Eisenstein wird sich im Grabe umdrehen

Die Meinungen sind geteilt zwischen Neil Tennant und Chris


Lowe: ‘Eisenstein wäre begeistert gewesen’, ruft Tennant gleich zweimal im


Gespräch aus. Lowe läßt ihn – wie meistens – gewähren, doch bei der Verabschiedung


lächelt er mir zu und macht eine seiner sardonischen Bemerkungen: ‘Eisenstein wird


sich im Grabe umdrehen.’




Aber das hat Tennant noch gehört – wie er alles hört, was sein Partner sagt (denn das ist, wie angedeutet, nicht eben viel) -, und er schiebt schnell

ein Eisenstein-Zitat nach: Der russische Regisseur habe erklärt, daß er sich für seinen berühmtesten Film, ‘Panzerkreuzer Potemkin’, alle zehn Jahre

eine neue Begleitmusik wünsche. Dann ist unser Gespräch wirklich zu Ende, und es darf darüber gegrübelt werden, ob Sergej Eisenstein unter Musik nicht

doch etwas anderes verstanden hat.




Meuterei auf dem Trafalgar Square




Etwas anderes jedenfalls als die Pet Shop Boys, jenes aus Neil Tennant und Chris Lowe bestehende Duo, das seit 1985 Dauerwohnrecht auf dem Pop-Olymp

genießt und im vergangenen Jahr ‘Panzerkreuzer Potemkin’ neu vertont hat. Das Interesse von Tennant an russischer Geschichte ist berüchtigt: Auf

Platten und in Videos der Pet Shop Boys finden sich zahlreiche entsprechende Verweise, und Lowe hat mit seinem Spott nie hinter dem Berg gehalten.

‘Doch diesmal hat mich Chris in das Projekt hineingeredet’, behauptet Tennant, und Lowe ergänzt: ‘Es war etwas, was wir noch nie gemacht hatten,

mit wirklichem historischem Hintergrund.’ Die kleine Spitze verzeiht Tennant gerne.



Auslöser für ihr Projekt war eine 2003 erfolgte Anfrage des Londoner Institute for Contemporary Arts, ob die Pet Shop Boys für die Veranstaltungsreihe

‘Summer in the Square’ den ‘Panzerkreuzer’ nicht neu vertonen wollten. Was das Duo zusätzlich inspirierte, war der Ort der geplanten Aufführung:

Trafalgar Square. ‘Dort haben seit dem neunzehnten Jahrhundert alle großen Protestveranstaltungen stattgefunden, und das hat eine inhaltliche

Klammer mit Eisensteins Film über die Meuterei auf dem zaristischen Panzerkreuzer geschaffen’, schwärmt Tennant. Außerdem habe es eine Melodie

gegeben, die Lowe schon vor der Anfrage komponiert hatte, die das Duo aber erst einmal beiseite legte. Als sie die ersten Bilder aus Eisensteins

Film sahen, wußten sie sofort, daß sie ein Leitmotiv bereits besaßen.




Weder Film noch Musik im Original erhalten




Die Popularität des 1925 gedrehten Stummfilms über die Meuterei von 1905 ist immer noch so groß, daß ständig neue Interpretationen gewagt werden.

Zumal es kein verbindliches Original gibt – weder bei der Musik noch beim Film selbst. Die einzige erhaltene Komposition aus der Entstehungszeit

stammt von Edmund Meisel, einem deutschen Tonsetzer, der für die deutsche Erstaufführung 1926 eine eigene Begleitmusik schrieb. Doch dann fing

bereits die Verstümmelung des Films an, begonnen mit den deutschen Zensurauflagen, deren verlangte Schnitte im Originalnegativ vorgenommen wurden,

weil man auch schon in der jungen Sowjetunion so erpicht auf Devisen war, daß man Eisensteins Werk gegen harte Rentenmark nach Deutschland verkaufte.

Als das Negativ nach dem Konkurs der deutschen Verleihfirma Anfang der dreißiger Jahre wieder zurück nach Moskau kam, waren etliche kurze Szenen

verloren, und der ganze Film, der sich ursprünglich im Aufbau streng an der Aristotelischen Dramentheorie orientiert hatte, war von fünf auf sechs

Akte ummontiert worden.



