Neue Töne für Panzerkreuzer Potemkin






Wenn zur Vorführung eines 80 Jahre alten Stummfilms ein paar Dutzend Zuschauer kommen, sind die Betreiber von Filmkunstkinos in der Regel schon glücklich

und zufrieden. Panzerkreuzer Potemkin, Sergej Eisensteins Klassiker über den Matrosenaufstand von 1905 in Odessa, mag ein stilbildendes Meisterwerk sein –

ein Publikumsmagnet ist er deshalb noch lange nicht. Der legendäre Kinderwagen, der mutterseelenallein und hochdramatisch die Hafentreppe hinunterrollt,

wurde von Brian de Palma, Woody Allen, George Lucas und anderen Regisseuren immer wie der aufs neue variiert, zitiert und ausgeschlachtet. Doch die 25.000

Menschen, die sich an einem kalten und regnerischen Septembersonntag am Londoner Trafalgar Square versammelt haben, sind nicht allein wegen der

expressionistischen Kraft der Bilder gekommen: Die Pet Shop Boys, eine der smartesten und erfolgreichsten Popbands der neunziger Jahre, haben für

Panzerkreuzer Potemkin einen neuen Soundtrack komponiert.



Als Panzerkreuzer Potemkin zum ersten Mal in Moskauer Kinos lief, im Dezember 1925, ertönte dazu die Musik eines wenig inspirierten Organisten. Erst auf

Betreiben des deutschen Verleihers schrieb Edmund Meisel einen orchestralen Score, es gibt auch spätere Filmfassungen mit der Musik von Schostakowitsch.



Die Idee zu der spektakulären, wenn auch veregneten Open-Air-Veranstaltung am Trafalgar Square hatte Philip Dodd, Direktor des Londoner Institut for

Contemporary Arts. In seinem Auftrag thematisierte und inszenierte Simon McBurney, passend zur Filmvorführung, die politische Geschichte eines ‘Protest-Platzes’,

wo einige der wichtigsten Demonstrationen Englands stattfanden.



Darin liegt auch der Unterschied zu anderen, weniger anspruchsvollen Neuvertonungen klassischer Stummfilme – die Rekontextualisierung eines Werks als didaktisch

unterhaltsamer Event. Giorgio Moroder übermalte 1984 Metropolis mit Disco-Leuchtfarben, und Underground Bands mieteten schon immer gerne mal ein Kino, um zu

alten Filmen zu jammen. Nur der Detroiter Techno-Musiker Jeff Mills geht einen Schritt weiter: Die vor kurzem erschienene DVD mit seinem Soundtrack zu Buster

Keatons Three Ages enthält einen Remix, sowohl vom Film, als auch der Musik. Doch das große Spektakel ist offenbar dem Pop vorbehalten. Jürgen Ziemer unterhielt

sich mit den Pet Shop Boys Neil Tennant und Chris Lowe über ihren Neuzugang zu dem Klassiker; es antwortete, wie meist, Tennant. Vorhang auf für die Pet Shop

Boys.




Das Interview




Sergej Eisenstein hat sich angeblich für Panzerkreuzer Potemkin jedes Jahrzehnt einen neuen Soundtrack gewünscht. Jahrzehntelang blieb dieser Wunsch

unerhört. Warum gibt es ausgerechnet jetzt eine Neuvertonung?



Die Idee, dem Film einen neuen Soundtrack zu geben, stammt von Philip Dodd. Weil ich zu den Förderern des ICA gehöre, lag es natürlich nahe, mich zu

fragen. Es war nicht das erste Mal, dass Dodd mich um ein Konzert der Pet Shop Boys bat, doch diesmal haben wir zugesagt.



Was genau hat Sie daran interessiert?


Das Neuland. Wir haben so etwas ja noch nie gemacht. Bloß mal einen Song für einen Film von Stephen Fry beigesteuert, der dann doch nicht verwendet wurde.

Panzerkreuzer Potemkin ist zudem ein erstaunlich frisch wirkender Film: Casting, Schnitt, der Stil der Schauspieler – nichts daran sieht aus wie die alten

Laurel & Hardy-Filme. Wir haben uns deshalb für einen sehr modern klingenden Soundtrack entschieden. Einen der Songs, ‘No Time For Tears’, möchte unsere

Plattenfirma gerne als Single veröffentlichen, aber wir wollen das nicht.



Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit den Dresdner Sinfonikern?


Wir wollten zwar einen frischen Sound – aber auch ein Streichorchester. Vor zwei Jahren, als wir mit dem Projekt anfingen, war ich gerade sehr begeistert

von ‘Mein Herz brennt’. Das ist eine avantgardistische Neuvertonung des Komponisten Torsten Rasch und der Dresdner Sinfoniker – von Liedern der

Heavy-Metal- Band Rammstein. In England wurde viel darüber geschrieben. Wir haben deshalb mit dem Produzenten und Gründer der Dresdner Sinfoniker, Sven

Helbig, Kontakt aufgenommen. Die Tiefe und Schönheit, die diese Zusammenarbeit in die Musik hineingebracht hat, ist wirklich unglaublich. Auch die

Verbindung von Elektronik mit einem klassischen Orchester war sehr spannend.



