Ich war ein East End Boy

Er war 13 Jahre alt und lebte in Honeckers Land. Da hörte er Stimmen – und kaufte für Westgeld die Platte „Please“. Seitdem sind die „Pet Shop Boys“ für unseren Autor die beste Band der Welt. Die Geschichte einer großen Liebe.




Es muss im Februar 1987 gewesen sein. Ich erinnere mich an eine Tasse heißen Tees, an das diffuse Grau vor dem Fenster – und an dieses Geräusch, das wie ein Ping-Pong-Ball klang, der in einer Endlosschleife auf eine Tennisplatte trifft. Vor einer Stunde schien der Eintritt in eine neue Welt nah, nun schwand die Hoffnung: Es war, als hätte mir der Kalte Krieg meinen persönlichen Eisernen Vorhang gezeigt. Denn die Vinylscheibe aus dem Westen spielte immer wieder denselben Ton, sie sprang wie eine Ost-Platte! So wenig wie ich aus meinem Kaff in Mecklenburg herauskam, so wenig kam die Musik der Pet Shop Boys nun in meine Welt hinein. Es war grauenhaft!




Noch schlimmer war nur: Wie konnte ich das vor meiner Mutter vertuschen? Denn dem Kauf der Platte – „Please“, das erste Album der Band – waren zähe Verhandlungen mit meinen Eltern vorausgegangen.




Ein Telefonanschluss war damals genauso schwierig zu bekommen wie eine Schachtel mit Mohrenköpfen aus Grabow. Wir wohnten im Bezirk Neubrandenburg, DDR. Erich Honecker führte das Land – und für mich sah es so aus, als würde er ewig leben. Ich war 13 und kannte keinen anderen Staatschef, dafür aber den alltäglichen sozialistischen Mief. Im wahrsten Sinne des Wortes. Im Rahmen des Schulunterrichts musste ich einmal in der Woche Kuhställe ausmisten. Außerdem pflanzten wir Bäume entlang der Kornfelder und ernteten Rüben. Von Glamour und Stil wussten wir nichts. Ich selbst ahnte höchstens, dass es so etwas gibt – dank der Pet Shop Boys.




Aber um ihre Musik wieder und wieder hören zu können, um vom Westen zu naschen, brauchte ich: D-Mark. Zwar bekam ich von unseren Verwandten aus Bad Nauheim oder Gifhorn gelegentlich ein paar Scheine Westgeld zugesteckt, wenn sie auf der staubigen Dorfstraße in ihre Autos einstiegen und wieder Richtung Grenze verschwanden. Sobald sie außer Sicht waren, nahmen meine Eltern das Geld aber an sich, verwahrten es in einer Schatulle, die sie wiederum in einen Schrank einschlossen. Wenn ich mal groß sei, sagten sie, könne ich damit etwas Vernünftiges kaufen.




Mit 13 fühlte ich mich dann groß genug. Ich wollte keine Platten mehr von Rosalili oder Stern Meißen, die es in den normalen Läden gab. Ich wollte „Please“, weil ich das Album bei meinem letzten Besuch im Intershop gesehen hatte, weil mich die beiden Augenpaare auf dem Cover fixiert hatten, weil die gegelten Köpfe in den Bademänteln lässig aussahen, weil ich wenigstens zwei Lieder aus dem Radio kannte und richtig gut fand: „West End Girls“ und „Suburbia“.




Das erste Lied begann mit einem Trippeln über Kopfsteinpflaster, vermutlich ging eine Frau mit hochhackigen Schuhen über Londoner Asphalt, ganz sicher aber nicht mit Gummistiefeln über die Bordsteinplatten von Neubrandenburg. Dann folgte ein elektronisches Zischeln, und kurz darauf setzte ein Basslauf ein, bei dem mir noch heute Tränen in die Augen steigen.




Ich weiß nicht wieso, aber so klang für mich Glamour – kühle Synthie-Beats, leicht distanzierter Gesang. Die Stimme von Neil Tennant schraubte sich nie in solche furchtbaren Höhen wie die von a-ha-Sänger Morten Harket und Tennant brüllte auch nicht so aggressiv wie Depeche-Mode-Frontmann Dave Gahan – beide Bands gehörten damals zu den Favoriten an der Schule. Die Pet Shop Boys kannten zwar alle, aber niemand mochte sie besonders. Sie sahen nicht aus wie Posterjungs, sie tanzten nicht, selten verzogen sie den Mund zu einem Lächeln. Ich hatte ebenfalls nichts zu lachen an meiner Schule, vielleicht gefielen sie mir auch deshalb so gut.




Und dann gab es erst einmal Tränen – der Enttäuschung und des Zorns. Denn meine Eltern weigerten sich beharrlich, 20 D-Mark aus der Schatulle herauszurücken. Ich erinnere mich, ich saß auf dem braunen Sessel, meine Eltern hörten mir gegenüber auf der Couch zu, im Hintergrund dudelte wahrscheinlich SFB2 oder der Rias – und meine Eltern sagten nur: Bald wirst du eine andere Band gut finden und die Platte gar nicht mehr hören! Ich konnte sie nicht überzeugen, dass „West End Girls“ auf eine großartige Karriere hindeutete, dass das alles erst der Anfang war. Jahre später traf ich Neil Tennant zu einem Interview, da erzählte er mir, dass er sich damals nie hätte träumen lassen, mehr als eine Platte zu veröffentlichen. Zum Glück war meinen Eltern diese Information unbekannt. Sonst hätte ich es wohl nie geschafft sie umzustimmen – mit bockiger Miene, Nahrungsverweigerung und einem dramatischen Rückzug ins Kinderzimmer.




