Die Pet Shop Boys vertonen ein Märchen von Andersen

Die Pet Shop Boys komponieren erstmals Musik zu einem Ballett.

Neil Tennant spricht über Kindheitsängste und die erregende Körperlichkeit der Tänzer.




Ein winziger Besprechungsraum im vierten Stock des EMI-Gebäudes in London Kensington: Neil Tennant, die eine Hälfte des Elektropop-Duos Pet Shop Boys, sitzt leger in Jeans, Turnschuhen und Pullover auf einem Sofa und trinkt schwarzen Kaffee. Gemeinsam mit seinem Kollegen Chris Lowe hat Tennant die Ballettmusik zu Hans Christian Andersens Märchen „Das Unglaublichste“ („The Most Incredible Thing“) fertiggestellt – eine Doppel-CD, bei der die weltweit erfolgreiche Band sich plötzlich der Herausforderung eines Bühnenstückes stellen musste.


Welt Online: Mr. Tennant, am kommenden Donnerstag wird in London die Premiere des Balletts „The Most Incredible Thing“ aufgeführt werden. Waren Sie bei den Proben?


Neil Tennant: Ehrlich gesagt, waren wir die letzten vier Wochen in Berlin und haben Songs für das nächste Pet-Shop-Boys-Album aufgenommen. Wir dachten: Wir haben unsere Pflicht getan, wir lassen uns überraschen, wie man das Stück bei Sadler’s Wells schlussendlich auf die Bühne bringen wird.


Welt Online: Das Plakat zeigt den Scherenschnitt einer Tänzerin mit einem gebrochenen Arm.


Tennant: In dem Märchen „Das Unglaublichste“ von Hans Christian Andersen geht es darum, dass derjenige die Tochter des Königs heiraten darf, der an einem bestimmten Tag „das Unglaublichste“ vollbringt. Einer baut eine unglaubliche Maschine, eine Weltmaschine, die war wie eine riesige Uhr – klug, verspielt, poetisch. Die unglaublichste Sache, die man bis dahin gesehen hatte, und die Prinzessin verliebt sich in den Erfinder. Ein anderer zertrümmert die Maschine – noch unglaublicher, etwas so Wundervolles zu zerstören. Als die Hochzeit der Prinzessin mit dem Zerstörer ansteht, erwachen die Trümmer der Maschine zum Leben und töten den Zerstörer – das ist noch unglaublicher als der Akt der Zerstörung. Die Prinzessin darf den Erfinder heiraten. Der Scherenschnitt stammt von Andersen selbst. Die Tänzerin mit dem kaputten Arm ist natürlich ein Teil der zertrümmerten Maschine.


Welt Online: Sie kannten das Märchen noch aus Ihrer Kindheit?


Tennant: Ja. Meine Eltern besaßen ein Exemplar der klassischen Ausgabe vom Penguin Verlag, in der all die Andersen-Scherenschnitte als Illustrationen verwendet worden waren. Klassisch deshalb, weil es sich bei dem Buch um die erste Direktübersetzung ins Englische aus dem Dänischen handelte und nicht, wie seinerzeit üblich, um eine Übersetzung der deutschen Übersetzung. Der Unterschied liegt, wie so oft, in der Grausamkeit. Andersens Märchen sind nur allzu oft grausame Märchen. Ich surfte also im Internet, um meinem Grafiker ein paar dieser Scherenschnitte zukommen zu lassen – und gleich der erste, den ich fand, war die Tänzerin. In seiner Klarheit und Aussage ist es ein perfektes Bild.


Welt Online: Die meisten erinnern Andersens Märchen als weit gruseligere Kindheitserfahrungen als etwa die Märchen der Gebrüder Grimm.