Immerhin hatte ihn erst diese veränderte deutsche Fassung international berühmt gemacht. In Berlin gingen mehr Ausländer ins Kino als in Moskau oder

Petrograd. Fortan stand Eisenstein, der 1898 geborene Jungstar des sowjetischen Kinos, auf Augenhöhe mit Charlie Chaplin, Mary Pickford oder Douglas

Fairbanks, die ihn denn auch alle begeistert empfingen, als er in den dreißiger Jahren den Klassenfeind in Hollywood besuchen sollte. Da war

‘Panzerkreuzer Potemkin’, den Eisenstein schon ‘meinen ersten Tonfilm’ genannt hatte, als es noch gar keinen Vertreter dieses Genres gab, längst

nochmals umgearbeitet worden: Für eine Tonspur, auf der fortan Musik und Geräusche untergebracht waren, hatte man das Bildformat beschneiden müssen

und die Laufgeschwindigkeit erhöht. Das in Moskau bis heute verwahrte Negativ ist deshalb ein Wrack, und die zahllosen Kopien auf der ganzen Welt

unterscheiden sich je nach Zeitpunkt ihrer Entstehung.




Russische Zwischentitel, englische Texteinschübe




Wenn ich geglaubt hatte, die Pet Shop Boys beim Gespräch filmhistorisch aufs Glatteis führen zu können, erwies sich das als Irrtum. Sie kennen die

Geschichte von ‘Panzerkreuzer Potemkin’ bis in deren feinste Verästelungen, wissen, daß das ursprüngliche Motto von Trotzki später durch eines von

Lenin ersetzt worden ist, und bedauern zutiefst, daß in ihrer Filmvorlage die eigens handkolorierte rote Flagge fehlt, die die meuternden Matrosen

am Ende des dritten Akts der Handlung am Mast der ‘Potemkin’ aufziehen. Nur woher genau ihre Vorlage stammt, das wissen sie nicht.



Die Fassung mit ihrer Musik, die an diesem Vormittag im Vorführraum der Plattenfirma Emi im Londoner Stadtteil South Kensington gezeigt wird,

enthält russische Zwischentitel und einige englische Texteinschübe. Es ist also keine Kopie der früh nach London gelangten sogenannten Montagu-Fassung,

die ein Freund Eisensteins noch vom Originalnegativ ziehen konnte, denn dann wären alle Zwischentitel auf englisch. Vermutlich geht sie zurück auf

eine Kopie, die sich im Bestand des Museum of Modern Art in New York befand, ehe auch sie nach England gelangte. Darin haben sich immerhin 133 der

ursprünglich 146 Zwischentitel erhalten. Doch das erklärt die englischen Passagen immer noch nicht.




Zu kurz für achtundsechzig Minuten Musik




Für die Pet Shop Boys war das zunächst egal. Sie wollten Musik machen, keine Filmrekonstruktion. Aber die Geschichte ihres Objekts holte sie an

unerwarteter Stelle ein: Die Vorlage, die sie benutzten, stammte von der in Großbritannien regulär vertriebenen DVD, die aber keinen Hinweis auf

ihren Ursprung enthält. Diese Fassung ist etwas mehr als achtundsechzig Minuten lang, und nach diesem Muster schrieben Tennant und Lowe ihre

Kompositionen. Als dann im vergangenen September der Aufführungstermin auf dem Trafalgar Square näher rückte, forderten sie in Moskau eine

projektionsfähige Filmkopie an. Die jedoch entsprach dem heutigen Zustand des Negativs: Etliche Szenen fehlten gegenüber der DVD-Fassung, die

Gesamtdauer war somit kürzer, und keine der minutiös auf die Dramaturgie des Films abgestimmten Melodien stimmte also mit dem Ablauf überein.

In ihrer Not entschieden sich die Pet Shop Boys, die DVD projizieren zu lassen, und da bis heute keine echte Filmkopie aufgetaucht ist, die ihr

exakt entspräche, wird das auch bei den vier Live-Aufführungen der Filmmusik der Fall sein, die für Anfang September in Deutschland angekündigt

sind.



