Pet Shop Men






Am liebsten wäre Neil Tennant um die Alster gejoggt. Stattdessen sitzt er mit uns im Hamburger ‘Hotel Atlantic’ auf dem Sofa

und lässt sich die Nase pudern. Der 47-jährige Sänger der Pet Shop Boys hat heftigen Heuschnupfen und gibt trotzdem tapfer

Interviews zum neuen Album ‘Release’. Darauf klingt die Kultband ruhiger und ausgereifter denn je, genauso wie Neil Tennant

in unserem Gespräch über simple Songs, Subversion und schwule Künstler.



MAX Online: Die Pet Shop Boys sind keine Boys mehr, sondern reife Männer. Diesen Eindruck vermittelt zumindest Ihr neues Album.


Neil Tennant: (lacht) Jungs sind die Pet Shop Boys eigentlich nie gewesen.



Verglichen mit früheren Alben ist das neue deutlich melancholischer und zwar auf eine sehr erwachsene, intelligente Art.


Ich denke, wir haben schon einige sehr reife Alben gemacht, ‘Bilingual’ zum Beispiel und ‘Behavior’. Melancholie wirft

man uns seit ‘West End Girls’ vor. Mir gefallen die Begriffe ‘philosophisch’ oder ‘reflektiert’ besser. Mit ‘Release’

wollten wir einfach nur ein ‘schönes’ Album machen. Meine Stimme gibt allem eine Spur Melancholie, auch wenn das gar nicht

beabsichtigt ist. In manchen Songs liegt eine Traurigkeit, die über Melancholie hinausgeht.



Viele Texte drehen sich um Verluste. Sie scheinen diesen Teil des Lebens akzeptiert zu haben.


Das stimmt. Wenn man älter wird, lernt man, mit den Dingen umzugehen. Genau das ist eigentlich auch das Thema des ganzen Albums.

Am klarsten wird das in dem Song ‘You Choose’…



… eine Hymne an die Verantwortung für das eigene Handeln.


Klar, wir sind ja keine 17 mehr.



Über die Jahre scheinen die Pet Shop Boys nun auch die Schönheit des Einfachen entdeckt zu haben. Das reduzierte Album-Cover,

die lässigen Klamotten, die Gitarren-Arrangements auf ‘Release’ – all dies hat eine neue Qualität.



Minimalismus mochten wir schon immer. Klar, wir haben auch überzogene Produktionen gemacht, wie etwa mit ‘Go West’. Dieses Album

klingt viel einfacher und organischer, auch wenn es das gar nicht unbedingt ist. Es ist sicher sehr viel persönlicher als frühere

Alben.



Blicken Sie in dem Song ‘London’ auf Ihre eigene Jugend zurück?


Nein, inspiriert hat uns da ein Zeitungsausschnitt über zwei junge russische Emigranten, die nach London kommen, aus ihrer

Welt fliehen und dann ein vollkommen fremdes Leben kennen lernen. London ist im Moment voller Russen, es ist wirklich ein

interessantes Phänomen. Eigentlich ist der Song eine russische Version von ‘West End Girls’.



Gefällt Ihnen selbst auch die Idee, plötzlich in einem völlig neuen Umfeld zu leben?


Oh ja, absolut. Ich hätte große Lust, in Russland, New York oder in Berlin zu leben.



Sie haben als Autor einen sehr wütenden Artikel über die heutige Popmusik geschrieben.


In England ist Pop leider nicht mehr sehr kreativ. Malcolm McLaren sagte mal, in der Popmusik ginge es um ‘Sex, Stil und

Subversion’. Heute gibt es nicht mehr sehr viel Subversion. Leider. Pop muss ‘neu’ sein. Jetzt hört man nur noch eine

Cover-Version nach der anderen.



Dann ist Ihr neues, reduziertes Album auch eine direkte Reaktion auf das, was Sie am Pop vermissen?


Wir wollten vor allem kein Dance-Album machen. Dance-Songs sind wie Starbucks-Coffee-Shops – sie sind einfach überall

und total globalisiert.



Sind Sie sich Ihrer Fähigkeiten sehr sicher?


