Neil Tennant,
die eine Hälfte der Pet Shop Boys,
im SIEGESSÄULE-Interview
‘Normalerweise nehmen wir unsere Musik in London oder New York auf, und da bist du von einer bestimmten ‘Szene’ umgeben’, erklärt Neil Tennant, die eine Hälfte der Pet Shop Boys. ‘Im Studio machen gleichzeitig andere Leute ganz andere Aufnahmen, und da wirst du durch das Geschehen irgendwie beeinflusst.’ Deshalb haben die bekennend schwulen Popikonen Tennant und Chris Lowe für die Aufnahmen ihres neuen Albums ‘Release’ ihr ehemaliges Zuhause in Nordengland zum Studio umfunktioniert – und dieser Szenenwechsel brachte tatsächlich etwas anderes hervor.
‘Das war mein Hund” lacht er, ‘mein Hund war die meiste Zeit im Studio. Er ist recht gut erzogen, nur manchmal bellt er. Wenn ich Klavier spiele, sitzt er drunter und beginnt zu jaulen. Ob er es aus Vergnügen macht oder weil er es kaum aushält, konnten wir bisher nicht herausfinden, auf jeden Fall macht er eine Menge Lärm.’
‘Vielleicht ist es einfach nur die Stimmung” meint Tennant, der entspannt im Zimmer eines hippen Hotels in Manhattan sitzt. ”Release’ ist von einem anderen Musikstil geprägt als ‘Behaviour’. ‘Behaviour’ war noch von der Dancemusic beeinflusst. Dieses Album hingegen lebt irgendwie von Chris’ Versuch, eben keine Dancemusic machen zu wollen. Einfach Musik, die unsere Stärken als Songwriter hervorhebt. Wir haben zwanzig Songs geschrieben, natürlich auch einige Dancemusic-Songs – die haben wir nur nicht für das Album ausgewählt.’
Trotz eindringlicher und einfühlsamer Klänge ist ‘Release’ keine Scheibe à la Crosby, Stills and Nash: Gut strukturierter und eleganter elektronischer Sound ist immer noch die Basis. Und Homosexualität. Schließlich ist der meistdiskutierte Song von ‘Release’ ‘The Night I fell in Love’. Das überraschend süßliche, sogar naive, von Eminem inspirierte Stück erzählt von der zärtlichen Liebesnacht eines Teenagers mit einem heimlich schwulen Rapper. Im Text heißt es: ‘He said we could be secret lovers/ just him and me/ then he joked/ ‘Hey man’ your name isn’t Stan’ is it?’/ We should be together!/ When I asked/ why have I heard so much/ about him being judged/ with homophobia and stuff/ he just shrugged.’ Tennant sagt, er habe sich für den Teenager im Song Nathan aus der britischen Fernsehserie ‘Queer as Folk’ vorgestellt. Und Thema des Songs sei eher die umwerfende Romanze als die Verdammung der Homophoben. ‘Der Song ist sehr romantisch!’, schwärmt Tennant und grinst dabei. ‘Aus Hässlichkeit sollte etwas Schönes entstehen. Bei all der hässlichen Homophobie auf Rapscheiben und der ganzen Kontroverse um Eminem. Ich dachte, es wäre schön, etwas Nettes über diesen Jungen zu schreiben, der hinter die Bühne geht, und als der Rapstar auf ihn zukommt, kann er gar nicht glauben, dass er mit ihm in sein Hotelzimmer geht. Sie verbringen die Nacht zusammen, und er ist wirklich total nett – ganz im Gegensatz zu seinem öffentlichen Image. Die beiden frühstücken zusammen, und dann zieht der Junge los in die Schule! Es ist echt süß, und ich denke, am Ende sollte man ein gutes Gefühl bei dem Ganzen haben.’ Auch Eminem und seine Leute? ‘Ich denke, Eminem sollte das Ganze gelassen sehen. Nach all den Schwulen, die seine Geschichten gelassen genommen haben.’
Die anderen Stücke auf ‘Release’ wie beispielsweise die melancholische Ode ‘E-Mail’, der volle, groovy Song ‘The Samurai in Autumn’, das mit Vocoder eingespielte Stück ‘London’ und die klangvolle Du-fehlst-mir-Single ‘Home and Dry’, kombinieren fantasievolle Geschichten mit intimen persönlichen Erfahrungen. Darauf angesprochen, gibt Tennant – der derzeitige Single – zu, dass er beim Schreiben der Albumtexte gerade ganz schön Liebeskummer hatte. Insbesondere ‘Love is a Catastrophe’ spiegelt sein emotionales Desaster wider. ‘Letztes Jahr machte ich mit jemandem eine gefühlsmäßig ziemlich schwierige Zeit durch’, erläutert er. ‘Eine Art Nichtbeziehung. Man kann das in einigen Songs auf dem Album hören. Eigentlich ist das Songschreiben eine sehr gute Art damit [mit dem Liebeskummer, d. A.] klarzukommen. Das hilft wirklich. Unsere Managerin sagte zu mir: ‘Na Neil, das hätte zu keiner besseren Zeit passieren können, jetzt, wo du gerade Songs schreibst.’ – ‘Danke’ sehr einfühlsam von dir.’ Aber sie traf genau den Punkt mit dem, was sie sagte.’
Zurzeit sind die Pet Shop Boys auf Tour, um ‘Release’ zu promoten. ‘Unsere erste Tour wurde von Derek Jarman inszeniert, und es gab Filme und Kostüme. Jetzt ist es das erste Mal, dass wir uns irgendwie als Musiker präsentieren. Es gibt zwar immer noch jemanden, der die Gestaltung und Regie macht, damit das Ganze gut rüberkommt, aber es ist nur eine sehr grobe Ästhetik. Wir haben zwei Gitarristen, einen Schlagzeuger, einen Mann am Mischpult, Chris spielt Keyboards, und ich spiele Gitarre und singe. Die Songs sind sehr kraftvoll, und wir konzentrieren uns auf die Songs.’
Was die Zukunftspläne anbelangt, so wollen sich die ‘Boys’ eher ein weiteres Musical ausdenken als sich in ein neues Album stürzen. ‘Die Inspiration für unsere Arbeit kommt aus einer Art Entschlossenheit, etwas anderes zu machen als die meisten Leute’, meint Tennant und fügt hinzu, dass sie nicht vorhaben, einfach alte Pet-Shop-Boys-Hits à la ‘It’s a Sin’ aufzuwärmen. ‘Wie die Lemminge sind gerade alle dabei, eigene alte Songs in einem miesen Musical zu verarbeiten. Queen machen eins mit dem Titel ‘We will rock you’ und die Band Madness macht auch eins. Da sollten die Pet Shop Boys eigentlich eines mit dem Titel ‘West End Girls’ über die Jungs und Mädchen in West End machen. Wir hätten all unsere Songs und könnten richtig erfolgreich sein. Aber genau das werden wir nicht tun, denn zu einfach wollen wir es uns nicht machen.’
Taken from: Berliner Siegessäule
Interviewer: Lawrence Ferber