Begleitet werden die Pet Shop Boys dabei von den Dresdner Sinfonikern, einem vor neun Jahren gegründeten Spezialensemble für Neue Musik. Recht

schnell hatten sich Tennant und Lowe von dem Gedanken verabschiedet, den Film allein mit elektronischer Musik zu begleiten. Über den Liederzyklus

‘Mein Herz brennt’, eine Adaption von Rocksongs der Gruppe ‘Rammstein’, lernten sie den 1965 geborenen Komponisten Torsten Rasch kennen. ‘Die

ersten Versuche waren heikel. Wir waren nahe daran, wieder auszusteigen, denn Torsten Rasch wollte die Musik zu avanciert umsetzen. Er hat dann

nachgegeben’, erinnert sich Tennant. ‘Die Dresdner Sinfoniker kannten wir von der CD mit ,Mein Herz brennt’. Ich habe dann einfach eine E-Mail an

die dort angegebene Kontaktadresse geschickt, und einen Tag später hatte ich den Kontakt zum Manager des Orchesters, der mir glaubhaft versicherte,

eben noch eine Platte der Pet Shop Boys beim Autofahren gehört zu haben.




‘Ich wollte es tragisch, als Protest gegen die Gewalt”




Die Orchestrierung wurde in Berlin gemeinsam erprobt und erst kurz vor dem Trafalgar-Square-Konzert endgültig fertiggestellt. Rasch hat vor allem

Streicherpartien geschrieben und damit selbst einem Titel wie ‘Njet!’, der die Kämpfe auf der ‘Potemkin’ mit einem harten, clubtauglichen Rhythmus

unterlegt, noch eigenwillige Akzente verliehen. Dagegen hat Tennant für die berühmteste Szene des Films, das Massaker auf der Hafentreppe von Odessa,

ein elegisches Motiv komponiert, das mit der Textzeile ‘Heaven is possible after all’ statt Dramatik ein utopisches Moment schafft, ehe die Kosaken

endgültig die Passanten unter Feuer nehmen: ‘Ich wollte es tragisch, als Protest gegen die Gewalt. Das war die ausschlaggebende Parallele zu Trafalgar

Square als Ort der Bürgerproteste gegen den Vietnam- oder den Irak-Krieg. Auf den Stationen unserer bevorstehenden Konzerte werden wir auf diesen

Bezug verzichten müssen.’



Allerdings besteht noch eine Einladung an die Pet Shop Boys aus Rußland. Zwar sollen sie nicht in Odessa spielen, aber in Kiew und in Sankt Petersburg

auf jenem Platz, wo die Revolution von 1905 blutig niedergeschlagen wurde. ‘Als wir im Rahmen von Bob Geldofs ,Live 8’-Konzerten kürzlich in Moskau

aufgetreten sind, haben wir noch einmal verhandelt, aber es fehlt das Geld. Schade, denn im Jubiläumsjahr hätte das perfekt gepaßt. Wären die

Aufständischen 1905 erfolgreich gewesen, hätte das zwanzigste Jahrhundert anders ausgesehen.’




Als hätte Eisenstein es geahnt




Da ist er wieder, der Hobbyhistoriker Tennant. Lowe lächelt und blickt aus dem Fenster. Jetzt wird aus dem Briefwechsel zwischen Eisenstein und Meisel

zitiert (‘Eisenstein wünschte sich für die Konfrontation der ,Potemkin’ mit der russischen Flotte Musik wie Pistolenschüsse. Wir haben dazu einen

maschinenartig stampfenden Rhythmus geschrieben, der sich immer mehr beschleunigt’), dann eine Theorie über die Verwandtschaft der unter Sozialisten

gängigen Bezeichnung ‘Genosse’ und der theologischen Bedeutung von ‘Bruder’ entwickelt (Tennant wuchs katholisch auf).



Wer jemals Eisensteins autobiographisches Riesenfragment ‘Yo – Ich selbst’ gelesen hat, kennt diesen Assoziationsreichtum. In den Pet Shop Boys hat

der Regisseur Erben gefunden, die sich seiner würdig erweisen. Nach fast sechzig Jahren Grabesstille und der Verklärung zum Klassiker ist ihm die

Störung der Totenruhe zu wünschen. ‘Rhythmus, Rhythmus und vor allem reiner Rhythmus’ – das hatte Eisenstein 1926 bei einem Treffen mit Meisel

verlangt. Es ist, als hätte er die Musik der Pet Shop Boys vorausgeahnt.

Taken from: Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Interviewer: Andreas Platthaus