Graue Mäuse im Herbst






Alles begann damit, dass sich die Pet Shop Boys Anfang des Jahres auf eine Konzerttour durch Englands Universitäten

begaben; ihr achtes Album ‘Release’ hatten sie fertig gestellt, die neuen Songs wollten sie noch vor der Veröffentlichung

präsentieren.



Dem Publikum zeigte sich das Duo Neil Tennant und Chris Lowe dabei ungewohnt schmucklos: ohne Hüte, Make-up und Perücken,

ohne die Verstärkung durch Tänzer, Videoprojektionen und Chor. Stattdessen sah man sie in Begleitung einer vierköpfigen

Band, deren Musiker zuvor für The Who, Spiritualized und Darkstar gespielt hatten. Der einzige Showeffekt war die Gitarre

um Neil Tennants Hals – für die Pet Shop Boys, die einmal einen Song namens ‘How I Learned To Hate Rock And Roll’ eingespielt

hatten, ein kühner Schritt. Von dem kommenden Album hieß es, dass es ein Gitarrenalbum werden würde.



Zwar sollte die erste Auskopplung ‘Home And Dry’ diese Vermutung zunächst nicht bestätigen, doch zumindest das dazugehörige

Video von Fotograf Wolfgang Tilmans sorgte für Irritation. In verwackelten, grünstichigen DV-Bildern zeigt es ein Mäusepaar,

das zwischen den Gleisen einer Londoner U-Bahn an etwas knabbert, was möglicherweise ein Keks ist. Die Pet Shop Boys zeigt

es hingegen nur kurz, weshalb die zuständige Plattenfirma nicht grundlos an der Werbewirksamkeit des Videos zweifelte: Die

Sender MTV und Viva nahmen das Video nicht ins Programm, allein in der Nachtrotation von Viva Plus wird es gespielt. Da

‘Home And Dry’ aber mittlerweile auf Platz zwölf der deutschen Charts eingestiegen ist, könnte sich das noch ändern.



Aber was hatte das zu bedeuten? Sollten Mäuse, Gitarren und fehlende Perücken das Image der Pet Shop Boys neu ordnen?

Handelte es sich um einen Bruch mit der bandeigenen Tradition? Oder war es vielmehr eines jener strategischen Manöver

und überraschungsmomente, die sie sich schon Zeit ihrer nunmehr 20-jährigen Karriere leisten?



Auf ‘Release’ erinnert kaum etwas an vergangene Pet-Shop-Boys-Hits wie ‘Domino Dancing’, ‘Go West’ oder ‘New York City Boy’.

Die insgesamt zehn Songs ziehen bei mittlerer Geschwindigkeit vorüber, nur einmal schiebt sich nach halber Spielzeit mit

‘The Samurai In Autumn’ ein Dance-Stück dazwischen. Neben Keyboard, Piano und programmierten Rock-Rhythmen bestimmt vor

allem das Gitarrenspiel von Neil Tennant und Johnny Marr (Ex-The Smiths) den Klang. Nach der abstrakten Phase ihres

‘Nightlife’-Albums zeigen die Pet Shop Boys sich auf ‘Release’ von ihrer eher bodenständigen Seite.



Dazu soll der Umstand beigetragen haben, dass ‘Release’ auf Tennants Landsitz entstanden ist, und man zwischendurch mit

den Hunden spielen konnte. Dazu könnte aber auch beigetragen haben, dass die Pet Shop Boys nach diversen Maskeraden,

prächtigen Konzertreihen, die von Film- und Opernregisseuren wie Derek Jarman und David Alden choreografiert wurden,

einem En-Suite-Gastspiel im London Savoy Theatre und zuletzt dem bandeigenen Musical ‘Closer To Heaven’ alles abgehakt

hatten, was mit Stilisierung und Selbstinszenierung zu machen war. Doch was wie ein Rückschritt aussehen mag, eine

Kehrtwende zu den Wurzeln, kann nur ein Schritt nach vorn sein, weil es die entsprechenden Wurzeln bei den Pet Shop

Boys ja niemals gab.



Was bleibt, ist Neil Tennants Neigung, die ewigen Themen Liebe, Hoffnung, Schmerz und Politik in einer Weise zu vermengen,

wie man es von charttauglicher Musik nicht gewohnt ist. Gern erinnert man sich an den rätselhaften Verweis auf Lenins Zugreise

von ‘Lake Geneva to Finland Station’ aus ihrem ersten Hit ‘West End Girls’, legendär ist das Motto des Songs ‘Left To My

Own Devices’, wo sie Che Guevara und Debussy auf Disco-Basis vereinen wollen.



