzer Potemkin’ neu vertont. Was sollten die Briten daraus lernen?


Tennant: Das lief im Auftrag des Institute For Contemporary Arts und war selbstverständlich politisch. Der Trafalgar Square ist das Forum Londons. Alle Manifestationen haben dort stattgefunden. Vom 19. Jahrhundert bis heute, gegen Steuern und Kriege. Unsere Filmmusik sollte den Idealismus feiern, den ewigen Freiheitstraum der Menschheit.


Die Welt: Heute singen Sie über die Banker und ihre Boni. Kehren die revolutionären Fieberschübe zurück?


Lowe: Ich gebe zu bedenken: Gewöhnliche Revolutionen haben so ihre Haken und Hindernisse.


Tennant: Und sie ziehen sich hin. Wenn man sich so umhört, hält das Volk den Finanzmarkt, auf dem unsere Wirtschaft basiert, für das Grundübel unserer Zeit. Banker bekommen Boni dafür, die Welt schlechter zu machen. Ich bin überrascht, dass die Banken von Gewalt bisher weitgehend verschont geblieben sind. Die Banker selbst sind wohl am meisten überrascht, dass sie sich ihre Boni weiterhin ungestört einverleiben können. Warum werden Banken nicht gestürmt? Die Geschäftskultur ist seit den frühen Neunzigern, seit dem Verschwinden der sozialistischen Welt, so weit verkommen, dass eine Revolution nicht schlecht wäre. Die CEO-Kultur ist der Absolutismus von heute. Nehmen wir die BBC: In den Neunzigern wurde John Birt Generaldirektor der BBC. Er war aber nicht angestellt. Seine Firma hatte einen Beratervertrag mit dem öffentlichen Rundfunk. Er schrieb Steuern ab und spekulierte mit Aktien. Später beriet er Tony Blair. Seine Moral war sein Marktwert. In Russland übernahmen die Oligarchen die Macht, und seither wollen alle Reichen so reich sein wie Oligarchen.


Die Welt: Sollte Pop wieder politischer werden?


Tennant: Sollte Pop nicht überhaupt wieder wichtiger werden? Was ist denn die Aufgabe der Popmusik? Sie sollte die Haltung der Menschen prägen, ihre soziale Attitüde. Als Forum, um politische Themen zu diskutieren, ist sie denkbar ungeeignet. Kochen ist ja auch nicht per se politisch, indirekt natürlich schon. Nennen Sie mir nur einen politischen Song, der das bewirkt hat, was er bewirken wollte!


Die Welt: ‘Free Nelson Mandela’ von Jerry Dammers und den Specials.


Tennant: Okay. Das ist die Ausnahme von der Regel. Plötzlich war Nelson Mandela weltberühmt, und kurz danach war er frei.


Die Welt: Sie spielen ‘The Last To Die’ von Bruce Springsteen, einen heroischen Protestsong.


Tennant: Mit Springsteens Heroismus kann ich nichts anfangen. Wir mochten einfach die Gitarrenlinien. Der Text ist auch großartig, er handelt vom Irakkrieg. Aber das merkt keiner mehr vor lauter Pathos. Das war schon Springsteens Problem bei ‘Born In The USA’. Es hat eine bombastische Stimmung erzeugt, mehr nicht. Es war nicht so gemeint, aber es klang so. Niemanden interessiert, was ein Künstler eigentlich sagen will. Mich auch nicht.


Die Welt: Sind die Pet Shop Boys für die Briten, was Bruce Springsteen für die Amerikaner ist?


Tennant: Haha! Unsere politische Haltung ist, wenn überhaupt, nur in gesungenem Understatement zu haben. Hinterher ist man ja immer schlauer. Man kann heute auch behaupten, ‘Go West’ habe den Kommunismus auf dem Gewissen. Es war der richtige Titel zur richtigen Zeit. Das war ja immer schon das Großartige an Popsongs: Nachträglich stellt sich häufig ein Sinn ein.


