Engländer über der Stadt

Panzerkreuzer Plattenbau: Ausgerechnet die Pet Shop Boys zeigen, was in Dresden wirklich auf dem Spiel steht – die Ostmoderne




Und plötzlich, um gleich mal dieses Puschkin-Zitat zu zitieren, das am Anfang von Eisensteins Treppenszene steht: ‘und plötzlich’ waren wieder die Engländer über der Stadt. Sie waren wie lebensmüde Seiltänzer auf der Dachkante von diesem Wohnhochhaus entlangbalanciert, bis jedem ganz klar vor Augen stand, wie schön dieses Dach eigentlich aussieht und daß in dieser Stadt möglicherweise noch ein paar Dinge mehr auf der Kippe stehen als nur der Platz auf der Weltkulturerbeliste der Unesco. Plötzlich ging es in Dresden ausnahmsweise mal nicht nur um Elbbrücken und Barockansichten, plötzlich ging es ganz entschieden um Pop und Sechziger-Jahre-Architektur. In der flirrenden Hitze, die sich durch zuviel Sonne und zu viele Brückendebatten in der Stadt angestaut hatte, kam das einer Fata Morgana gleich; aber da waren wirklich zwei Engländer auf dem Dach, und bei diesen beiden Männern handelte es sich wirklich um Neil Tennant und Chris Lowe, welche gemeinsam die Popgruppe Pet Shop Boys betreiben und zusammen mit den Dresdner Sinfonikern vor zwei Jahren Eisensteins ‘Panzerkreuzer Potemkin’ neu vertont haben.




Eisenstein auf Stahlbeton




Und bei dem Haus handelte es sich um das längste Wohnhaus der DDR: 240 Meter lang, zwölf Geschosse hoch, errichtet in den Jahren 1965 bis 1967 von einem ‘Arch.-Kollekt. M. Arlt, K. Haller, K.-H. Schulze’, so spröde steht es jedenfalls im ‘Architekturführer für den Bezirk Dresden’ von 1978, außerdem: 612 Wohneinheiten, Ladenzeile, V-Stützen, Dachterrasse mit Pergola. In der DDR der späten Ulbricht-Jahre waren das immerhin schon mal 240 Meter Le-Corbusier-Frankreich und zwölf Stockwerke Oscar-Niemeyer-Brasilien, und an diesem Donnerstag war es der größte Bildschirm, auf dem ‘Panzerkreuzer Potemkin’ je präsentiert worden sein dürfte, und die größte Bühnenarchitektur, auf der die Pet Shop Boys jemals herumgeturnt sein werden. Am Ende war nicht mal mehr klar, wer da eigentlich wen proudly präsentiert und ästhetisch genutzt, gestützt und gesteigert hatte.




Den Organisatoren der Dresdner 800-Jahr-Feiern war es irgendwie gelungen, die inzwischen ziemlich betagten Bewohner des Apartmenthauses zum Mitmachen zu überreden. Und so kam es, daß auf jedem Balkon ein Musiker stand, während Eisensteins Matrosen noch einmal ihren achtzig Jahre alten Kampf kämpften. Das, was sich da an diesem Donnerstag abend auf der Prager Straße in Dresden abspielte, war praktisch das, was die Sowjets mit Tatlins nie gebautem Turm immer gewollt und die Italiener mit Terragnis Casa del Fascio in Como immerhin schon mal versucht hatten: die Symbiose aus moderner Architektur, Kino und Kundgebung. Es war die Überführung einer ganzen Revolutions- und Propagandaästhetik in die neutralisierenden Gefilde des Pop.




Denn wenn man alles, was da inhaltlich propagiert wurde, bereits hinter sich hat, kann man sich ja endlich mal die sogenannten künstlerischen Mittel zu Gemüte führen. Die zehntausend Leute, die in Dresden die Pet Shop Boys sehen wollten, bekamen von diesen jedenfalls in erster Linie eine rationalistische Rasterfassade gezeigt, welche nicht nur als Projektionsfläche diente, sondern auch als Bildschirm: Die einzelnen Wohnungen waren gewissermaßen Pixel und malten, je nach Lichtchoreographie, verschiedene Jahreszahlen an die Fassade. Was sich da als Vorfilm zu Eisenstein abspielte, war etwas, das man sonst bezeichnenderweise nur Sterbenden nachsagt: Auf der längsten Hauswand der DDR rasselten noch einmal alle Bilder ihrer eigenen Geschichte durch, von ’45 bis ’89, von den Trümmerfrauen bis zu jener Revolution, die eigentlich hier, genau hier auf der Prager Straße, erst so richtig losgetreten wurde, und zwar alles andere als friedlich. Danach dann Countdown runter bis ins Jahr 1905, zum ‘Panzerkreuzer’- Film und jenem Lenin-Zitat, wonach jede Revolution Krieg sei.