In ‘I Get Along’, einem anrührenden Song über das Ende einer Beziehung, heißt es nun: ‘I’ve been trying not to cry / when

I’m in the public eye / stuck here with the shame / I’m taking my share of the blame / while making solemn grounds / that

don’t include you’ – gemeint ist damit die Entlassung des Nordirland-Ministers und New Labour-Architekten Peter Mandelson,

gesungen ist es mit der Stimme Tony Blairs. In ‘The Night I Fell In Love’ erlebt ein junger Mann eine Liebesnacht mit dem

angeblich schwulenfeindlichen Rapper Eminem, in ‘London’ kommen zwei russische Deserteure zu Wort, die wissen, dass ihnen

keine andere Möglichkeit bleibt, als die Illegalität: ‘We’re in London! Let’s break the law!’.



Songs wie diese nennen die Pet Shop Boys die persönlichsten ihrer Karriere, was eine Menge heißen kann, denn besonders

persönlich waren sie eigentlich nie. Nach all den Jahren und mehr als 28 Millionen verkaufter Alben ist außer ein paar

ausgesucht abseitigen Informationen nur wenig über die Pet Shop Boys bekannt. Man weiß, dass sie schwul sind, dass sie

entgegen anders lautenden Gerüchten niemals ein Paar waren, und dass sie sich 1981 per Zufall in einem Fachgeschäft für

Elektrowaren begegneten. Man weiß, dass Neil Tennant (47) einen Abschluss in Geschichte hat, Redakteur bei Marvel Comics

war und später für das Musikmagazin Smash Hits arbeitete. In den frühen 70ern hatte er eine Folkrock-Band namens Dust,

heute sitzt er in dem Freundeskreis der Tate Gallery, der die Turner Prize-Gewinner bestimmt. Von Chris Lowe (42) weiß

man, dass er Architektur studiert hat und einmal eine Treppe erbaute, von der er heute meint, sie sei funktional. In

frühen Jahren spielte er die Posaune in der siebenköpfigen Jazzband, die sich originellerweise One Under The Eight nannte,

und vornehmlich Lieder wie ‘Hello Dolly’ oder ‘La Bamba’ nachspielte. Mehr weiß man über die Pet Shop Boys nicht, man

würde sie wahrscheinlich nicht einmal auf der Straße erkennen.



Dafür ist ihr Gesamtwerk geradezu vorbildlich dokumentiert. Erst im letzten Jahr sind ihre ersten sechs Alben digital

aufbereitet und neu veröffentlicht worden, jedes davon mit einer Bonus-CD mit raren und unveröffentlichten Stücken

versehen. In den aufwändigen Begleitheften kommentieren sie Song für Song, wobei auffällt, dass sie nicht nur die einzige

Band sind, die sich Titel erlaubt wie ‘You Only Tell Me That You Love Me When You’re Drunk’, ‘I Wouldn’t Normally Do This

Kind of Thing’ und ‘This Must Be the Place I’ve Waited Years to Leave’, sondern auch die einzige, die ihre Inspirationen

aus den entlegensten Winkeln von Literatur, Geschichte und bildender Kunst bezieht.



Doch nun, da sich die Pet Shop Boys befreit von allem Beiwerk zeigen, wird plötzlich noch etwas ganz Anderes deutlich:

Was sie in erster Linie ausmacht, sind nicht Klugheit, Inszenierung und Ironie, was sie vielmehr ausmacht, sind schlicht

und ergreifend ihre Songs. Es sind die Melodien und das Zusammenspiel von Chris Lowes satten Arrangements und Neil

Tennants relativ dünner Stimme. Das erklärt dann auch, warum das ‘Home And Dry’-Video trotz belanglos knabbernder Nager

und demonstrativer Abwesenheit der Künstler funktioniert; das erklärt darüber hinaus, warum ihre Alben seit dem Debüt

‘Please’ (1986) noch immer nicht veraltet klingen. Und insofern ist es eine doppelt gute Nachricht, dass der überschaubare

Einsatz von Gitarren dem neuen Album zwar eine andere Klangfarbe verpasst, dass er aber andererseits nicht am Gleichgewicht

von Gesang und Musik rüttelt.



Rückblickend auf ihre Karriere heißt es in ‘The Samurai In Autumn’ übersetzt: ‘Es ist nicht so einfach, wie es einmal war,

aber auch nicht so schwer, wie es sein könnte.’ Schwer ist es wirklich nicht, nur braucht ‘Release’ vielleicht etwas Zeit,

bevor es sich einem wirklich erschließt.

Taken from: Berliner Zeitung
Interviewer: Harald Peters