Tennant: Ich glaube ja, dass Kinder mit gruseligen und angsteinflößenden Geschichten in der Regel ganz gut umgehen können. Sie nehmen vor allem die Kraft der Narration wahr. Hans Christian Andersen war ein ausgesprochen fantasievoller Autor. Er erfand einen neuen Typus von Handlungsträger in der Literatur: das animierte, beseelte Objekt. Die Geschichte eines Stuhls, der zum handelnden Charakter einer Geschichte wird – das ist Hans Christian Andersen. Es ist normal, wenn der Stuhl mit dem Sofa spricht.


Welt Online: Heute gilt dies ohnehin als normal.


Tennant: Genau. In der „Muppet Show“ wurde es aufgegriffen und überhaupt in der gesamten Welt der Animation. Ich glaube, dass bei einem Kind die Faszination für das beseelte Mobiliar die Momente der Grausamkeit bei weitem übertrifft.


Welt Online: Sie haben sich als Kind nie gegruselt?


Tennant: Doch, aber selten. Wenn ein Kind sich in einem Märchen in einer feindseligen Umgebung verirrt hatte, spürte ich Gefühle der Trostlosigkeit. Das alleingelassene Kind hat mich stets stark beeindruckt.


Welt Online: Wie kamen Sie zu der Ehre, ein Ballett komponieren zu dürfen?


Tennant: Durch eine Fügung des Schicksals. Ivan Petrov, damals erster Tänzer beim Royal Ballett, sprach mich vor etwa vier Jahren darauf an, ob die Pet Shop Boys nicht die Musik für ein kurzes Petrov-Solostück von zwanzig Minuten Länge komponieren könnten? Wir kannten ihn über die Fotografin und Konzeptkünstlerin Sam Taylor-Wood. Seitdem haben wir ihn oft tanzen sehen. Nur wenige Tage, nachdem Petrov mich angesprochen hatte, erwähnte mein musikalischer Partner Chris Lowe bei einem Mittagessen, dass er Lust habe, Musik für Andersens „Das Unglaublichste“ zu komponieren, das er gerade gelesen hatte. Über Petrov bekamen wir den Kontakt zu Sadler’s Wells – und seitdem arbeiten wir an der Musik.


Welt Online: Ist es normal, sich als Tänzer Solostücke komponieren zu lassen?


Tennant: Es gibt diese Tradition der Einakter. Immer wieder gibt es an Theatern Ballettabende, an denen drei Solostücke hintereinander gezeigt werden, die thematisch nichts miteinander zu tun haben, aber in der Folge mehrere Tänzer zum Zuge kommen lassen. Ich stehe gerne am Rand der Bühne und schaue mir an, wie die Tänzer den Applaus entgegennehmen, sich vor ihrem Publikum verbeugen… Ich habe es anschließend stets als sehr faszinierend empfunden, mich nach einer Ballettaufführung in die Künstlergarderoben zu begeben. Es riecht dann nach Tanz, und ich kann die Schweißperlen auf den Stirnen der Tänzer sehen. Das Physische des Balletts ist ohne Zweifel erregend.


Welt Online: Eine fremde Welt?


Tennant: Diese Menschen essen tagsüber nicht. Alle Balletttänzer trinken Kaffee und rauchen Zigaretten. Erst nach der Aufführung gönnen sie sich etwas Essen – rohes Fleisch, Steak Tartar… Das macht diese Menschen so dünn, muskulös und sehnig. Interessanterweise hassen alle Tänzer, die ich kenne, Darren Aronofskys Ballettfilm „Black Swan“.


Welt Online: Und Sie?


Tennant: Ich mochte das Blut in den Ballettschuhen der Tänzerinnen.


Welt Online: Wie hat man sich Kompositionsarbeit fürs Tanztheater vorzustellen?


Tennant: Wir bekamen zunächst eine musikalische Landkarte vom Regisseur, der Musik, Bühne und Choreographie koordinierte. Somit war festgelegt, wie viel Musik für wie viele Szenen wir zu produzieren hatten. Musik für ein Ballett zu schreiben, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Arbeit an einem Film. Wir haben 2004 die Musik zu Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ geschrieben. Es gab viele Parallelen.