Stunden später, es war wohl gegen neun Uhr abends, lag ich auf dem Bett, das mein Vater aus Kiefernholz selbst gezimmert hatte, hörte Popmusik mit meinem tragbaren Kassettenabspielgerät, machte das Licht aus und träumte, als mich meine Eltern ins Schlafzimmer riefen. Sie lagen im Bett, eine der zwei Nachttischlampen leuchtete und meine Mutter fragte eindringlich: Willst du die Platte wirklich haben? Ich zögerte keinen Moment mit meinem Ja.




Widerwillig rückten meine Eltern am nächsten Tag die kostbaren D-MarkScheine heraus – in der Überzeugung, die größte Dummheit ihres Sohnes zu unterstützen. Als wir vom Intershop nach Hause fuhren, in einem Trabant Kombi, der offiziell die Farbe champagnerbeige hatte, tatsächlich aber in einem verdünnten Hellbraun über die F96 knatterte, hielt ich die Platte in einer weißen Plastiktüte auf dem Schoß. Ich wagte nicht, sie auszupacken, wollte den Augenblick, in dem ich das erste Mal das schwarze Vinyl in Händen halten würde, so lange wie möglich hinausschieben.




Für mich war die Platte ein Schatz, für meine Eltern ein Opfer. Deshalb sollte meine Mutter später nicht merken, dass die Platte sprang, dass der Kauf womöglich ein Fehlkauf war. Meine Eltern durften dieses eine Mal nicht gewinnen. Auf gar keinen Fall!




Ich saß also mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer, das Album der Pet Shop Boys lief auf dem Plattenspieler, holperte endlos wie ein Jeep auf der Buckelpiste – und dabei sollte das erste Stück „Two Divided by Zero“ doch nur 3:35 Minuten dauern. Dann kam meine Mutter aus der Küche ins Wohnzimmer, hielt ein Tablett mit Kuchenstücken in der Hand, hörte kurz der Musik zu, setzte sich, hörte wieder der Musik zu – und stutzte. Ich spürte, was sie mich fragen wollte, genauso wie ich den Angstschweiß auf meinem Rücken spürte. Ich war nun vor allem damit beschäftigt, unsichtbar zu werden, jedenfalls so lange wie das Ping-Pong-Geräusch anhielt. Meine Mutter sagte dann doch etwas, und zwar: Muss das so sein? Worauf ich nur „Bestimmt …“ murmeln konnte und einen Schluck Tee nahm, um bloß nicht sprechen zu müssen.




Erst als mein großer, in Sachen Popmusik sehr versierter Bruder hereinkam, änderte sich das Kräfteverhältnis. West-Pop gegen Ost-Skepsis 2:1. Er schaute kurz auf die Platte und fragte mich: Willst du nicht erst mal den Staub abwischen, bevor du sie spielst? Auf die Idee war ich nicht gekommen. Eine West-Platte hatte keinen Staub zu haben, sie war das heilige Produkt einer perfekten Glitzer-Welt!




Mein Bruder staubte sie dann also ab, für einen Moment schmolz die Aura der Pet Shop Boys enorm – aber nur bis das Ping-Pong-Klappern tatsächlich in eine Melodie überging und Neil Tennant zu singen begann. Ich weiß noch, dass das Lied von einer Flucht nach New York handelte, mit dem Flugzeug – und dass ich plötzlich ganz nah dabei war, obwohl ich höchstens mit dem Zug nach Neustrelitz fahren konnte. Mit einem Mal saß ich im Zentrum der Welt. Es fühlte sich gut an. Sehr, sehr gut.




Meine Entscheidung für die Pet Shop Boys stellte sich spätestens im Sommer 1987 als richtig heraus. Denn da läutete die Band ihre sogenannte imperiale Phase ein. In den kommenden Wochen und Monaten landeten die Pet Shop Boys einen Hit nach dem anderen: „It’s A Sin“, „What Have I Done To Deserve This“, „Always On My Mind“ und so weiter. Ich hielt aber auch noch zu ihnen, als der Erfolg um 1990 herum nachließ. Bestärkt in meiner Treue wurde ich dadurch, dass ich später einen meiner besten Freunde über die Leidenschaft für die PSB kennenlernte. Stolz war ich natürlich auch, als in diesem Frühjahr das mittlerweile zehnte Album „Yes“ von allen Kritikern einhellig gelobt wurde.




Damals, 1987, am Bettrand meiner Eltern, hatte ich mich also für den richtigen Weg entschieden. Übrigens erinnern sich weder mein Vater noch meine Mutter an die Episode. Aber sie schätzen mein Durchhaltevermögen. Wenn ich heute mit meinem Vater im Auto sitze, wir NDR2 hören und ein Lied der Pet Shop Boys erklingt, dreht er immer die Lautstärke hoch. „Hör mal“, sagt er dann und sieht mich an, „die Pet Shop Boys“.

Taken from: Der Tagesspiegel
Interviewer: Ulf Lippitz