Man muß das exakt dort, auf der Prager Straße, gesehen haben, um zu begreifen, in welch hohem Maße diese Straße erstens das ist, was die französischen Historiker als vielschichtigen ‘Erinnerungsort’ in Ehren halten würden, weil nämlich, zweitens, Lenin leider mal wieder bis ins Städtebauliche hinein recht hatte. Wenn der Fortschritt, wie Benjamin meinte, ein Wind ist, der vom Paradies her weht, dann wäre es jedenfalls auch kein Wunder mehr, daß es hier immer zugiger zuging als sonstwo in der Stadt.




Die Prager Straße war vor dem Krieg Dresdens Ku’damm gewesen, nur viel gemütlicher natürlich – und nach dem Krieg viel kaputter. Zur Elbe hin, rund um den Altmarkt, hatten sie in den Fünfzigern ‘stalinistisch’ wiederaufgebaut, ähnlich wie in Leipzig am Ring oder in Ost-Berlin an der Stalinallee. Als ab 1963 eine neue Prager Straße projektiert wurde, sah die sozialistische Welt aber schon wieder ganz anders aus: Chruschtschow war an der Macht und betrieb die Entstalinisierung des Ostblocks nicht zuletzt mit den Mitteln der industriellen Architekturmoderne. Außerdem war die Mauer gebaut worden, was paradoxe Folgen hatte: Die DDR war zu, aber offener; die Leute waren eingesperrt, aber alles wurde freier; niemand kam mehr raus, aber immer mehr von draußen kam rein. Vorbilder für die Prager Straße waren die Lijnbaan in Rotterdam und die Treppenstraße in Kassel. Sie sollte zur Mutter aller Fußgängerzonen in Ostdeutschland werden, eine Straße, die nicht nur in die Zukunft führt, sondern gleich so aussieht, als sei sie schon dort.




Zwanzig Jahre nach Kriegsende dürfte soviel gebaute Zuversicht zumindest verlockend gewirkt haben, und natürlich gibt es aus dieser Zeit im Westen vieles, was ganz ähnlich ist, und das stürzte die Bauverantwortlichen in der DDR auch in ernsthafte Legitimationskrisen, denn wenn die beiden Systeme schon immer ähnlicher aussahen, dann waren die Gräben vielleicht gar nicht so tief, dann lief es vielleicht doch, wie in der gefürchteten Konvergenztheorie, auf eine Weltindustriegesellschaft hinaus, die auch ohne deutsche Kommunisten auskäme. Eine Horrorvorstellung; um so deutlicher mußten schon deshalb die spezifisch sozialistischen Qualitäten so einer Anlage herausgestellt werden, und die lagen am ehesten in der absoluten Verfügbarkeit eines gnaden- und restlos verstaatlichten Bodens. Das erlaubte den radikalen Bruch mit allem, was vorher war. Kein Architekt im Westen hat je mit derart freier Hand seine städtebauliche Traumfigur in ein Stadtzentrum malen können wie jener Peter Sniegon, der damals eine komplett neue Prager Straße komponierte. Die Architekturhistoriker sind sich inzwischen weitgehend einig, daß dies dann auch das konsequenteste, gelungenste und aussagekräftigste Ensemble des gesamten DDR-Städtebaus geworden ist. Daß sich die Widersprüche zwischen den gebauten Ansprüchen und den erlittenen Realitäten der DDR dann im Oktober 1989 auch gleich auf dieser Straße entluden, bestätigt das eigentlich nur.




