Die Gitarre und das Mehr

Auch auf dem neuen Album ‘Release’ bleibt Pet-Shop-Boys-Pop der Pet-Shop-Boys-Pop.




Neil Tennant würde nie eine Gitarre auf der Bühne zertrümmern. ‘Ich bin nicht destruktiv’,

sagt er und blickt sanft auf einen weit entfernten Punkt, als würde er in den Garten seines

Landhauses im Norden Englands schauen, auf die Blumen und Hecken, und noch viel weiter, an einen

fernen Ort. Nein, soweit würde er nicht gehen. Die Gitarre sei ein gutes Instrument, sagt dann

Chris Lowe trocken, unter seiner Schirmmütze hervor, die perfekt rechtwinklig auf seinem Kopf sitzt,

und er sagt das, als würde er von der Nützlichkeit einer Gartenschere sprechen.



In den ersten Jahren ihrer Karriere hatten sich die Pet Shop Boys geweigert überhaupt aufzutreten.

Danach stand Neil Tennant, bis heute, fast bewegungslos auf der Bühne, während Chris Lowe sich hinter

seinem Synthesizer verschanzte. ‘Jetzt hast du endlich etwas zu tun auf der Bühne, mit der Gitarre

in der Hand’, sagt er.


Neil Tenannt liegt auf der Couch in der Suite eines Kölner Hotels, wie Dandies das tun, zufällig und zugleich

geschmeidig hingeworfen wie ein Kaschmirschal, kurz nach jenem Konzert, das ein neues Album und eine neue Ära

vorab inszenierte: Denn Neil Tennant kam zum Erstaunen des Publikums mit einer Gitarre auf die Bühne. Eine

verwirrende Aussage für die Pet Shop Boys, die seit den frühen achtziger Jahren als die vehementesten Vertreter

der reinen elektronischen Musik, des perfekt designten Pop gelten und alle Insignien der Rockmusik verachteten.

Vor allem Gitarren, noch schlimmer, E-Gitarren. Und deren Minimalismus immer auch eines bedeutete: Der Synthesizer

ist die Universalmaschine der Popmusik.



Sie erzählen von ihrem neuen Album ‘Release’, das sie in Neil Tennants Landhaus aufgenommen haben – ‘herrlich: der

Wind, die Wiesen und die Schafe’. Dort, sagen sie, hätten sie sich der Rockmusik angenähert, vorsichtig, wie

traditionelle Teetrinker einer Tasse Kaffee. ‘Wir haben uns entschieden, auf die andere Seite einer selbstgebauten

Abgrenzung zu gehen.’ Neil Tennant meint einen Ort, den sie sonst gemieden haben wie der Stadtmensch den Misthaufen.

‘Es gab eine Zeit, da haßten wir Rockmusik. Rock war der Feind. Im Jahr 2002 ist Rock kein Feind mehr. Der Feind

heute heißt Trash-Low-Budget-Pop.’ Jene Musik, die scheinbar Pop sein wolle und dabei nur eine schlechte Karaokefassung

seiner selbst abgebe.


Wie Madonna gehören die Pet Shop Boys zu den Überlebenden einer Zeit, in der noch nicht alles und ganz selbstverständlich

Pop war. Und sie haben sich ähnlich oft wie Madonna neu erfunden. Er bewundere sie für ihre Energie, sich immer wieder

zu verändern, sagt Chris Lowe. ‘Ich mag ihre Tanzstücke’, sagt Neil Tennant. Aber wenn Sie intellektuell werden wolle,

dann gehe das doch meist schief, ‘sie schreibt doch eher die Sätze eines Schulmädchens.’ Das klingt nicht hochnäsig,

eher liebevoll.



Wie ältere Herren gerne über Abenteuer reden, die sie nie erlebt haben, so sprechen die Pet Shop Boys über

Gitarrenmusik. Und das Wort Rockmusik bedeutet hier, in diesem in sich abgeschlossenen Synthesizer-Universum,

etwas anderes. Wenn die Pet Shop Boys nun mit Gitarrenmusik postmodern herumspielen, dann kommt eben trotzdem

Pet-Shop-Boys-Pop heraus. Oder anders gesagt: Als Zitat verstärkt die Gitarre nur den Kontext. Im Gegensatz zum

Effekt der Rückkoppelung wird nicht das Instrument selbst, sondern die Umgebung zum Schwingen gebracht: Die Anleihe

aus der Rockmusik potenziert die Popattitüde. Kein anderer hätte dies besser umsetzen können als Johnny Marr, der

ehemalige Gitarrist von The Smiths, der selbst schon zum Zitat einer Melancholie der achtziger Jahre geworden ist.