Die Welt: Einer Ihrer eigenen neuen Songs heißt ‘Bolshy’. Ist das eine Ode an den Bolschewismus?


Tennant: Zunächst einmal ist ‘Bolshy’ ein sehr fröhlicher und unbeschwerter Song. Im Englischen steht bolshy nicht nur für bolschewistisch. Um 1977 herum galten die Punks als bolshy. Es bedeutet so viel wie rotzig und rebellisch. Johnny Rotten war bolshy. Aber ich gebe zu: Wir mögen russische Wörter sehr.


Die Welt: Sie scheinen geradezu besessen zu sein von der russischen Kultur. Sie haben Lieder über russische Migranten geschrieben, und 2005 beim Live-8-Festival haben Sie ‘Go West’ in Moskau gesungen.


Tennant: Schon als Kind war ich gefesselt von Geschichten über die russische Revolution. Ich mag russische Musik, den Klang der Sprache. Wir waren zum ersten Mal 1997 da, wir haben Freunde in St. Petersburg. Bei einem Wohltätigkeitsball von Elton John sprach uns die Organisatorin von Live 8 an und erklärte uns, Wladimir Putin hätte uns gern auf dem Roten Platz dabei. Wir fanden das naheliegend. Chris war ganz aufgeregt.


Lowe: Ich war von den Socken.


Tennant: Die meisten russischen Bands hatten gar keine Lust beim Live 8 zu spielen, weil sie kein Geld dafür bekamen. Also bestiegen wir kurzerhand unseren Privatjet und landeten auf dem Roten Platz.


Lowe: Das war jetzt ein Witz.


Tennant: Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass ‘Go West’ erstaunliche Ähnlichkeiten zur russischen Nationalhymne aufweist?


Die Welt: In einem neuen Song verwenden Sie ein Zitat des romantischen Dichters William Blake, ‘The Land Of Dreams’. War Blake Sozialist?


Tennant: Darüber haben wir gar nicht nachgedacht. Wir saßen im Studio an unserem Song, und uns fehlte noch ein schöner Vers für ‘Inside A Dream’. Ich habe gegoogelt. William Blakes Gedicht tauchte ganz oben auf, natürlich kannten wir es. Ich habe ‘Land Of Dreams’ schon immer gern gesungen, zu ausgedachten Melodien. Außerdem ist das Urheberrecht erloschen. Und man denkt sofort an ‘Perchance To Dream’ aus Shakespeares ‘Hamlet’.


Die Welt: Im letzten Lied des Albums verkünden Sie: ‘I like the people.’ Sie sind immer noch ein Linker.


Tennant: Ursprünglich lautete die Zeile: ‘I like the DJ’. Bin ich dann auch ein Linker? Mein Bruder ist Manager, und gemessen an seiner Weltanschauung, bin ich wohl ein Linker. Er lässt in China produzieren. Weil ich die Jobs gern wieder heimholen würde, beschimpft mich mein Bruder allerdings als Rechten. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich fühle mich zu alt, um noch an links und rechts zu glauben. Ich glaube an die alten britischen Werte von Fairness und Toleranz. Ich könnte ein junger Demonstrant da unten auf den Straßen sein und genauso gut ein Landadeliger in Tweed. Ich finde die Vergötterung des Geldes vulgär. Aber zurück zum Song: Ich konnte das nicht singen mit dem DJ. Ich verabscheue den übertriebenen DJ-Kult heutzutage. ‘Inside A Dream’ ist ein nostalgischer Song über eine Ära, die ich, im Gegensatz zu Chris, leider verpasst habe. Das Zeitalter des Rave, zwischen 1989 und 1991. Die totale Demokratie. Wahrscheinlich hatte ich mich damals zu viel mit der Weltpolitik befasst.

Taken from: Welt am Sonntag
Interviewer: Michael Pilz