Seltsam ist aber, daß erst die Pet Shop Boys kommen mußten, um einem die ganze subtile Musikalität dieser Anlage wieder vor Augen zu führen. Die Pet Shop Boys – und die brachialen Überbauungen seit der Wende. Über die Prager Straße hatte sich nach 1990 ein Haß ergossen, der einer eigenen Eisenstein-Verfilmung würdig gewesen wäre. Zunächst einmal sollte alles weg, und der Vorkriegszustand sollte wieder her. Dann wurde die Straße im Norden zumindest auf die Vorkriegsbreite von 18 Metern verschmälert. Gerhard Landgrafs spektakuläres Rundkino, das eigentlich als Scharnier für den leichten Knick zum Altmarkt hin dienen sollte, steht seit Mitte der Neunziger wie eine weggeräumte Mülltonne hinter einem Architekturparavent, der auf den grotesken Namen ‘Wöhrl Plaza’ hört. Es sind die gleichen lust- und einfallslos vorgehängten Sandsteinfassaden, die man auch aus Berlin kennt, nur noch lust- und einfallsloser.




Am Südende passierte das gleiche später in Stahl und Glas, die Lamellenfassade und das skulpturale Dach der ehemaligen Großgaststätte ‘Bastei’ verschwanden unter einer insgesamt erschreckend vorstädtischen Autohausarchitektur. Die Straße war damit zum Platz geworden, dieser Platz wurde aber wiederum so gestaltet, als müsse eine Schnellstraße daraus werden. Die Hochbeete und Springbrunnen, auf deren Rändern früher alle immer saßen, sind natürlich weg. Sogar von den enorm beliebten Springbrunnen-Pusteblumen der Bildhauerin Leonie Wirth ist nur ein empörend mickriger Rest stehengelassen worden. Die filigranen, laubenartigen Pergolas zwischen den flachen Pavillons am östlichen Rand der Straße: weg. Die überraschend lauschigen und tatsächlich an Klosterhöfe erinnernden ‘Touristengärten’ zwischen den Hotelriegeln am westlichen Rand: weg, bis auf einen letzten, der es aber nicht mehr lange machen soll. Der 240-Meter-Riegel ist ohnehin dauernd als Abrißkandidat im Gespräch. Und jetzt steht als nächstes das ehemalige Centrum-Warenhaus an. Die op-art-mäßig in der Sonne glänzenden Aluminiumwaben waren eine Entwicklung ungarischer Architekten und das künstlerisch vielleicht avancierteste Beispiel für diesen internationalen, im Westen als ‘Eiermann-Fassade’ bekannten Trend, Großkaufhäuser in eine Art futuristisches Geschenkpapier zu wickeln. Jetzt soll da ein neues Einkaufszentrum hingebaut werden. Und als das Rem-Koolhaas-Büro OMA bei dem entsprechenden Wettbewerb vorschlug, den Altbau schon der Waben wegen zu erhalten und den Neubau einfach obendrauf zu setzen, da benahmen sich die Investoren und Städtebauverantwortlichen wie wütende Rumpelstilzchen, stampften mit den Füßen und schrien: Neieiein, das alles muß weg, weg, weg! Und banaler Shopping-Center-Schrott muß her!




Ruinen der Revolution




Gegen das, was sich die angebliche Kunst- und Kulturstadt Dresden auf ihrer Prager Straße antut, ist die von der Unesco inkriminierte Waldschlößchenbrücke regelrecht harmlos. Auch der real existierende Sozialismus hat ein architekturgeschichtliches Erbe hinterlassen, und gegen dessen besinnungslosen Abriß zu protestieren hat weniger mit DDR-Nostalgie zu tun als mit schlichtem Qualitätsbewußtsein. Denn es gibt weniges, was die DDR und ihre Architektur eindrucksvoller rehabilitieren würde, als ausgerechnet das, was ihr an engstirnigen, restaurativen und zynischen Nachwende-Architekturen so alles entgegengesetzt wurde. Es ist ein für die Bundesrepublik insgesamt unwürdiger Zustand.




Wo wegen des aggressiven Desinteresses der Einheimischen so wenig zu retten ist wie in Dresden, muß man schon froh sein, wenn Architekten aus Holland oder Popgruppen aus England kommen, um die ruinösen Reste einer revolutionären Ästhetik zu bewundern. Denn daß das Ästhetische am Ende das einzige ist, wofür sich Revolutionen lohnen, das wissen nicht nur Rem Koolhaas und die Pet Shop Boys, das wußten schon die Kritiker, die Eisensteins ‘Panzerkreuzer Potemkin’ 1958 quer durch die Lager des Kalten Kriegs zum besten Film aller Zeiten erklärten. Aber das werden diejenigen, die heute über die Prager Straße bestimmen, in diesem Leben nicht mehr begreifen.

Taken from: Frankfurter Allgemeine am Sonntag
Interviewer: Peter Richter