Er spielt auf dem neuen Album, das in Deutschland im April erscheinen soll, die Gitarrensoli.


Die Achtziger, das war die Zeit als die Karriere der Pet Shop Boys mit dem Song ‘West End Girls’ begann. Seitdem

haben sie 28 Millionen Schallplatten verkauft und über zwanzig Chart-Hits produziert. Die Musik der Pet Shop Boys

hat eine Generation während der Jugend, beim Erwachsenwerden begleitet, einer Filmmusik ähnlich, vorausgesetzt man

war der Ansicht, dass es der passende Soundtrack zum eigenen Leben war. Die vergangenen 15 Jahre waren die Pet Shop

Boys wie eine Konstante, klangen immer ähnlich und fielen doch nie aus der Zeit, ihre Lieder glichen sich der

Gegenwart an und formten diese wiederum in Text, Musik und Design mit. Manche nannten das aber auch langweiligen

und weinerlichen Popkitsch.



‘Die achtziger Jahre waren ein kurzes Jahrzehnt’, sagt Neil Tennant, als würde er in Gedanken seine persönliche

Zeitrechnung der Popgeschichte durchblättern. Im Grunde hätten sie nur bis 1986 gedauert. Die Pet Shop Boys trugen

weiße T-Shirts, damals, schwarze Krawatten, Gel im Haar, sie ertablierten homoerotische Housemusik – und sangen

‘Let’s make lots of money’. Damit brachten sie ein hedonistisches Zeitalter in eine Textzeile. Ein paar Jahre und

einige Metamorphosen später, zum neuen Jahrzehnt, versprachen sie in dem Lied ‘Being boring’ nie langweilig zu

werden. Anfang der neunziger Jahre prägten sie den Begriff ‘DJ Culture’ für die kommenden Jahre, ‘der Tanzmusik,

Raves und Soundschleifen’, wie Chris Lowe sagt. Dann kam eine orangefarbene CD in die Plattenläden, die Pet Shop

Boys setzten sich runde Plastikhüte auf und stiegen in einem bunten Video in den Himmel des Pop. 1999 erschien

ihr siebtes Album ‘Nightlife’, sie trugen verfilzte Frisuren, kreideweiße Gesichter und bizarre Kittel, was sie

so aussehen ließ als wären sie einer Anstalt entlaufen, zu einer Halloween-Party eingeladen oder hätten zu viel

Techno gehört. Irgendwie paßte diese Inszenierung in eine Endzeitstimmung des Milleniums.


‘Das Jahr 2002 wird immer noch von der Neunzigern bestimmt, diesem Jahrzehnt, das nicht zu Ende gehen will’, sagt

Chris Lowe. Deshalb hätte man von ihnen elektronische Musik erwartet. ‘Doch wir wollen uns jetzt als Musiker

inszenieren’, sagt Neil Tennant – was wie ein Witz oder Ironie klingen könnte, nach dieser jahrelangen Pop-Performance.

Doch er meint es ernst.



Als Kind habe er immer davon geträumt, ein Popstar zu werden, erzählt Neil Tennant. Auf keinen Fall wie Elvis; diese

Art von haarigem, amerikanischen Männeridolen schreckte ihn mindestens so ab wie Mädchen, die sich in knappen T-Shirts

den Beatles an den Hals werfen wollten. ‘Ich wollte Gitarre spielen, brachte es mir selbst bei, was so schwer war wie

ein fremde Sprache zu lernen.’ Und aus dem Beruf Popstar sollte erstmal nichts werden, bis er, der spätere Musikjournalist

den Architekten Chris Lowe traf.


Als Tennant noch ganz klein war, da waren die Beatles schon überall, auch in Newcastle, wo er in einer Doppelhaushälfte

aufwuchs. Sein Vater fuhr ihn zu der Stadthalle, damals, damit er sich die Menge anschauen konnte, die draußen campte,

um Tickets zu bekommen. Im Fernsehen sah er die schreienden Teenies, die lauter waren als die Musik. Seine erste Platte,

die er sich selbst kaufte, 1968, war das ‘Weiße Album’ der Beatles. ‘Aber ich hab mir die Beatles nie live angeschaut’,

sagt er gedehnt wie Kaugummi, als hätte er der Band auch nie viel abgewinnen können. ‘Ich hab dich aber schon mal ,A hard

days night’ singen hören’, unterbricht ihn Chris Lowe.