Panzerkreuzer Potemkin gilt als Propagandafilm. Teilen Sie diese Einschätzung?


Ich weiß nicht. Ich sehe das eher als einen idealistischen Film über Widerstand und Protest. Es geht um eine Meuterei, der ein Protest folgt, dem ein

Massaker folgt, dem eine Flucht folgt. Und am Ende weigert sich die russische Flotte, auf die eigenen Kameraden zu schießen – das ist der utopische

Aspekt.


Chris Lowe: Der Film war wohl ursprünglich als Propaganda gedacht, aber das heißt nicht, dass die Bedeutung heute noch die gleiche ist. Es ist auch ein

Film über Menschen, die sich zur Wehr setzen.


Neil Tennant: Es ist jedenfalls nicht Triumph des Willens oder Oktober, wo sie mehr vom Winterpalast zerstört haben als bei der eigentlichen Revolution.

Das ist ein Propagandafilm.



Dennoch gibt es in Panzerkreuzer Potemkin keinen einzelnen Helden, sondern im Mittelpunkt steht das revolutionäre Volk.


Ja, das hat uns auch gefallen. Genau dieser Aspekt dürfte jedem autoritären Regime Unbehagen bereiten. Es gibt eine wunderschöne Szene, in der man sieht,

wie die Menschen von allen Seiten herbeiströmen, über Straßen und Brücken, um gemeinsam zu handeln. Für manche Menschen hat das etwas Furchterregendes.



Wen meinen Sie damit?


Wir hätten diese Aufführung gerne auch im Iran gemacht, in Teheran. Doch man wollte das dort nicht. Vielleicht ist es das Testament des Films, dass er der

Regierung im Iran Furcht einflößt. Wenn es sich dabei tatsächlich um revolutionäre Propaganda handeln würde. Doch es geht um Wahrhaftigeres: Der Film

handelt von einem Ideal und nicht davon, wie alles hinterher enden wird.



Dass die Pet Shop Boys schwul sind, ist kein Geheimnis. Einige Filmwissenschaftler behaupten, auch Eisenstein sei homosexuell gewesen – wie sehen Sie das?


Ich glaube, einer der Gründe, warum Philip Dodd bei der Neuvertonung an die Pet Shop Boys dachte, ist genau diese Vermutung. Aber ich bin mir nicht so

sicher, ob Eisenstein selbst sich als gay beschrieben hätte. Ganz so einfach ist es meiner Meinung nach nicht. Als wir den Film zum ersten Mal sahen, ist

allerdings auch mir die Szene mit den Matrosen aufgefallen, die mit nacktem Oberkörper schlafend in ihren Hängematten schaukeln. Aber ich denke, das ist

die einzige homoerotische Szene des Films. Am Ende gibt es noch eine leidenschaftliche Umarmung, aber die ist wohl eher eine kameradschaftliche.



Revolutionäre Umarmung unter Genossen?


Ja, genau, sehr maskulin.



Gibt es einen besonderen Grund, dass Deutschland vor allen anderen Ländern in den Genuss der Film-Konzerte kommt?


Als wir in Berlin den Soundtrack aufgenommen haben, gaben wir einige TV-Interviews. Eins davon lief sogar in den ZDF-Nachrichten. Dieses Interesse hat uns

überrascht. Bei dem Konzert am Trafalgar Square waren ebenfalls zwei oder drei deutsche Nachrichtenteams anwesend – aber kein einziges britisches. Bei

Ihnen weiß man einen popkulturellen Event wie diesen offensichtlich eher zu schätzen. Andererseits haben wir mit Ausnahme einer zynischen Besprechung im

‘Guardian’ auch in den britischen Zeitungen fantastische Kritiken bekommen. Es ist eben schon außergewöhnlich, wenn sich 25.000 Menschen zusammen einen

Stummfilm anschauen.



Ohne die Pet Shop Boys wären es wohl deutlich weniger Zuschauer gewesen.


Sicher, ganz vorne standen schon einige Fans. Aber man konnte deutlich sehen, dass der Blick der Leute nach oben ging, auf die Leinwand. Uns und das

Orchester konnte man gar nicht richtig erkennen. Wir wollten den Fokus auf den Film richten.



Ob Ihre Fans in Deutschland das auch so cineastisch sehen?


Keine Ahnung, aber das Programm heißt definitiv nicht ‘The Pet Shop Boys’ Greatest Hits’. Unsere Auftritte werden exakt eine Stunde und 20 Minuten dauern.

Das ist perfekt, und ich denke, das wird ganz hervorragend funktionieren.

Taken from: Film – Das Kino Magazin
Interviewer: Jürgen Ziemer