Die Revolution begiesst ihre Kinder

Die Pet Shop Boys und ‘Panzerkreuzer Potemkin’ in London.




Es ist nicht anzunehmen, dass die Götter den Pet Shop Boys günstig gesinnt sind. Vielleicht war es der Frevel der Popmusik, vielleicht

der revolutionäre Gehalt des Films, vielleicht der Ort, an dem sich mehrmals im Jahr Protest äussert: Es regnete, es nieselte, der Wind

blies die Blätter von den Bäumen – ganz klar, der Herbst war da. Trotzdem waren am Sonntagabend rund 15 000 Menschen zum Trafalgar Square

in London gekommen, um ‘Panzerkreuzer Potemkin’ zu sehen. Sergei Eisensteins Stummfilm aus dem Jahre 1925 zieht, wenn er in den Studiokinos

der Stadt gezeigt wird, normalerweise nur gerade die unerbittlichen Fans an, doch diesmal kamen die Massen. Die britische Popband führte

ihre neue Komposition zu dem Film auf, zusammen mit den Dresdner Sinfonikern. Und alle harrten aus, bis die Kameradschaft siegen, die

Revolution beginnen würde – und der letzte Song Neil Tennants verklungen war.




Kulturgenuss für Wetterfeste




Es ist ein eigenes Vergnügen: Kulturgenuss in freier Natur, wenn’s Katzen hagelt oder sonstwie giesst. Südländischere Europäer mögen

ob solchen Aussichten staunend den Kopf schütteln. In London aber schüttelt man sich einfach den Regen aus dem Haar und harrt fröhlich

des Dargebotenen, ist ja schliesslich gratis. Welchen Wetterlaunen die Stadt auch ausgesetzt sein mag, Kultur findet statt, im Freien

und von Tausenden konsumiert. Das Royal Opera House überträgt seine Produktionen auf riesige Leinwände auf der Piazza im Covent Garden,

auf dem Trafalgar Square, im Victoria Park und bis nach Belfast. Im Hyde Park geben sich die aus der ausverkauften Royal Albert Hall

Ausgeschlossenen als ‘Last Night of the Proms’-Konzertgänger aus, während in andern Parks das ‘echte Ding’ live zu sehen ist: Opern,

Theater, Feuerwerk-Tanz . . . Ist der Himmel klar, wird’s ein Fest, weint er, ebenfalls. Man schlüpft in die von den Sponsoren gestifteten

Plastic-Hüllen, trinkt ein bisschen Wein und öffnet den Schirm, was zwar die Sicht erheblich verändert, aber Schirmtheater ist auch schön.


So auch auf dem Trafalgar Square, auf dem der Bürgermeister Ken Livingstone diesen Sommer wieder über 20 Veranstaltungen steigen liess.

‘La Bohème’ fiel im Juli zwar wegen Sturms buchstäblich ins Wasser, das meiste aber ging glatt über die Bühne, wenn auch nicht immer trocken.

Das gilt auch für den Hype-Event des Trafalgar- Sommers, die Pet Shop Boys mit ihrer neuen Komposition zu Eisensteins ‘Panzerkreuzer Potemkin’.

Der Regen schien kaum zu stören, er passte ja auch irgendwie zum Schwarzweiss des Films, passte zum Matrosenaufstand, zum blutigen Niederschlag

auf der Treppe in Odessa, zu den Ereignissen, die zum Signal für die Revolution von 1905 wurden, aber auch zum Ort der Präsentation, dem

Trafalgar Square, der seit seiner Eröffnung über 1300 Protestveranstaltungen erlebt hat. In einem Prolog wurden die Protestmärsche aufgezählt,

die hier Halt machten, darunter im letzten Jahr immer wieder ‘Stop the War’, Proteste gegen den Irak-Krieg.




Die dritte offizielle Vertonung




‘How come we went to war’, sang denn auch Neil Tennant, während auf der Leinwand die Menschen fielen. Das ist deutlich, wie auch die Musik

deutlich dem Film folgt, nicht im narrativen Sinn, wohl aber rhythmisch. Kein Heulen und Zähneklappern, sondern Dance-Beats, die die Bewegungen

der Bilder aufnehmen, nicht aber die Untertitel. Diese konnte man ohnehin nicht sehen: zu viele Regenschirme und ein George IV., hoch zu Ross

und mitten im Bild. Und man versteht plötzlich, warum Ken Livingstone die Säulenheiligen auf dem Trafalgar Square durch wichtige Figuren des

21. Jahrhunderts ersetzen möchte, jetzt, da der alte Panzerkreuzer Musik aus dem 21. Jahrhundert bekommen hat.


Jede Generation soll ihre eigene Musik zu ‘Panzerkreuzer Potemkin’ komponieren, soll Sergei Eisenstein einmal gewünscht haben. Die Komposition

von Neil Tennant und Chris Lowe war vom Institute for Contemporary Arts (ICA) in Auftrag gegeben worden, und sie ist nach jenen von Edmund

Meisel und Dmitri Schostakowitsch die dritte offizielle Vertonung des Films.

Taken from: Neue Züricher Zeitung
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