Wir müssen etwas können, sonst gäbe es uns gar nicht mehr. Aber es geht vor allem um Ideen, nicht so sehr um das Handwerk.

Unser Prinzip ist einfach: Wir verbinden das Alltägliche mit schönen Melodien, daraus entsteht dann etwas Neues.



Das klingt sehr überzeugt.


Keineswegs. Durch das ganze Album zieht sich das Thema ‘Unsicherheit’. Schon im ersten Song ‘Home and Dry’ geht es um die

Sorge, ob der Liebhaber jemals wieder heil von einer langen Reise zurück kommen wird. In dem Song ‘E-mail’ heißt es: ‘Ich

bin so unsicher. Schick mir eine E-Mail, in der du sagst, dass du mich liebst.’ Wenn man älter wird, kann man seine Unsicherheit

ausdrücken. Und man verändert sich leichter, weil man weiß, dass nichts bleibt, wie es ist, und es niemals absolute Sicherheit

geben kann.



Gibt es die Momente der Unsicherheit auch in Bezug auf Ihre Musik?


Wir lassen uns nicht von kommerziellen Ansprüchen verunsichern. Wir tun, was wir für richtig und neuartig halten. Mit dem neuen

Album zeigen wir uns erstmals als Musiker im klassischen Sinn und nicht als Konzeptkünstler. Hier steht nicht die visuelle

Performance im Vordergrund, sondern schlichtweg die Musik selbst.



Inspiration schöpfen Sie immer wieder aus der Zusammenarbeit mir anderen Künstlern.


Wir möchten vor allem Künstlern aus anderen Bereichen in die Popwelt ziehen. Die meisten finden das furchtbar aufregend.

Irgendwie hat jeder Lust, im Popgeschäft mitzumischen.



Gerade haben Sie mit dem deutschen Fotografen und Turner-Preisträger Wolfgang Tillmans das Video zu ‘Home and Dry’ gedreht.


Es war vollkommen seine Idee. Das Thema des Songs ist ‘Reisen ‘und die ‘Rückkehr nach Hause’. Tillmans fiel dieses Bild der

Mäuse im U-Bahnhof ein, denn dort sind ja die Tierchen zu Hause. Ich finde, das ist ein wundervolles Bild. Vielen kam das sehr

befremdlich vor. Jeder erwartet heute diese teuren Videos im Hollywood-Stil. Vor zwanzig Jahren hätte man so einen Clip leichter

akzeptiert.



Tillmans hat eine besondere Sensibilität für das Alltägliche.


Und das ist genau der Grund, weshalb wir ihn gewählt haben. Denn in unserer Musik interessiert uns genau dieses Alltägliche

im Leben der Menschen.



Mit Tillmans haben Sie für die Zusammenarbeit erneut einen Künstler gewählt, der schwul ist und das auch in seinem Werk

thematisiert. Spielte das eine Rolle für Ihre Wahl?



Ich habe weder Wolfgang noch einen der anderen Künstler als ‘schwulen Künstler’ gesehen. Er ist ein Künstler, der schwul

ist. ‘Schwule Kunst’ als solche gibt es meiner Ansicht nach nicht.



Mit wem würden Sie am liebsten einmal zusammenarbeiten?


Mit Pedro Almodóvar. Mit Baz Luhmann würde ich gern ein Musical filmen, das wäre toll. Er verbindet Pop und Film auf eine

wunderbare Weise.



Ihre erste Single-Auskopplung ist der Song ‘Home and Dry’. Ist Heimat oder Zuhause eher ein Gefühl als ein Ort für Sie?


‘Zuhause’ bedeutet für mich ‘Zuflucht’. Ein Ort, an dem ich Frieden spüre, allein sein kann. Mein Landhaus im Norden von

England ist so ein Platz für mich.



Das Album klingt, als hätte es auch ‘Home’ heißen können.


Das war sogar geplant. Aber wir fanden es etwas langweilig, das sagte Tillmans übrigens auch. Er schlug dann ‘Release’ als

Titel vor, was uns viel besser gefiel.

Taken from: MAX Online
Interviewer: Kai Kaufmann