Welt Online: Inwiefern war es für Sie als Musiker reizvoll, das Ticken der Uhr, die der Erfinder gebaut hat, in die Komposition einzuarbeiten?


Tennant: Es gibt in dem Ballett ein 26-minütiges Stück, welches das Schlagen der Uhrzeiten von eins bis zwölf inkorporiert. So ein langes Stück haben wir noch nie geschrieben. Und nicht nur das: Fast das ganze Stück hindurch hören wir die Uhr ticken, und zwar im selben Rhythmus, wie ein Metronom. Ich war so von Glück erfüllt, als wir dieses Stück schließlich im Kasten hatten.


Welt Online: Auf eine Art handelt es sich um Musik, die sehr weit entfernt ist von all den cleveren Drei-Minuten-Wundern, für welche die Pet Shop Boys seit 30 Jahren berühmt sind.


Tennant: Als ich noch ein Teenager war, habe ich Progressive Rock mit all seiner Zurschaustellung von Könnerschaft und Virtuosität gehasst. Wenn ich nur den Namen Rick Wakemen höre, schüttelt es mich. Und obwohl das so ist, könnte man vermutlich nur schwerlich widersprechen, wenn einer behauptete, „The Most Incredible Thing“ sei unser Genesis-Album…


Welt Online: Interessant. Dabei liegt das Neuland, das Sie betreten, doch eher in der Kombination klassischer und technoider Elemente. Wenn Sie in einem Stück von 26 Minuten Orchestermusik und die Funktionalität von Clubmusik aufeinanderprallen lassen.


Tennant: Ein gefährliches Terrain, aber ein überaus Interessantes. In einem langen Stück das Tempo zu halten, bedeutet, dass man Elemente finden und kombinieren muss, die dramaturgisch funktionieren. Auf eine Art funktioniert dieses Monster von einem Stück wie ein langer DJ-Mix.


Welt Online: Wie gingen Sie mit dem Umstand um, dass „Das Unglaublichste“ als Chiffre für den dänischen Widerstand gegen die Besatzung des Landes durch die Nazis benutzt wurde?


Tennant: Andersens Märchen ist eine Parabel auf den Faschismus, gar keine Frage. Und wie jede gute Parabel lässt sie sich in einem Satz zusammenfassen: Man kann etwas Physisches zerstören, aber man kann den Menschen nicht die Idee der Freiheit austreiben. Wussten Sie, dass „Das Unglaublichste“ eines der letzten zwei oder drei Märchen war, bevor Andersen starb? Das Märchen ist in gewisser Hinsicht sein ganz persönliches Testament.


Welt Online: Was heißt „ganz persönlich“?


Tennant: Die Pointe des Märchens, nachdem die Prinzessin den Erfinder geheiratet hat, lautet: „Nicht ein Neider war da – ja, das war das Unglaublichste!“ Dieses heitere Ende hat einen bitteren Nachgeschmack. Denn was Andersen, dieser schwule Mann und zugleich neben Charles Dickens Europas berühmtester Autor, in Kopenhagen tagtäglich erlebte, waren Neid und Missgunst. Es heißt, er habe nie die Liebe seines Lebens gefunden, von einem erfüllten Sexualleben ganz zu schweigen. Er war das hässliche Entlein – was ja ebenfalls ein Märchen von ihm ist. Er war eine tragische Figur und lebte die Tragik in seinen Märchen aus.


Welt Online: Und was ist mit dem politischen Aspekt? Die Pet Shop Boys haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets das Politische ausgeklammert.


Tennant: Wir wurden damals stark kritisiert dafür, dass wir „Panzerkreuzer Potemkin“ als idealistischen Film begriffen haben – und nicht als kommunistisches Manifest. Doch trat Eisenstein meines Erachtens in erster Linie ein für universale Ideale – und erst in zweiter für eine konkrete politische Agenda. Ich sage: Kunst, die es schafft, Chiffre zu sein, ist vielleicht die höchste Kunstform, die es gibt.

Taken from: Welt Online
Interviewer: Max Dax