Das Schönste an den Beatles wäre gewesen, und die Erinnerung läßt Tennants Gesicht leuchten wie das eines kleinen

Jungen, der von einem geheimen Versteck zurückkehrt, wenn sie aus dem alten Radio im Wohnzimmer der Eltern erklangen,

der in ein furniertes Möbel eingebaut war. Dieser Musikschrank stand auf vier Beinen, und er konnte darunter kriechen.

Als Kind lag er da gern und lange, ‘denn es klang so, als wäre man ganz von der Musik umgeben’. Als wäre es ein Haus.

Musik ist wie eine Heimat, sagt er. Und in seiner Stimme, die sonst etwas versnobt klingt, liegt jetzt diese Sehnsucht,

die ihn vielleicht immer wieder dazu bringt, Lieder zu singen, die das Herz öffnen.


‘Home and Dry’ heißt die neue Single der Pet Shop Boys, denn sie erzählt von dem Gefühl, auf den Geliebten zu warten,

nicht zur Ruhe zu kommen, bis er irgendwann nach all diesen dunklen und verrückten Meilen über dem Transatlantik nach

Hause kommt. ‘Ich hasse fliegen’, sagt Chris Lowe leise: in dieser Blechbüchse mitten im Himmel zu hängen. Er sitzt

jetzt tief und fest in einem Polstermöbel und erzählt lieber von Neil Tennants Zuhause, denn die Lebenswelt, die einen

umgibt, sei auch entscheidend für die Musik. ‘Neils Haus ist eher wie aus demInterior-Magazine als Wallpaper’. – ‘Aber

du hast gesagt, dass mein Eßzimmer wie aus Wallpaper ausgeschnitten aussieht.’ – ‘Aber jetzt hast du diese italienische

Möbel, diesen Retro-Style.’



Über das Wohnen könnten die Pet Shop Boys stundenlang wie ein altes Ehepaar reden. Chris Lowes Wohnung sei ‘ultramodern,

aber nicht High-Tech’. Ein riesiger Raum, über dem Bett öffne sich das Dach wie in einem Raumschiff. ‘Ich kann dort

liegen und habe alle Fenster im Blick. Das klingt vielleicht ein wenig paranoid, aber so fühle ich mich sicher.’ Chris

Lowe lacht verlegen. Das Problem an dem ganzen Minimalismus sei aber, dass man ständig aufräumen müsse. Eigentlich träume

er von einer Wohnung in einem verfallenen viktorianischen Haus, mit dicken Teppichen, vollkommen zugestellt. Bloß kein

Design.


Das ist das neue Programm der Pet Shop Boys: kein Design. Sie wollten nur noch sich selbst präsentieren, sagen sie,

nicht mehr. Keine Verkleidung mehr, keine aufwendige Performance, keine Filme von Derek Jarman oder Kulissen von Zaha

Hadid, die früher die Bühnenshow ergänzten. Wenn sie jetzt in ihrer Alltagskleidung auftreten, dann ist das aber in

einer Umkehrung auch schon wieder Design. Und vielleicht sind sie damit wieder einmal auf der Höhe der Zeit. Das Video

zu der Single ‘Home and Dry’, die bereits im Radio läuft und auf der Internetseite der Pet Shop Boys zu hören und sehen

ist, filmte jedenfalls der deutsche Fotograf und Turner-Prize-Träger Wolfgang Tillmans. Im Wesentlichen sieht man nur

drei Mäuse, die auf den Gleisen der Londoner U-Bahn an einem alten Brot knabbern. Dazu erklingt Neil Tennants Stimme,

schwebend wie eine Wolke.



Vielleicht kann man als Popstar nur in der Unschärfe überleben. Also in einem Bereich zwischen dem, was Konsens ist

und sich zugleich dem Konsens verweigert. In einer unbeständigen Zone dessen, was die Gegenwart ausmacht und die

Zukunft sein könnte. Wenn man zu ‘hip’ sei, fällt man irgendwann aus der Zeit, sagt Neil Tennant, wenn man nicht

gegenwärtig ist, wird man vielleicht nur durch Zufall irgendwann wiederentdeckt. Schönes Schlußwort, er zieht einen

langen Trenchcoat an, will mit dem Nachtzug nach Paris weiter, und während er das Hotelzimmer verläßt, singt er etwas,

das ein bißchen nach Abba klingt. Im Aufzug erzählt er, wie gerne er den Maler Caspar David Friedrich mag. Und Chris

Lowe sagt: ‘Liebeslieder wird es immer geben.’ Dann verschwinden die Pet Shop Boys. Es bleibt ein Bild, das wie in

einem wackligen Fernseher zwischen zwei Kanälen hin- und herspringt, zwischen großer Klarheit und einem verschwommenen

Traum.

Taken from: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Interviewer: Sabine Magerl